Neue Gesellschaft und neuer Mensch

Vor 100 Jahren wurde Erich Fromm geboren

* Dr. Edgar Göll, Sozialwissenschaftler und Zukunftsforscher, Berlin

Vor 20 Jahren bekannte Erich Fromm in einem Interview: "Ich bin ein demokratischer Sozialist, aber diese Antwort ist heute so vieldeutig, dass sie kaum genügt, um einen Standpunkt zu kennzeichnen. Meine politische Orientierung ist ein sozialistischer Humanismus; mir geht es um eine Gesellschaft, in der die optimale Entwicklung des einzelnen und seiner Freiheit das Ziel der gesellschaftlichen Organisation ist." Vor 100 Jahren wurde der Soziologe und Psychoanalytiker in Frankfurt/Main als Kind jüdischer Eltern geboren, war bekannter Vertreter der Kritischen Theorie, emigrierte 1933 in die USA und zog 1959 nach Mexiko und lebte von 1974 bis zu seinem Tod 1980 in der Schweiz.

Sozialistischer Humanismus

Marx war eine der wichtigsten Quellen seiner Einsicht und Inspiration: "Mich lockte vor allem die Philosophie von Marx und seine Vision des Sozialismus, die in säkularer Form die Idee von der Selbstwerdung des Menschen ausdrückt, von seiner vollen Humanisierung, von jenem Menschen, für den nicht das haben, nicht das Tote, nicht das Aufgehäufte, sondern die lebendige Selbstäußerung das Ziel ist." In seinem Buch "Das Menschenbild bei Marx" legte er eine prägnante und konstruktive Zusammenschau der Marxschen Frühschriften vor. Entfaltung und Emanzipation der Menschen und Schaffung einer nach humanen Erfordernissen zu gestaltenden Gesellschaft waren sein Hauptanliegen.

Und so erforschte er die sozialpsychologischen Hemmnisse für diese Entwicklung und gab zugleich Hinweise für deren Überwindung in Werken wie "Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches", "Anatomie der menschlichen Destruktivität", "Die Seele des Menschen", "Haben und Sein - Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft" und "Über den Ungehorsam". Nach Auffassung von Fromm wiederholt sich im Machtgefälle der Klassengesellschaften für die Beherrschten die infantile Situation. Sie erleben die Herrschenden als die Mächtigen, Starken, Anerkannten, gegen die sich aufzulehnen vergeblich, deren Schutz und Wohlwollen durch Unterwerfung und Liebe zu erlangen vernünftig scheint. Häufig zitierte er Marx' Diktum: "Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf."

Diese Überwindung gesellschaftlicher Zustände sah er in direktem Verhältnis mit individueller Anstrengung und Selbstveränderung. Dieser Nexus ist das Charakteristikum all seiner Werke und wird noch heute gerade von der Linken weitgehend ignoriert (vgl. meinen Beitrag "Lust auf Sozialismus" in spw Nr. 84/1995, S.40-45). In Büchern wie "Die Kunst des Liebens", "Märchen, Mythen, Träume" und "Zen-Buddhismus und Psycho-Analyse" überwindet er den akademischen Rationalismus, der die Lebenswirklichkeit und Befindlichkeit der Menschen hermetisch von kritischer und emanzipatorischer Analyse ausschließt. Und er sah, dass die Linke in dieses Vakuum rechtspopulistische und faschistoide Projektionsfiguren einbrechen lässt. Für Fromm war jeder einzelne Mensch gefragt und er zitierte in einer Rede die Worte eines - wie er es nannte "der genialsten Soziologen", nämlich Marx: "Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut, besitzt und kämpft."

Persönlichkeit und Gesellschaftsveränderung

In einem Interview mit Robert Jungk antwortete Fromm auf dessen Frage: "Wie könnte man viele Menschen dazu bringen, dass sie ihre Persönlichkeit positiv ausdrücken können?": "Das wäre nur möglich bei einer radikalen Änderung unserer gesellschaftlichen Struktur. In der heutigen Gesellschaft ist der Mensch eine Null geworden, ein Anhängsel der Maschine, und es kann auch nicht anders sein, wenn eine Gesellschaft den Profit und die Produktion und nicht den Menschen als oberstes Ziel und Objekt aller Anstrengungen ansieht. Ich glaube, dass die bestehende Gesellschaftsordnung den Keim der Zerstörung in sich trägt, weil sie die Zerstörungslust erzeugt, und zwar um so mehr, je weniger sie den Menschen glücklich macht, je gelangweilter die Menschen sind, je weniger die Menschen das Leben bejahen können." (Bild der Wissenschaft, 10/1974)

Und in demselben Gespräch mit Jungk sagt Fromm: "Hoffnungsvoll ist, dass wir heute wissen, dass die Änderung des Menschen nur verbunden sein kann mit der Veränderung der Verhältnisse, die die bisherige Haltung bewirkt haben. Aber es ist, glaube ich, nicht so, wie es gewisse Vertreter eines scheinbar radikalen Sozialismus - zum Beispiel Herbert Marcuse - behauptet haben, dass man erst Revolution machen müsse und dann käme die Änderung. Vor der Revolution sei jede Änderung von Schaden, denn sie befriedige und stabilisiere die Verhältnisse. Ich glaube, das ist falsch. Es scheint mir einer der Irrtümer von Lenin zu sein, dass er nicht genügend gesehen hat, dass, wenn man das menschliche Element vergisst, dieses selbst die politische Haltung verändert und korrumpiert. Welche Möglichkeiten gibt es, dass die Menschen eine neue Vision bekommen vom Leben, das interessant ist, das freudig ist, das biophil ist, das nicht bürokratisch ist, das ihnen erlaubt, sich auszudrücken? Das, was an einer Vision anzieht, was Menschen erfüllt, ist das Utopische, das Radikale, das große Bild, das einen Menschen fortreißt, das ihm einen neuen Sinn vom Leben gibt und das ihm selbst eine Aufgabe gibt. Die erste Aufgabe wäre es, darzustellen, worin eigentlich dieser neue Mensch und diese neue Gesellschaft bestehen würden. Zunächst gar nicht einmal in einem detaillierten Entwurf, sondern etwas, das dem Menschen ein neues Bild von den Möglichkeiten zu leben gibt. Denn alles das ist ja im Menschen als Möglichkeit schon vorhanden. Die Frage ist, ob man es ihm bewußtmachen kann. Solange man aber nur von Dingen wie Vergesellschaftung der Produktionsmittel spricht, wird der Mensch im Grunde genommen gar nicht motiviert. Es hat sich in Russland gezeigt, dass das alles gar nichts bedeutet. Das ist keine Vision, die die menschlichen Leidenschaften bewegt."

Aus Anlass des Geburtstages sind zahlreiche Veranstaltungen geplant (wie z.B. eine Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 20. Mai), die die Möglichkeit bieten, sich neben dem Lesen seiner Bücher mit seinem radikalen emanzipatorischen Ansatz vertraut zu machen (Informationen über www.erich-fromm.de).

Hervorhebung:

"Das, was an einer Vision anzieht, was Menschen erfüllt, ist das Utopische, das Radikale, das große Bild, das einen Menschen fortreißt, das ihm einen neuen Sinn vom Leben gibt und das ihm selbst eine Aufgabe gibt." (Erich Fromm)