Mehr Mut zum wirtschaftspolitischen Kurswechsel

Sondermemorandum Dezember 1998

Die Ablösung der alten Bundesregierung schafft die Chance für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik. An deren Notwendigkeit kann kein Zweifel bestehen...

Wahlversprechen und Wählerauftrag: Konsequenter Kurswechsel für Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit

1. Die Ablösung der alten Bundesregierung schafft die Chance für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik. An deren Notwendigkeit kann kein Zweifel bestehen, denn die neoliberale Politik der letzten anderthalb Jahrzehnte hat maßgeblich zum Anstieg der - registrierten - Arbeitslosigkeit und der -offiziellen - Armut allein in Westdeutschland auf mehr als das Dreifache ihres Wertes zu Beginn der 80 Jahre beigetragen. Sie hat überdies die Leistungen für Arbeitslose und Arme empfindlich gekürzt, Sozialabbau auf breiter Front betrieben und ein Klima sozialer Isolierung und Kälte verbreitet. Gemessen an allen sozialen Zielen ist diese Politik in vollem Umfang gescheitert. Auf der anderen Seite war sie für die großen Unternehmen und die Reichen überaus erfolgreich: Die Unternehmensgewinne sind auf neue Rekordhöhen gestiegen, die Einkommen massiv von unten nach oben umverteilt worden, und die Vermögenskonzentration hat zugenommen.

Jetzt besteht die Möglichkeit, diesen Trend zu stoppen und umzudrehen und Wirtschaftspolitik an den vorrangigen Aufgaben auszurichten. Diese bestehen darin, dafür zu sorgen, daß Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft kurzfristig deutlich vermindert werden und mittelfristig verschwinden, daß soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit zu Eckpunkten der wirtschaftlichen Entwicklung werden. Die Erfüllung dieser Aufgaben kann nicht einfach an Märkte delegiert werden. Es gehört vielmehr zur Verantwortung der Wirtschaftspolitik, die Märkte in den durch diese Eckpunkte bestimmten Rahmen einzubinden, ihnen in diesem Rahmen durch gesamtwirtschaftliche Steuerung Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, Fehlentwicklungen zu korrigieren und die grundgesetzlich gebotene Sozialpflichtigkeit des Eigentums durchzusetzen.

Die Aussichten für eine Erfolg einer solchen neuen Wirtschaftspolitik sind heute deshalb vergleichsweise günstig, weil sie gemeinsam mit den europäischen Nachbarn betrieben werden kann. Die Abwahl der alten Bundesregierung hat das wichtigste Hindernis für eine gemeinsame europäische Politik für mehr Beschäftigung beseitigt. Wenn diese energisch und in enger Abstimmung in der EU angegangen wird, dann werden sich die Wirkungen in den einzelnen Ländern verstärken, während sie wegen unkoordinierter Politik bislang weitgehend verpufften.

2. Die neue Bundesregierung mußte davon ausgehen, daß die Durchsetzung des Wählerauftrags für eine neue Wirtschaftspolitik auf erbitterten Widerstand der Interessenvertreter der Unternehmenswirtschaft stoßen würde, die bisher die Nutznießerin der staatlichen Einkommens- bzw. Reichtumspflege waren. Mittlerweile gibt es viele Anzeichen dafür, daß sie diesem Druck Schritt für Schritt nachgibt. Bei der Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen in Gesetzesentwürfe der Bundesregierung sind bereits wichtige Eckwerte der neuen Finanz- und Steuerpolitik aufgeweicht worden. Dies zählt um so mehr, als der Koalitionsvertrag selbst schon durch Kompromisse vor allem in der Steuerpolitik gekennzeichnet ist. Wird unter dem Druck massiver Einflußnahme einzelwirtschaftlicher Interessenvertreter die Basis dieses Koalitionskompromisses weiter aufgeweicht, dann schwinden die Chancen für eine neue Finanz- und Steuerpolitik.

