Soziale Probleme in den neuen Bundesländern

Das jüngste "Gutachten des Sachverständigenrates zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" sieht die Bundesrepublik Deutschland "auf dem richtigen Weg"...

Das jüngste "Gutachten des Sachverständigenrates zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" sieht die Bundesrepublik Deutschland "auf dem richtigen Weg", aber "wie im Vorjahr entwickelte sich die Arbeitsmarktsituation in den alten und neuen Bundesländern recht unterschiedlich", und das würde zunächst so bleiben. Der Bundesregierung wird nicht in erster Linie empfohlen, diese Unterschiede abzubauen, sondern (vgl. Ziffer 327 ff), mehr "Freiräume für eine größere Lohndifferenzierungen" zu gewähren, eine "stärkere Lohnspreizung nach unten" zu unterstützen oder mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe "Fehlanreize zu beseitigen". Es wird außerdem empfohlen, "die Gesetzliche Rentenversicherung umgehend durch eine kapitalgedeckte Säule" (Ziffer 374 ff) zu ergänzen und manches mehr.

Die "weisen" Vorschläge sind inhaltlich eindeutig, rhetorisch eine Meisterleistung und zeigen - wie gesagt - "in die richtige Richtung" der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Ökonomie ist aber nicht Selbstzweck. Die in Politik, Wissenschaft und Alltag spürbare absolute Dominanz des Ökonomischen reflektiert nur die Oberfläche. Im Inneren sind ökonomische Entwicklungen immer Korrelate von sozialen (auch ökologischen, politischen...) Entwicklungen, oft Voraussetzungen, mitunter auch Folgen. Nicht zuletzt hat der Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" bewiesen, daß es auf Dauer nicht gelingen kann, den inneren Zusammenhang zwischen Ökonomischem und Sozialem zu ignorieren. Die Frage ist deshalb naheliegend, ob sich die Bundesrepublik Deutschland zehn Jahre nach dem Fall der Mauer in ihrer "gesamtsozialen Entwicklung" ebenfalls auf dem richtigen Weg befindet.

Für vor allem gut verdienende, vor allem männliche, vor allem hochqualifizierte Erwerbstätige und ihre Familien fällt die Antwort sicherlich eindeutig positiv aus. Für diese Gruppe würden sich die "Freiräume für eine größere Lohndifferenzierung" als noch mehr Wohlstand, mehr soziale Sicherheit, mehr gesellschaftliches Ansehen äußern. Dieser Gruppe würde es nicht schwer fallen, die traditionelle Alterssicherung "durch eine kapitalgedeckte Säule" zu ergänzen, und diese Gruppe würde eine "stärkere Lohnspreizung nach unten" oder gar eine Abschaffung der Arbeitslosenhilfe nicht nachteilig berühren.

Nach den Ergebnissen des jüngsten Sozialreports (vgl. Winkler, 99) zählen sich etwa 13 vH der Westdeutschen zur Oberschicht bzw. zur oberen Mittelschicht. In Ostdeutschland waren es in den vergangenen 10 Jahren immer weniger als 5 vH1) die sich in materieller Hinsicht "so weit oben" einordnen - also eine im statistischen Sinn zu vernachlässigende Größe. Dementsprechend unterschiedlich sind die Auffassungen in Ost und West zur Frage, ob der Wohlstand in Deutschland heute gerecht verteilt ist: 8 vH der Ostdeutschen und 29 vH der Westdeutschen stimmen dem zu (vgl. Wohlfahrssurvey 98). Es ist zu vermuten, daß die Wohlstandsunterschiede in Ost und West zumindest noch lange Zeit bestehen bleiben, denn auch das DIW, für seine realitätsnahen Prognosen bekannt, schätzt ein, daß die ostdeutsche Wirtschaft vom kommenden ökonomischen Aufschwung "nur gestreift" wird. Das heißt: Nur für eine Minderheit, die überwiegend in Westdeutschland lebt, erscheint an der Jahrtausendwende die These vom "richtigen Weg" in gesamtsozialer Hinsicht plausibel.

Ergibt sich daraus, daß sich die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen, darunter fast alle Ostdeutsche, einen anderen Weg suchen sollten? Es heißt zumindest, daß über Alternativen nachgedacht werden muß, und das wiederum setzt Analysen zur sozialen Entwicklung der letzten zehn Jahre in Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland voraus. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die DDR ebenso wie die anderen "realsozialistischen Länder" an den eigenen Defiziten zerbrochen ist. An theoretischen und praktischen Defiziten, die noch längst nicht ausreichend analysiert sind und die im Spannungsfeld zwischen Verteufelung und Verklärung der DDR-Vergangenheit nur schwer (immer schwerer?) identifiziert werden können.