Mit ihrem SONDERMEMORANDUM fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die Bundesregierung auf, zentrale Maßnahmen für Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Umwelt nicht preiszugeben. Dazu gehört auch der Mut, diese neue Politik gegen die untauglichen Vorschläge durch die große Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Berater durchzusetzen. Das Plädoyer für eine konsequente Fortsetzung der Angebotspolitik durch den ,,Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" (SVR) im jüngsten Jahresgutachten mit dem Titel ,,Aufschwung zwischen Hoffen und Bangen" ist weder theoretisch begründet noch empirisch belegt. Die weiterhin empfohlene Politik der einzelwirtschaftlichen Stärkung der Unternehmen auf der Angebotsseite belastet die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit auch die realisierbaren Ertragschancen. Insbesondere aber wird sie die Massenarbeitslosigkeit weiter steigern und die Polarisierung der Gesellschaft vorantreiben.

3. Natürlich kann eine neue Wirtschaftspolitik nicht von einem Tag auf den anderen verwirklicht werden. Sie trifft nicht nur auf Widerstände, sondern hat auch mit unvermeidlichen Koordinierungsschwierigkeiten zu kämpfen. Dies sollte akzeptiert werden. Problematisch wird es erst, wenn hinter diesen Übergangs- und Koordinierungsproblemen die Hauptlinien der notwendigen Veränderungen verschwinden, wenn der Eindruck von Konzeptionslosigkeit oder von Selbstblockaden entsteht, die durch gegensätzliche Konzeptionen und interne Machtkämpfe verursacht werden. Dieser Eindruck mußte in den ersten Wochen der neuen Bundesregierung entstehen. Wenn er sich weiter verfestigt, wird die Bundesregierung ihren anfänglichen Kredit schnell verspielen und dann auch nicht mehr die Autorität haben, die notwendigen Rahmenbedingungen für die Überwindung von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ungerechtigkeit sowie für ökologischen Umbau zu schaffen und durchzusetzen. Es besteht die Gefahr, daß sie am Ende, um wenigstens formal zahlenmäßige Erfolge aufweisen zu können, in einem Bündnis für Arbeit der Schaffung von prekären und unterbezahlten Arbeit zustimmt, was weder beschäftigungspolitisch noch sozial akzeptabel wäre.

Halbierung der Arbeitslosigkeit in drei Jahren

4. Die schnelle Verminderung der Arbeitslosigkeit bezeichnet die Bundesregierung als ihre wichtigste Aufgabe. Die Regierungen der meisten anderen Mitgliedsländer der EU verfolgen das gleiche Ziel. Daher sind die Bedingungen für ein gemeinschaftliches Handeln günstig. Es sollte mit der gemeinsamen Festlegung von konkreten Zielsetzungen beginnen und die jeweils nationalen Politiken so aufeinander abstimmen, daß die größte Gesamtwirkung erzielt wird; überdies sollten Maßnahmen auf europäischer Ebene diese Koordinierung ergänzen und unterstützen. Die europäische ,,Arbeitsgruppe für eine Alternative Wirtschaftspolitik in Europa" schlägt vor, als Ziel für eine solche Initiative die Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb der nächsten drei Jahre festzusetzen und für die Verwirklichung dieses Ziels ähnlich große Energie aufzuwenden wie seinerzeit für die Erfüllung der Konvergenzkriterien. Für die Dauer des Programms sollten die Bestimmungen zur Beschränkung der staatlichen Neuverschuldung - deren Sinn insgesamt mit guten Gründen bezweifelt werden kann - in gegenseitigem Einvernehmen nicht angewendet werden. Überdies sollte die Europäische Investitionsbank 50 Mrd. EURO zur Mitfinanzierung einer derartigen Initiative aufnehmen. Eine konsequente nationale und gemeinschaftliche Politik in diese Richtung wird auch die keineswegs gebannten Gefahren einer durch die Finanzkrisen in Asien, Rußland und Lateinamerika verursachten Rezession abwehren und einen beträchtlichen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft leisten können. Dies halten wir für vernünftige Vorschläge, die auch in Deutschland befolgt werden sollten.

5. Es gehört zu den wesentlichen Schwachpunkten des Koalitionsvertrages, daß zur Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - nach den eigenen Worten der Bundesregierung die allerwichtigste Aufgabe - keine konkreten Aussagen gemacht werden. Solche Aussagen dürften sich nicht in unverbindlichen Absichtserklärungen erschöpfen, sondern müßten sich auf die konkreten Umstände in der Bundesrepublik beziehen und spezifizierte und quantifizierte Handlungsprogramme beinhalten, wie das in der Steuerpolitik und anderen Bereichen ja durchaus der Fall ist. In der Regierungsvereinbarung tauchen solche Konkretisierungen nicht auf. Selbst die Absicht eines Sofortprogrammes für 100.000 arbeitslose Jugendliche bleibt in seinen Umsetzungsperspektiven so vage -"Im Mittelpunkt des Sofortprogrammes steht die Vermittlung in betriebliche Ausbildungs- und Arbeitsplätze" -, daß die Erfolgsperspektiven schon heute als gering angesehen werden müssen, wenn die Bundesregierung hier nicht mehr Druck macht.