"Wir waren das Volk"

Tatsache bleibt, daß die erwachsene DDR-Bevölkerung zunächst mehrheitlich die politischen Veränderungen, wie sie mit dem Wende-Herbst '89 eingeleitet wurden, gut hieß. Das betraf sowohl die vagen Zielvorstellungen - "eine bessere DDR"2) - als auch die friedliche Art und Weise des Protestes. Noch im Mai 1990, also in der Zeit zwischen der ersten freien Wahl in der DDR und dem Beitritt zur Bundesrepublik, äußerten sich 78 vH der DDR-Frauen und 81 vH der DDR-Männer zufrieden und im Großen und Ganzen einverstanden mit der gesellschaftlichen Entwicklung im Osten Deutschlands. Drei Jahre später signalisierten nur noch 39 vH der ostdeutschen Frauen und 51 vH der ostdeutschen Männer entsprechend einer vergleichbaren Repräsentativbefragung ihr generelles Einverständnis mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen (vgl. Daten ISDA Berlin), d. h. die Zustimmung der ostdeutschen Frauen und Männer ist in dieser Zeit nicht nur drastisch gesunken, sondern hat sich auch deutlich voneinander entfernt. Der Meinungswandel oder genauer die -differenzierung betrifft die generelle Einschätzung ebenso wie die Einschätzung einzelner Politikbereiche. So meinen heute mehr als 30 vH der erwachsenen Ostdeutschen, daß am DDR-Schulsystem nichts hätte geändert werden müssen. Vor 5 Jahren vertraten eine solche, aus unserer Sicht besorgniserregende Auffassung, nur 20 vH. Unmittelbar nach der Wende waren es nur 5 vH, die das DDR-Schulsystem unverändert in die neue Zeit hätten hinüberretten wollen (vgl. Daten IFS Dortmund).

Inzwischen haben sich die Turbulenzen auf dem Befragungsmarkt gelegt. Nach Sozialreport-Daten ist mehr als die Hälfte der Ostdeutschen mit der Entwicklung der Lebensbedingungen in den letzten Jahren im allgemeinen zufrieden. Und 40 vH sehen auch die Zukunft optimistisch, vor allem Männer, vor allem RentnerInnen, vor allem BeamtInnen. Auf der Strecke bleibt der "Rest". Es fällt auf, daß nicht nur Arbeitslose bzw. Beschäftigte in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, sondern auch Selbständige bei solchen Befragungen Zukunftsängste reflektieren.

Was steckt hinter solchen Zahlen? Zumindest eine Portion neuer und nicht selten schmerzlicher Erfahrungen der Ostdeutschen. Einerseits sind es Erfahrungen, die die eigenen Vergangenheiten in einen neuen Zusammenhang stel-len. Der Pfarrer Friedrich Schorlemmer stellte dazu fest, daß die Ostdeutschen inzwischen ein feines Gespür für den Wert der gesellschaftlichen Veränderungen erworben hätten. "Unterordnung fungiert nur anders, Bürokratie begegnet uns als höchst differenziertes Formular, die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) mausert sich zum Schützenverein, die Schweigegebote der Ideologie werden zur Schweigeklugheit der Arbeitsplatzangst..." (Schorlemmer, 1994). Keine Frage, zwischen der Diktatur des Politbüros und der Diktatur des Geldes gibt es Unterschiede, und die werden auch als solche wahrgenommen, gehören gewissermaßen mit zu den neuen Erfahrungen. Ob man ein Buch nicht lesen kann, weil es Macht habende alternde Männer vorenthalten, oder ob man es nicht lesen kann, weil das eigene Geld dafür nicht ausreicht, ist für das Selbstwertgefühl und auch für das Verhältnis zur Macht ein großer Unterschied. In neuerer sozialwissenschaftlicher Literatur wird in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, zwischen politischer und sozialer Armut zu unterscheiden (Priller). Politisch arm sei, wer sich nicht wehren kann, wer nicht weiß, wohin er sich in seiner Not wenden kann. Es wäre die Hypothese zu überprüfen, ob Ostdeutsche bzw. ein Teil von ihnen von politischer Armut auf soziale "umgestiegen" sind.

Andererseits handelt es sich um Erfahrungen, die die Gegenwart in einem sehr kritischen Licht erscheinen lassen. So gab es 1990 das Phänomen Arbeitslosigkeit für Ostdeutsche nur in der Theorie. Der Anteil der Selbständigen an allen Berufstätigen lag bei 1,9 vH. Für 1.000 DDR-Frauen im gebärfähigen Alter wurden 1.517 Geburten gezählt (in den alten Ländern 1.453). 1993 war die Bevölkerungszahl im Osten gegenüber 1989 um fast eine Million geringer, sie war von 16,4 Millionen auf 15,6 Millionen gesunken. Der Anteil der Selbständigen an allen Erwerbstätigen war auf 7,4 vH gestiegen. Es gab inzwischen über 1 Million registrierte Arbeitslose, zwei Drittel davon weiblich. Auf 1.000 ostdeutsche Frauen im gebärfähigen Alter kamen nur noch 774 Kinder (in den alten Ländern 1.277). Bis 1998/99 war die Bevölkerungszahl weiter auf 14,4 Millionen gesunken, die östliche Geburtenrate wieder auf 1.038 (in den alten Ländern 1.368) angewachsen. Der Anteil der Selbständigen an den Erwerbstätigen hat sich weiter auf 8,8 vH erhöht. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist auf etwa 1,3 Millionen gestiegen, "nur noch" zu 56 vH weiblich. Allerdings liegt der Anteil der Frauen an den Langzeitarbeitslosen stabil bei 70 vH.

Im Lichte solcher Fakten wird ein Rückbesinnen auf ehemalige Selbstverständlichkeiten plausibel, beispielsweise eine Rückbesinnung auf die selbstverständliche Pflicht des Staates, existenzielle Armut und Obdachlosigkeit zu verhindern, oder auf das Recht des Staates, kriegerische Gewalt und Ausländerfeindlichkeit zu unterbinden, oder auf die Unterstützung des Staates beim Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft. Wenn heute nur 33 vH der Ostdeutschen (63 vH der Westdeutschen) der Auffassung sind, daß in dieser Gesellschaft soziale Sicherheit gewährleistet ist (vgl. Wohlfahrtssurvey '98), oder wenn sich bis Ende der neunziger Jahre konstant weniger als 5 vH der ostdeutschen Frauen als freiwillige Hausfrauen bezeichnen (in den alten Ländern ebenso konstant um 25 vH, vgl. ALLLBUS), so deutet das auf spezifisch ostdeutsche Erfahrungen und auf ein spezifisch ostdeutsches und offenbar stabiles Anspruchsniveau hin. 3)

"Du mußt Arbeitslosigkeit als neue Chance betrachten"

Nach den aktuellen IAB-werkstattberichten gab es zu Beginn des Jahres 2000 in den neuen Bundesländern 1,36 Millionen registrierte Arbeitslose. Das entsprach - bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen - einer Quote von 19,1. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern lag die Quote höher, in Sachsen und Thüringen niedriger. Zählt man auch KurzarbeiterInnen, ABM- und SAM-Beschäftigte sowie Menschen in Weiterbildungsprogrammen mit dazu, so lautet die Unterbeschäftigtenquote für die neuen Bundesländer 25,2. Der Frauenanteil an den registrierten Arbeitslosen beträgt 53,4 vH, d. h. er ist im Vergleich zum Anfang der neunziger Jahren zurückgegangen, aber immer noch leicht überdurchschnittlich. Daraus ergibt sich eine Arbeitslosenquote für ostdeutsche Frauen von 21 vH. Auch hier belegt Sachsen-Anhalt mit 24,1vH einen unrühmlichen Extremwert, die Ostberlinerinnen sind mit einer Quote von 17,3 vH vergleichsweise wenig an der ostdeutschen Arbeitslosigkeit beteiligt. Seit die 10. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes gilt, also seit 1992, sollen ostdeutsche Frauen "entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen" (§ 2, Abs. 5) gefördert werden, d.h. gegenwärtig sollten die Fördermaßnahmen zu etwa 53 vH von Frauen wahrgenommen werden. Für Weiterbildungsmaßnahmen (55 vH Frauen) und ABM (58 vH Frauen) ist das der Fall, für Strukturanpassungsmaßnahmen (48 vH Frauen) nicht.

Daß die Arbeitslosigkeit bzw. die reale Unterbeschäftigung im Osten anteilig höher liegt als im Westen ist bekannt und unbestritten. Die Ursachen dafür werden allerdings in Ost und West sehr unterschiedlich gesehen. Aus Westsicht stehen sowohl die sogenannte hohe Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen dafür am Pranger als auch die Mißwirtschaft der SED, die zu schnelle Einführung der Marktwirtschaft oder die ungenügende Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen. Aus Ostsicht wird dafür vor allem die Politik der Treuhandanstalt verantwortlich gemacht (vgl. Arbeitslosenreport '99).