6. Die schnelle Verminderung und mittelfristige Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit erfordert in erster Linie eine Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und in zweiter Linie arbeitsmarktpolitische Weichenstellungen. Während es möglich und sinnvoll ist, den Versuch zu machen, letztere in einem Bündnis für Arbeit zu verabreden, sollte es klar sein, daß die Verantwortung und die Handlungsmöglichkeiten für die gesamtwirtschaftliche Steuerung ausschließlich bei den staatlichen Stellen liegen, d. h. der Bundesregierung und der Bundesbank. Insofern ist die Vertröstung auf ein Bündnis für Arbeit nicht nur wegen des ungewissen Ausgangs der Gespräche in den Bündnisrunden, sondern auch deshalb unangebracht, weil sie die Hauptseite der Wirtschaftspolitik vernachlässigt.

7. Die Herstellung günstiger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen muß unter den gegenwärtigen Umständen in erster Linie auf der Nachfrageseite ansetzen. Auf der Kostenseite stehen deutsche Unternehmen im internationalen Vergleich hervorragend da: die Lohnstückkosten sind während der letzten Jahre - im Unterschied zu denen der Handelspartner - gesunken. Insofern gibt es auch keinen Grund für die geradezu besessene Fixierung aller Parteien auf die Senkung der Lohnnebenkosten. Die Bundesrepublik erzielt in diesem Jahr den höchsten Außenhandelsüberschuß in ihrer Geschichte, den zweithöchsten der Welt. Ein weitere Steigerung ist nur auf Kosten der - überwiegend europäischen - Nachbarn möglich und daher nicht wünschenswert. Der wesentliche Schwachpunkt der Entwicklung ist die Binnennachfrage, und hier der private Konsum und die Staatsausgaben. Gibt es von dieser Seite die notwendigen Impulse - getragen von höheren Löhnen und öffentlichen Beschäftigungsprogrammen - werden die Investitionen auf Grund besserer Absatzchancen folgen. Gesamtwirtschaftlich geboten sind also zum einen deutlich steigende Löhne und damit eine Ankurbelung des privaten Konsums. Gesamtwirtschaftlich und strukturpolitisch ist es zum anderen geboten, daß der Staat seiner beschäftigungspolitischen Verantwortung durch ein öffentliches Beschäftigungsprogramm nachkommt - im investiven Bereich, durch die Erweiterung des in den letzten Jahren erheblich zusammengestrichenen öffentlichen Sektors und durch den Aufbau eines zusätzlichen gemeinwohlorientierten Beschäftigungssektors.

8. Für eine solche Beschäftigungspolitik haben wir in den letzten Jahren konkrete Vorschläge vorgelegt: Ein öffentliches Investitionsprogramm im Umfang von 120 Mrd. DM pro Jahr für insgesamt fünf Jahre in den Bereichen der Umweltsanierung, der regionalen Infrastruktur, der Wohnumfeldverbesserung (und einer Sonderkomponente für den Aufbau Ost in Höhe von 20 Mrd. DM) würde rund eine Million, der Aufbau eines gemeinwohlorientierten Sektors mit 50 Mrd. DM in Bereichen der Betreuung, Beratung, sozialer und ökologischer Dienstleistungen eine weitere Million Arbeitsplätze schaffen können Wenn derartige Programme erfolgreich betrieben werden, werden sie erhebliche Mittel in die öffentlichen Kassen bringen und diese auch von der Ausgabenseite in großem Maße entlasten. Daher ist es gerechtfertigt, die Kosten für derartige Beschäftigungsprogramme jedenfalls zum Teil durch Neuverschuldung vorzufinanzieren. Ein anderer Teil ist durch die Streichung gesamtwirtschaftlich ungerechtfertigter Subventionen und durch die Wiedereinführung einer Vermögensteuer zu finanzieren.