Daß die ostdeutschen Frauen das eigentliche Problem des Arbeitsmarktes seien, weil sie die Männer so erfolgreich aus der Erwerbsarbeit verdrängen, wurde im Osten zunächst mehr als Groteske denn als ernstzunehmende These reflektiert. Erst allmählich begriffen DDR-sozialisierte Frauen (und Männer), was ihnen hier streitig gemacht werden sollte. Gegen Ende der DDR waren fast alle Frauen im entsprechenden Alter berufstätig (91 vH) und hatten fast alle Frauen am Ende ihrer fertilen Phase mindestens ein Kind (Mütterrate 92 vH). Die analogen Zahlen für die alte Bundesrepublik lagen Ende der achtziger Jahre jeweils bei 75 vH. Wenn heute in der sozialwissenschaftlichen Literatur von einer zeitgemäßen "Widerständigkeit ostdeutscher Frauen" (Nickel) die Rede ist, dann ist damit im allgemeinen ihr nachhaltiges Bedürfnis nach einem "ganzen Leben", das sowohl Berufstätigkeit als auch Familie einschließt, gemeint.

Grafik 1
Quelle: Institut für Arbeit und Technik 1997, zitiert. nach "Berliner Memorandum zur Modernisierung der Beruflichen Bildung", Hrsg. Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen, Berlin 1999, S. 10

Arbeitslosigkeit wird in Ost und West nicht nur unterschiedlich begründet, sondern auch unterschiedlich wahrgenommen. Sie gilt nach wie vor als dominierendes soziales Problem, das einer politischen Lösung bedarf, das heißt sie gilt immer noch nicht als fataler und nicht zu ändernder Zustand (Offe). Nach dem Arbeitslosenreport '99 sind drei Viertel aller Befragten im Osten und "nur" zwei Drittel aller Befragten im Westen mit ihrem Leben als Arbeitslose insgesamt unzufrieden. Ob daraus zu schließen ist, daß es vor allem Ostdeutsche nicht verstünden, Arbeitslosigkeit als neue Lebenschance wahrzunehmen und zu nutzen, sei dahingestellt. Beweisbar ist, daß die Angst Arbeitsloser, "ins soziale Abseits zu geraten", im Osten deutlich höher ausgeprägt ist als im Westen (vgl. Grafik 1). Die Steigerungsraten der ostdeutschen Sozialhilfebedürftigkeit können als Beleg dafür genommen werden, daß diese Angst begründet ist.

Grafik 2
Quelle: Institut für deutsche Wirtschaft, iwd 1999, Nr. 7 Köln

Die hauptsächlichste und im Laufe der neunziger Jahre wachsende Sorge der Arbeitslosen in ganz Deutschland ist, daß der soziale Frieden im Lande gefährdet sein könnte (vgl. Arbeitslosenreport '99). Das trifft sich mit anderen Befragungsergebnissen, nach denen Angst vor Kriminalität, Angst vor Drogensucht, Angst vor Zerfall der Familienbeziehungen, Angst vor Rechts-extremismus usw. die dominierenden Ängste und Befürchtungen ausmachen. Nur 50 vH der Westdeutschen und sogar nur 29 vH der Ostdeutschen halten in diesem Zusammenhang die öffentliche Sicherheit für gewährleistet (vgl. Wohlfahrssurvey '98).

In Interviews werden solche Themen meist im Zusammenhang mit Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungsmisere genannt. Die deutsche Statistik liefert leider keine exakten Zahlen über jene jungen Frauen und Männer, die nach erfolgreichem oder nicht erfolgreichem Schulabschluß keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bekommen haben. Bekannt ist aber, daß es bezüglich der registrierten jugendlichen Arbeitslosen gravierende Unterschiede zwischen Ost und West bzw. zwischen den einzelnen Bundesländern gibt. Und das, obwohl die schulischen Leistungen im Osten nachweisbar keineswegs schlechter als im Westen sind (vgl. Grafik 2).

"In Deutschland gibt es keine Armut

... und jeder, der durch das moderne selbstverständliche Gerede von der Armut etwas anderes zu wissen vorgibt, ist wissenschaftlich unglaubwürdig und ein Scharlatan", mit diesem Zitat eines Prof. Walter Krämer verwahrte sich im Sommer 1998 die damalige Bundesregierung gegen zentrale Aussagen des 10. Kinder- und Jugendberichtes. Die in diesem Zusammenhang angeführten Argumente gegen Armutsbegriffe, die in der Sozialwissenschaft üblich sind, waren politisch peinlich und mathematisch falsch4).Von der gegenwärtigen Regierung wird Armut nicht geleugnet. Im jüngsten Bericht an die UNO "zur nationalen Umsetzung der Aktionsplattform der 4. Weltfrauen-konferenz von Peking" vom Juni 1999 ist nachzulesen, daß die Bundesregierung voraussichtlich bis Herbst 2001 einen Armuts- und Reichtumsbericht erarbeiten wird. Auch wenn ein solcher Bericht keine kontinuierliche und regional vergleichbare Statistik ersetzen kann, so ist ihm doch mit Interesse entgegenzusehen, und es ist zu hoffen, daß die mehr politisch als wissenschaftlich geführte Debatte um den Armutsbegriff versachlicht werden kann. Im folgenden wird Armut an Sozialhilfebedürftigkeit gemessen, wohl wissend, daß mit Sozialhilfedaten nicht alle Aspekte des Armutproblems, schon gar nicht die gesamte Lebenslage, zu erfassen sind.

Ende 1997 erhielten in Deutschland 1.638.460 Frauen und 1.280.293 Männer Sozialhilfe im engeren Sinn (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt). Bezogen auf die Wohnbevölkerung bedeutete das eine Quote von 3,5 vH, die allerdings regional stark differiert. So erhielten in Bremen 10,6 vH, in Westberlin 9,3 vH, in Hamburg 8,4 vH, aber in Bayern, Sachsen und Thüringen nur je 2 vH laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. In Ostdeutschland/Ostberlin insgesamt betrug die Quote 2,5 vH. Pro EinwohnerIn wurden in Deutschland 472,28 DM für Sozialhilfe ausgegeben. In Ostdeutschland waren es 295,64 DM (vgl. dazu und zu den folgenden Zahlen: Sozialleistungen...).

Daraus ergibt sich erstens, daß Sozialhilfe (als Armuts-Indiz) - bisher noch - mehr ein westliches als ein östliches Problem ist. Die Zuwachsraten im Osten sind jedoch so, daß eine baldige Angleichung des ostdeutschen Bedarfs an das Westniveau abzusehen ist. So gab es von 1996 zu 1997 in Deutschland eine Steigerung von 6,7 vH bei Frauen und von 7,8 vH bei Männern, aber in Ostdeutschland/Ostberlin eine Steigerung von 24,2 vH bei Frauen und von 23,5 vH bei Männern. Von 1997 zu 1998 konnte in Deutschland insgesamt ein leichter Rückgang (um 0,4 vH) der Sozialhilfebedürftigkeit erreicht werden, der allerdings nur auf die Entwicklung in den meisten alten Ländern zurückzuführen ist. In den neuen Ländern und Ostberlin gab es wieder eine Steigerung um 7,5 vH mit den höchsten Steigerungsraten in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Aus den Zahlen ergibt sich zweitens, daß Sozialhilfe mehr ein städtisches als ein ländliches Problem ist. Die Ursachen für die Stadt-Land-Unterschiede sind letztlich wenig erforscht und haben möglicherweise mit einer höheren Dunkelziffer für verdeckte Armut auf dem Lande zu tun. Vermutet wird, daß die fehlende bzw. geringere Anonymität die Bedürftigen daran hindert, ihr Recht auf staatliche Unterstützung wahrzunehmen. Möglicherweise ist auch der familiäre Zusammenhalt und damit die Solidarität innerhalb der Mikrowelt höher, vielleicht auch der Anteil der "funktionalen Analphabeten", d.h. der Menschen, die nicht in der Lage sind, die bewußt aufgestellten bürokra-tischen Hürden zu überspringen. Über verdeckte Armut kursieren Zahlen die zwischen 30 vH und 300 vH der offiziellen liegen. Der Deutsche Caritasverband geht auf Grund seiner Forschungen von einer etwa hundertprozentigen Rate aus, d. h. zu den knapp drei Millionen registrierten Sozialhilfe-EmpfängerInnen zählt er noch einmal die gleiche Anzahl verdeckt Armer. Die Debatte um Mißbrauch von staatlichen Sozialleistungen wird angesichts des Ausmaßes verdeckter Armut erheblich relativiert. Zugespitzt erscheint eher die Frage berechtigt, ob hier staatlicher Mißbrauch durch unterlassene Sozialleistungen vorliegt.

Aus den Daten ist drittens abzuleiten, daß Sozialhilfe kaum mehr ein weib-liches als ein männliches Problem ist, so daß die These "Armut ist weiblich" im gegenwärtigen Deutschland so pauschal nicht gilt. Hier sind zwei Einschränkungen erforderlich.