9. Daß die Deutsche Bundesbank sich einer neuen beschäftigungsorientierten Politik verschließen will, ist angesichts ihrer bisherigen bornierten Position nicht verwunderlich und es ist schädlich für diese Politik . Insofern ist die öffentliche Debatte über die Unabhängigkeit der Bundesbank an der Zeit und notwendig. Eine solche Unabhängigkeit darf nicht heißen, daß die Bundesbank eine durch demokratische Wahlen und Regierungswechsel legitimierte Änderung des wirtschaftspolitischen Kurses aus eigener Machtvollkommenheit blockieren kann. Vernünftig erscheint es vielmehr, auch die Bundesbank wie alle anderen wirtschaftspolitischen Instanzen in die Diskussion über die vorrangigen Ziele und Hauptrichtungen der Wirtschaftspolitik einzubeziehen und in den in dieser Diskussion gefundenen Kompromiß einzubinden - und ihr sodann die Eigenständigkeit bei der Wahl der Instrumente zur Verwirklichung der geldpolitischen Seite der Wirtschaftspolitik zu überlassen - sie allerdings bei Versagen auch zu Verantwortung ziehen zu können. Das Gesetz über die Deutsche Bundesbank verpflichtet diese im übrigen ,,unter Wahrung ihrer Aufgabe die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu unterstützen." Da das Ziel, ,,die Währung zu sichern" erreicht und absehbar nicht gefährdet ist, hat diese Unterstützung der Beschäftigungspolitik im Vordergrund der Bundesbankpolitik zu stehen. - Andererseits warnen wir auch davor, jetzt Wunderdinge von einer Zinssenkung in Deutschland zu erwarten. Wir stimmen der diesbezüglichen Forderung des Finanzministers zu, sind allerdings der Ansicht, daß die Hauptverantwortung bei der gesamtwirtschaftlichen Ankurbelung gegenwärtig bei der Finanzpolitik liegt. Eine Zinssenkung sollte die finanzpolitische Stimulierung begleiten, sie kann sie nicht ersetzen. Die bornierte Haltung der Bundesbank sollte jedenfalls nicht zum Sündenbock und als Rechtfertigung für finanzpolitische Inaktivität herhalten.

10. Das Bündnis für Arbeit kann ein wichtiges Element im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit werden, wenn es gelingt, das Interesse der Unternehmen an Neueinstellungen zu beleben ohne die Arbeitnehmer mit inakzeptabel niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen zu belasten. Letzteres wäre der Fall, wenn Neueinstellungen mit einer neuen Form von Niedriglöhnen und/oder Flexibilisierung allein zu Lasten der Beschäftigten, mit ungeschützten Arbeitsverhältnissen oder mit irgendeiner Art von Arbeitszwang (Pflichtarbeit) verbunden wären. Erste positive Schritte in einem Bündnis für Arbeit wären ein verbindliches und quantifiziertes Übereinkommen zum Abbau von Überstunden, Abkommen zur Wiedereingliederung von Jugendlichen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsprozeß, ein vorzeitiger Ruhestand ohne Einschränkung der Renten. Soweit es notwendig ist, den Unternehmen einen Teil der Kosten für derartige Maßnahmen zu erstatten, sollte dies nicht zu Lasten der unteren Einkommen geschehen.

Rückkehr zu solidarischer Sozialpolitik

11. Die Bundesregierungen des abgewählten Kanzlers haben innerhalb von 16 Jahren das Gesicht des Sozialstaats nachhaltig verändert. Die direkten finanziellen Belastungen der kaum noch überschaubaren Einzelmaßnahmen des Sozialabbaus belaufen sich nach Angaben des bis Oktober amtierenden Arbeitsministers auf kalenderjährlich derzeit rund 60 Mrd. DM in der Rentenversicherung und knapp 40 Mrd. DM in der Arbeitslosenversicherung. Hinzu kommen jährlich zwischen 25 und 30 Mrd. DM, die die Kranken infolge von Leistungsausgrenzungen, gestiegener Zuzahlungen und erhöhter Eigenanteile zusätzlich zu ihrem Pflichtbeitrag aus eigener Tasche zahlen. Neben dem Abbau der Massenarbeitslosigkeit wird sich die neue Bundesregierung auch daran messen lassen müssen, wieweit in den kommenden Jahren die finanzielle Stabilisierung der Solidareinrichtungen und die Schließung von Sicherungslücken gelingt. Ohne Weichenstellung in Richtung einer nachhaltigen Umverteilung von oben nach unten wird sich keines der beiden Ziele erreichen lassen. Zudem zeigen sich bereits in den ersten Wochen des Regierungswechsels zum Teil eklatante Widersprüche zwischen sozialpolitischer Programmatik einerseits und in Aussicht gestellter Politik andererseits: Während die Korrektur der Arbeitnehmer(schutz)- und Mitbestimmungsrechte - vor allem Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung und Betriebsverfassung - sowie das Vorschaltgesetz zur Krankenversicherungsreform erfreulich eindeutig ausfallen, bleibt die Zukunft der sozialen Rentenversicherung bei wohlwollender Beurteilung völlig offen und geben die bisherigen arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Eckpunkte von Rot-grün bestenfalls eine glanzlose Nullnummer ab.