Zum ersten ist daraus nicht zu schließen, daß es keine materiellen Benachteiligungen mehr für Frauen gäbe, oder daß tatsächlich gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt würde. Wie überall in der Welt wird auch in Deutschland gesellschaftlich notwendige Arbeit von Frauen geringer bewertet und geringer bezahlt als gesellschaftlich notwendige Arbeit von Männern, ohne daß es dafür eine Berechtigung gäbe. Und wie überall in der Welt verringert sich die gesellschaftliche Achtung für Berufe, sobald diese massenhaft von Frauen ergriffen werden, bzw. erhöht sich die gesellschaftliche Achtung für Berufe, sobald sich Männer massenhaft dafür interessieren, ein Prozeß, der gerade wieder bei der Umstrukturierung des ostdeutschen Bank- und Versicherungswesens nachweisbar ist. An den folgenden Zahlen wird beispielhaft deutlich, daß hinsichtlich der Bruttomonatsverdienste der neunziger Jahre aus anfänglich dominierenden Ost-West-Unterschieden schließlich dominierende Mann-Frau-Unterschiede wurden. Seit 1994 funktioniert, bezogen auf diese empirische Basis, das gesamtdeutsche Patriarchat wieder, wobei weder dem Westmann sein erster noch der Ostfrau ihr letzter Platz streitig gemacht werden.

Tabelle 1

Bruttomonatsverdienste (prod.Gewerbe) von ArbeiterInnen in DM

Jahr Westmann Westfrau Ostmann Ostfrau

  •  

      1992 4.054 2.861 2.478 1.869

      1993 4.140 2.947 2.890 2.122

      1994 4.318 3.072 3.071 2.270

      1995 4.483 3.187 3.256 2.461

      1996 4.519 3.257 3.364 2.594

      1997 4.572 3.313 3.435 2.667

Quelle: Statistische Jahrbücher der Bundesrepublik Deutschland der jeweiligen Jahre

1 Im Frühjahr 1999 meinten 2,9 vH, daß sie der oberen Mittelschicht, und 0,3 vH, daß sie der Oberschicht zuzurechnen sind, vgl. Daten ISS/leben 99 Berlin

2 Mitte November 1989 gingen noch 84 vH der Ostdeutschen davon aus, daß es in Deutschland zwei souveräne Staaten geben müßte, vgl. Daten ISS/leben 89 Berlin

3 Ein Anspruchsniveau, das den mit EU-Mitteln ausgestatteten "Ostforscher" Roethe (1999) dazu inspirierte, den Ostdeutschen, den "nationalbolschewistischen Schafen und Wölfen ... Verschlafenheit, Verlogenheit und Unwilligkeit" zu bescheinigen.

4 Die damalige Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verwahrte sich gegen den auch auf EU-Ebene üblichen Armutsbegriff, der Armut in Haushalten definiert, sobald das Einkommen weniger als 50 vH des Landesdurchschnittes ausmacht. Sie verwahrte sich dagegen mit dem Argument, daß es nach dieser Definition immer Armut geben müßte. Das ist, bezieht man sich auf mathematisch-statistische Grundliteratur, nicht zutreffend, weil die Größe des Mittelwertes nichts über das zugehörige Streuungsmaß aussagt. Aus politischer Sicht ist das Argument allerdings verständlich, denn das Eingeständnis von so definierter Armut führt nahtlos zur Frage nach Reichtum. Wenn es eine ernst zu nehmende Anzahl von Haushalten gibt, die mit weniger als 50 vH des Einkommensdurchschnittes leben müssen, dann muß es auch eine ernst zu nehmende Anzahl von Haushalten geben, die deutlich über dem Durchschnitt liegt.

Zum zweiten ergibt sich ein aufschlußreiches und gleichzeitig beklemmendes Bild (das sich in der Ost-West-Dimension kaum unterscheidet), wenn die Sozialhilfezahlen nach Altersgruppen und Geschlecht differenziert werden (vgl. Grafik 3). Armut ist demnach mehr ein Problem der Jungen als eines der Alten. Es ist hinzuzufügen, daß nach der Statistik von 1998 Haushalte (genauer: "Bedarfsgemeinschaften") mit Personen unter 18 Jahren "nur" durchschnittlich 18,9 Monate zu den Sozialhilfebedürftigen gehörten, während solche Gemeinschaften ohne Kinder im Durchschnitt 30,1 Monate auf staatliche Hilfe angewiesen waren. Die These "Einmal arm - immer arm" muß also gerade für die Gruppe der Kinder nicht unbedingt zutreffend sein. Allerdings gibt es keine Statistik, die aussagt, wie hoch das Risiko des Zurückfallens in Sozialhilfebedürftigkeit ist.

Dennoch gilt in der Grundtendenz: Je jünger, desto höher ist das Sozialhilferisiko. Altersarmut ist gegenwärtig vergleichsweise selten. Deshalb wird in Interviews zur Kinder- und Jugendproblematik gelegentlich betont, daß die jungen ostdeutschen Leute in ihrer Lebensplanung mit der sicheren Rente der Großeltern rechnen. Allerdings ist das Ende dieser Entwicklung bereits abzusehen.