12. Positive Signale gehen vom Koalitionsvertrag und dem inzwischen vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung aus, deren Ausschlachtung zugunsten privater Anbieter sich die alte Koalition zum Prinzip gemacht hatte: Jetzt sollen Leistungsausgrenzungen, automatische Zuzahlungserhöhung, Kostenerstattung bei Zahnersatz, Beitragsrückgewähr für Gesunde oder auch Selbstbehaltregelungen (,,Teilkasko") umgehend gestrichen werden. Die Perforierung des für eine Solidareinrichtung unverzichtbaren Sachleistungsprinzips wird gestoppt und wieder zurückgenommen; die Bedeutung alleine dieser Maßnahmen ist für die absehbaren Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaats hoch einzuschätzen. Vergleichbares gilt grundsätzlich auch hinsichtlich der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Eckpunkte für die für das Jahr 2000 in Aussicht gestellte Strukturreform. Vergeben wurde allerdings die Chance zur Anhebung der Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung, was eine (Wieder-) Einbeziehung der sogenannten guten Risiken in die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten bedeutet hätte.

13. Im Bereich der Rentenversicherung werden die Sozialabbaumaßnahmen der jüngsten Vergangenheit nicht zurückgenommen, sondern lediglich teilweise für die kommenden zwei Jahre ausgesetzt. Sollten bis Ende des Jahres 2000 keine anderen Regelungen gefunden werden, so treten u.a. die Rentenniveausenkung und die drastischen Verschlechterungen im Bereich der Erwerbsminderungsrenten zum Januar 2001 in Kraft. Die Rentenniveaufrage ist entgegen des im Wahlkampf erweckten Eindrucks auch nach dem politischen Wechsel keinesfalls vom Tisch. Sie wird sich um so schärfer stellen, je stärker in der sozialpolitischen Debatte jene Stimmen an Gewicht gewinnen, die die Sicherungslücken bei Erwerbsunfähigkeit und im Alter vorrangig außerhalb der solidarischen Sicherungssysteme zu schließen versuchen. Hierzu zählt leider auch der von gewerkschaftlicher Seite in die Diskussion gebrachte und von der Bundesregierung unmittelbar aufgegriffene Tariffonds-Gedanke. Die arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitisch kontraproduktive Heraufsetzung der Altersgrenzen und die mit dem vorzeitigen Rentenbezug verbundenen Abschläge müssen rentenversicherungsintern - evtl. befristet - revidiert werden. Die Gesamtkosten fielen dabei nicht höher aus als bei einer einheitlichen und flächendeckenden Fondslösung. Denn einerseits ist nicht ersichtlich, daß auch nur ein einziges Problem über Tariffonds besser und sozial gerechter gelöst werden könnte als über die gesetzliche Rentenversicherung; andererseits hat alleine schon die laufende Debatte über Tariffonds in der Öffentlichkeit weiter den Eindruck verfestigt, daß jede zusätzliche Mark, die in die gesetzliche Rentenversicherung fließt, eine verlorene Mark sei, während jedwede Anlage außerhalb der Solidargemeinschaft als ökonomisch rationale und zukunftsträchtige Entscheidung erscheint. Der über die vergangenen 16 Jahre unter die Räder der Angebotspolitik geratene Solidargedanke muß gestärkt und sollte nicht durch unüberlegte Vorschläge noch weiter geschwächt werden.

14. Die absehbare Neuregelung bei den sog. geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ist gänzlich verfehlt, weil sie den arbeitsmarktpolitischen Aspekt völlig außer acht läßt. Die Billigjobs sind nicht in erster Linie ein sozialversicherungsrechtliches Problem, sondern ein Arbeitsmarktproblem - erst hieraus entwickelt es sich zu einem Problem für die Sozialkassen und die soziale Sicherung. All diejenigen, die eine sozialstaatlich effiziente Regelung erwartet haben, müssen bitter enttäuscht sein; Rot-grün wird mit dem vorliegenden Plan kein einziges der zuvor anvisierten Ziele erreichen können: Soziale Sicherungslücken werden nicht geschlossen, die soziale Absicherung von Frauen wird nicht verbessert, eine Umwandlung in sozialversicherte Teilzeit- oder gar Vollzeitarbeitsplätze wird nicht bewirkt und der weiteren Aufsplitterung von Arbeitsverhältnissen wird kein Riegel vorgeschoben. Im Gegenteil: Durch die Angleichung des Schwellenwertes in den neuen Ländern an den des Westens wird dort das prekäre Arbeitsmarktsegment sogar um rund 20% ausgeweitet. Statt Probleme zu lösen, werden neue geschaffen - auf dem Arbeitsmarkt, aber auch im Steuerrecht, wo erstmals eine Einkommensart völlig von der Besteuerung freigestellt werden soll, und im Sozialversicherungsrecht, wo den eingezahlten Beiträgen keinerlei Leistungsansprüche bei Eintritt sozialer Risiken gegenüberstehen sollen. Die in unseren Augen einzig saubere Lösung wäre die grundsätzliche Sozialversicherungspflicht oberhalb einer undynamisierten Bagatellgrenze von 200 DM mit Individualbesteuerung und unter Beibehaltung der sog. Geringverdienergrenze, derzufolge der Arbeitgeber bis zu einem Bruttoentgelt von 620 DM auch den Arbeitnehmeranteil am Sozialbeitrag zu tragen hat. Für einen solchen Fall stünden auch der Angleichung des Ost- an den West-Schwellenwert keine Bedenken entgegen.

Sozial-gerechte Steuerpolitik zur Stärkung der Massenkaufkraft

15. Die im Koalitionsvertrag festgeschriebene ,,große Steuerreform" ist das Ergebnis eines nicht widerspruchsfreien Kompromisses. Wir begrüßen und unterstreichen das erklärte Ziel, künftig mehr soziale Gerechtigkeit bei der Verteilung der Steuerlast auch zugunsten höherer Massenkaufkraft durchzusetzen.

Im Unterschied zu den ,,Petersberger Beschlüssen" der alten Bundesregierung wird auf massive Nettoentlastungen verzichtet und stattdessen das Prinzip verfolgt, Steuerausfälle infolge der Tarifsenkungen vor allem in den ersten beiden Stufen durch Mehreinnahmen über den Abbau von Steuervorteilen gegenzufinanzieren.

Auch die geplante Neugestaltung des Tarifverlaufs sowie der beabsichtigte Abbau von bisherigen Steuervorteilen trägt dem Ziel sozial gerechterer Steuerlastverteilung Rechnung. In drei Stufen (1999/2000/2002) soll der Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer auf 14.000DM/ 18.000 DM (Alleinstehende/Verheiratete) angehoben sowie der Eingangssteuersatz auf 19,9% gesenkt werden. Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wird insgesamt auf 260 DM erhöht. Der bisherige Splitting-Vorteil soll auf 8.000 DM begrenzt werden. Der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer wird in 2002 mit 48,5% angestrebt. Die über siebzig Maßnahmen zum Abbau bisheriger Steuervorteile konzentrieren sich vorrangig auf Einkommensstarke und die Wirtschaft, die diese Steuergeschenke nicht in Investitionen und Arbeitsplätze umgesetzt hat. Die wichtigsten Maßnahmen sind: Abschaffung der Teilwertabschreibung, Berücksichtigung des Wertaufholungsgebots, die Mindestbesteuerung von Verlusten im Zuge der Verrechnung mit anderen positiven Einkünften, die (mittlerweile allerdings aufgegebene) Abschaffung des Verlustrücktrags, die Verlängerung der Spekulationsfristen und damit der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen innerhalb eines Jahres bei Wertpapieren sowie innerhalb von zehn Jahren bei nicht privat genutzten Immobilien.