Grafik 3
Quelle: Sozialleistungen 1997 - Fachserie 13, Reihe 2 des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden 1998 und eigene Berechnungen

Nicht nur mit Blick auf die Rentendebatte, auch aus der Arbeitslosenstatistik, insbesondere der Langzeit-Arbeitslosenstatistik geht hervor, daß für die jetzt Vierzig- bis Fünfzigjährigen Altersarmut wieder ein Thema sein wird.

Für Kinder ist das Armutsrisiko etwa doppelt so hoch wie für Erwachsene. Beispielsweise beträgt in Mecklenburg-Vorpommern (als "jüngstes" Bundesland) der Bevölkerungsanteil der unter 18jährigen etwa 23 vH. Der Anteil der unter 18jährigen an den SozialhilfeempfängerInnen liegt mit etwa 45 vH doppelt so hoch. Aus der Analyse solcher und ähnlicher Daten entstand - noch für die alte Bundesrepublik - die These von der "Infantilisierung der Armut" (Hauser). Das moderne Deutschland hätte sich nicht mehr mit einer Feminisierung, sondern mit einer Infantilisierung von Armut auseinanderzusetzen. Das Auseinandersetzen mit diesem Sachverhalt geschieht bis heute einseitig und in alarmierender Weise erwachsenenzentriert. Die Öffentlichkeit nimmt die Fakten zur Kinderarmut (wenn überhaupt) fast nur als Angst vor zukünftiger Kriminalität und Drogensucht oder als Angst vor zukünftigen leeren Rentenkassen wahr. Kinder haben aber nicht nur als zukünftige Erwachsene, sondern auch als Kinder ein "Geburtsrecht, ohne Not und Elend auf der Erde zu leben" (Monique Wittig), d. h. sie haben das Recht, ihren schulischen Alltag, ihre Freizeit, ihre familiären Beziehungen ohne gravierende materielle Einschränkungen (gemessen am deutschen Durchschnitt) zu leben.

An der These von der Infantilisierung der Armut und ihrer politischen und moralischen Brisanz sind auch aus Ostsicht keine Abstriche zu machen. Gleichzeitig ist sie weiter zu denken. Zum einen kann aus der obigen Grafik abgeleitet werden, daß nicht nur Kinder, vor allem Kinder unter 3 Jahren, sondern auch Frauen zwischen 18 und 40 Jahren ein extrem hohes Armutsrisiko tragen. Das heißt, Frauen im gebärfähigen Alter und Kinder, deren Eltern sich im sogenannten Erziehungsurlaub (ein vielfach kritisierter Begriff) befinden, sind besonders armutsgefährdet. Mit anderen Worten, wer tatsächlich auf Erziehungsgeld angewiesen ist, wie beispielsweise wirklich Allein-erziehende, kann davon nicht leben. Die Kinder sind arm, weil ihre Eltern, mehrheitlich ihre Mütter, arm sind. Zum anderen läßt sich aus der Statistik der 15- bis 65jährigen SozialhilfeempfängerInnen, also der EmpfängerInnen im erwerbsfähigen Alter, ableiten, daß sich die Ursachen für Sozialhilfebedürftigkeit in dieser Gruppe zwischen Frauen und Männern gravierend unterscheiden. Von den Männern sind (1997) 54 vH wegen Arbeitslosigkeit und 0,5 vH wegen "häuslicher Bindung", von den Frauen sind 29 vH wegen Arbeitslosigkeit und 25 vH wegen "häuslicher Bindung" auf Sozialhilfe angewiesen. Betrachtet man die Statistik anderer Jahre und die Statistik einzelner Bundesländer, so ergeben sich wenig Abweichungen zu diesen Zahlen. Das heißt, die oft zitierte Behauptung, daß Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Armut sei, gilt nur für Männer uneingeschränkt. Für Frauen ist sie ergänzungsbedürftig. Denn auch bei einem konjunkturellen Aufschwung, auch bei Halbierung der Arbeitslosenzahlen blieb jede vierte Frau von Sozialhilfe abhängig (vgl. Grafik 4).

Denn jede vierte von Sozialhilfe abhängige Frau ist nicht aus konjunkturellen, sondern aus strukturellen Gründen arm. Sie ist arm, weil alles das, was "an das Haus bindet", von der Gesellschaft mißachtet wird, weshalb in der Familiensoziologie von "struktureller Rücksichtslosigkeit des Öffentlichen gegenüber dem Privaten" (Kaufmann) die Rede ist. Mit anderen Worten: Frauen sind arm, weil sie Kinder haben. Das hohe Maß an sogewollter Kinderlosigkeit ist in allen hochentwickelten Industrieländern der individuelle Ausweg aus diesem gesellschaftlichen Dilemma, ein Ausweg, den vor allem hochqualifizierte und politisch aktive Frauen wählen