16. Diese Ansätze für eine neue Steuerpolitik für mehr soziale Gerechtigkeit drohen jedoch unter dem massiven Druck wirtschaftsstarker Lobbyisten durchlöchert zu werden. Hiergegen sollte sich die Regierung mit aller Entschiedenheit zur Wehr setzen. Ohnehin sind wichtige Maßnahmen zum Abbau wirtschaftlicher Steuerprivilegien bereits im Koalitionskompromiß nicht aufgenommen worden. Das betrifft vor allem die verpaßte konsequente Besteuerung zeitlich unbefristeter Veräußerungsgewinne sowie das komplette Verbot der Verrechnung von Verlusten mit anderen positiven Einkommen. Auch die im Wahlkampf noch angekündigte Wiedereinführung der Vermögensteuer zumindest für die privaten Haushalte ist zur Entscheidung an eine Expertenkommission vertagt worden.

17. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert die Bundesregierung auf, wenigstens vom Kompromiß des Koalitionsvertrags nicht abzuweichen. Das bedeutet im einzelnen:

Erstens: Die Nettosteuerentlastung sollte erst ab 2002 mit dem ursprünglich geplanten Volumen von 10 Mrd. DM - und nicht wie jetzt festgelegt 15 Mrd. DM - einsetzen. Dabei sind Nettoentlastungen im Prinzip nicht sinnvoll, denn dadurch entsteht die Gefahr, daß neue Haushaltslöcher durch Abbau von Staatsausgaben geschlossen werden müssen.. Daher sollten prinzipiell Einnahmenausfälle durch die Senkung der Steuersätze über die Streichung von Steuervorteilen in diesem Bereich gegenfinanziert werden.

Zweitens: Im Rahmen des Abbaus der Steuervorteile für die Unternehmen sollte, wie bisher geplant, der derzeitige Verlustvortrag bereits ab 1999 komplett abgeschafft, die Mindestbesteuerung (Einschränkung der Verlustanrechnung) ausgeweitet und alle anderen Maßnahmen zum Abbau der Steuervorteile konsequent durchgesetzt werden. Schließlich fällt der steuertechnisch äußerst komplizierte Abbau des Vorteils durch das Ehegatten-Splitting viel zu gering aus.

Drittens: Die durch eine Expertenkommission bereits für 2000 vorzubereitende Angleichung der maximalen Unternehmensbesteuerung auf 35% ist nur akzeptabel die dadurch ausgelösten Steuerausfälle ausschließlich aus dem Abbau bisheriger Steuervorteile bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage bei diesen Unternehmen gegenfinanziert werden. Andernfalls würde die ,,große Steuerreform" endgültig das Ziel sozial-gerechter Verteilung der Steuerlast verfehlen und zu einer weiteren Maßnahme der steuerlichen Umverteilung zugunsten der Unternehmen und Reichen werden.

4. Ökologische Steuerreform als Einstieg in den ökologischen Umbau

18. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte ,,ökologische Steuerreform" hat keinen Monat Bestand gehabt. Es war verabredet worden, für Kraftstoffe sechs Pfennig mehr Mineralölsteuer zu erheben und die Steuern für Heizöl um 4 Pfennig je Liter, für Strom um 2 Pfennig und für Gas um 0,32 Pfennig je Kilowattstunde anzuheben und das Aufkommen für die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge zu verwenden. Schon dies war eine nur teilweise in die richtige Richtung gehende Verabredung.

Während die Verteuerungen von Heizöl und Strom durchaus Wirkungen in die gewünschte Richtung der Energieeinsparung haben können, verfehlt die Anhebung der Mineralölsteuer für Benzin ihre beabsichtigte ökologische Lenkungswirkung vollständig. Wer 15 000 km im Jahr (deutscher Durchschnitt ) mit einem Auto fährt, das 10 Liter Benzin auf 100 km verbraucht, hat nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler mit monatlichen Mehrbelastungen von 8,70 DM zu rechnen. Damit kann eine Trendwende bei der Umweltbelastung im Verkehr nicht eingeleitet, ja der bisherige Trend zu höheren Belastungen nicht einmal gebremst werden. Während auf dem Klimaschutzgipfel das Ziel einer Senkung der CO2- Emission um 25% (unverbindlich) verabredet wurde, prognostiziert das Umweltbundesamt für die gleiche Zeit in Deutschland eine Steigerung um den gleichen Prozentsatz.

19. Mittlerweile ist einerseits das Inkrafttreten dieser Besteuerung um ein Vierteljahr verschoben worden. Andererseits sieht das Gesetz vor, 40 % des gesamten Energieverbrauchs im Produzierenden Gewerbe aus der Ökobesteuerung herauszunehmen. Insgesamt siebenundzwanzig Wirtschaftsbereiche (Braunkohlebergbau, Kalk, Zellstoff, Papier usw.) fallen aus der Besteuerung heraus, weil ab einem Anteil der Energiekosten von 6,4% gegenüber den Gesamtkosten eine Befreiung von der Energiebesteuerung erfolgt. Hinzu kommt, daß alle anderen Betriebe im Produzierenden Gewerbe nur mit 25% der Ökosteuer auf Heizöl (nur 1 Pfennig pro Liter), Erdgas (80 Pfennige je Megawatt) und Strom (nur 0,5 Pfennige je kwh) belastet werden. Diese Freistellungen verfehlen die ökologische Lenkungswirkung. Der ökonomische Anreiz, Energie einzusparen, entfällt bei den energieintensiven Unternehmen. Zugleich sind sie jedoch Nutznießer durch die Rückgabe der Einnahmen aus der Öko-Steuer per Senkung der Sozialversichungsbeiträge der Unternehmen. Die ohne schon problematischen Verteilungswirkungen der ,,ökologischen Steuerreform" werden verstärkt. Letztlich wird die Ökosteuer auf eine einseitige Besteuerung des Endverbrauchs reduziert. Bereits nach der ursprünglichen Koalitionsvereinbarung wurden Haushalte von Arbeitslosen, Rentnern und sonstigen Nichterwerbstätigen - also in der Mehrheit einkommensschwache Haushalte - praktisch vom sozialen Ausgleich ausgeschlossen, während Haushalte von Erwerbstätigen und Unternehmen einen Ausgleich erhalten, der allerdings die beabsichtigten Lenkungswirkung zunichte macht. Letztlich kommt es so zu einer ökologisch wirkungslosen und sozial regressiv wirkenden Verbrauchsbesteuerung.

20. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert auf der Basis ihrer bisherigen Vorschläge dazu auf, folgende Maßnahmen für eine ernsthafte ökologische Steuerreform zu berücksichtigen:

Erstens: Die einzelnen Schritte der ökologischen Steuerreform sollten sich in einen Pfad zur Erreichung der Ziele innerhalb einer verbindlichen Frist einfügen. Eine schrittweise Anhebung der Mineralölsteuer auf 5 DM pro Liter innerhalb von zehn Jahren ist anzustreben. Wie sich das auf den gesamten Benzinpreis auswirkt, hängt auch von den Reaktionen der Ölkonzerne ab.

Zweitens: Grundsätzlich ist auf Ausnahmeregelungen für die energieintensive Wirtschaft zu verzichteten. Nur so läßt sich eine ökonomisch sinnvolle Ausnutzung von Möglichkeiten der Energieeinsparung bzw. des alternativen Energieeinsatzes unter dem Druck der Ökosteuer bewirken.

Drittens: Die Verwendung der Einnahmen aus der Ökosteuer für die Senkung der Lohnnebenkosten ist weder ökonomisch gerechtfertigt noch allgemein sozial sinnvoll. Sie ist zudem in dem Sinne politisch kontraproduktiv, daß bei einem ökologischen Erfolg - nämlich einem Rückgang der Emissionen - die Finanzierungsbasis sozialer Sicherungssysteme wegen sinkender Einnahmen erneut zur Disposition gestellt würde. Die Einnahmen sollten vielmehr als öffentliche Mittel zur Unterstützung des ökologischen Umbaus im Bereich der Energieversorgung, oder der ökologischen Verkehrspolitik durch den Ausbau öffentlicher Nah- und Fernverkehrssysteme verwendet werden. Schließlich ist für einkommensschwache Personengruppen, die durch die Energieverteuerung nur belastet würden, ein sozialer Ausgleich sicherzustellen.