Grafik 4
Quelle: Sozialleistungen 1997 - Fachserie 13, Reihe 2 des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden 1998 und eigene Berechnungen

Aus Armut der Kinder wird Armut an Kindern und damit ein gesellschaft-liches Problem, das weit über ökonomische Fragestellungen hinausgeht. Bemerkenswert ist, daß dieses Thema - wenn überhaupt - nur aus ethnischer Sicht reflektiert wird, also als Angst, daß es eines Tages in Deutschland zu wenig weiße deutsche Kinder geben könnte. Die mehr qualitative Seite des Dilemmas wird kaum beleuchtet, was vor allem ostdeutschen Frauen auffällt: Was soll aus einer Gesellschaft werden, in der die Kinder überwiegend von Frauen geboren werden, die sich in scheinbar unumstößliche Lebensmuster fügen, während die Unfügsamen, die Frauen mit anspruchsvollen beruflichen Plänen, meist kritische Frauen, meist politisch aktive Frauen ihre Lebensvorstellungen nicht unmittelbar an Kinder weitergeben können?

Um auf das Armutsthema zurückzukommen: Kinder sind arm, weil ihre Mütter arm sind, und Frauen sind arm, weil sie Kinder haben. Schon formal logisch zeigt sich an diesen beiden Thesen, daß es zwar um einen "Ansteckungseffekt" geht, daß die Ursache für die nachweisbare Armut aber tiefer liegen muß. So gesehen ist es wenig hilfreich, von einer Infantilisierung der Armut statt Feminisierung zu reden. Wir meinen vielmehr, daß beide Prozesse im engen Zusammenhang stehen, weil sie eine gemeinsame Ursache haben: die gesellschaftliche Mißachtung privater (Familien-) Arbeit, die selbstverständlich auch Männer trifft, insofern sie in ernst zunehmendem Maße private Arbeit leisten.

An dieser Stelle erhält das Armutsthema wieder eine deutliche Ost-West-Dimension. Obwohl auch unter DDR-Bedingungen berufliche Arbeit, die damals bezeichnenderweise noch nicht Erwerbsarbeit hieß, höher geschätzt wurde als private, obwohl auch die 40 DDR-Jahre die soziale Zweitrangigkeit von Frauen nicht beseitigt haben, war das Maß an struktureller Rücksichtslosigkeit des Öffentlichen gegenüber dem Privaten deutlich geringer als heute. Die Trennwand zwischen öffentlichem und privatem Leben war nicht beseitigt, aber wesentlich durchlässiger als im gegenwärtigen Deutschland. Die bittere Einschätzung von Johanna Mierendorff (1992), daß die Gesellschaft zwar von der mütterlichen, gegebenenfalls auch von der väterlichen Familienarbeit profitiert, aber diese Arbeit wenig unterstützt, galt so nicht für die DDR. Spätestens seit den sechziger Jahren waren die DDR-Betriebe mit ihren gewerkschaftlichen Einrichtungen (betriebliches Mittagessen, Friseur, Verkaufsstellen, Urlaubsangebote, Kinderferienlager, medizinische Versorgung u.a.m.) nicht nur Produktionsorte, sondern auch soziale Orte, was heute vor allem als Indiz für ihr Unmodern-Sein gewertet wird (Mayer u.a., 1996). Mit Blick auf das Armutsthema bzw. auf die gesellschaftliche Achtung privater Arbeit haben jedoch gerade diese sozialen Funktionen der DDR-Öffentlichkeit bis heute wirksame Spuren hinterlassen. Ostdeutsche Frauen und Männer können - nimmt man anonyme Befragungen zum Maßstab - bis heute nicht akzeptieren, daß es eine Errungenschaft sein soll, frei zwischen Familie-Haben bzw. Sich-um-Familie-Kümmern einerseits und Karriere-Machen andererseits wählen zu können. Nicht der Ausgang der Entscheidung sei das Drama, stellt dazu Daniela Dahn fest, sondern die Nötigung zu einer solchen Entscheidung, der Zwang zu einem unmenschlichen Verzicht.

Entsprechend einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ist es genau diese "privatistische Perspektive", also die Unfähigkeit der Ostdeutschen, Privates zu vernachlässigen, die den Transformationsprozeß scheitern ließ (Diewald, 1997). Aus unserer Sicht ist eher zu hoffen, daß sich die ostdeutschen Frauen und Männer diesen ganzheitlichen Lebensanspruch trotz Armutsgefahr und trotz "Modernisierer-Schelte" erhalten, und daß sich dieses ostdeutsche Anspruchsniveau langfristig zum deutschen Anspruchs-niveau entwickelt.

"Zehn Jahre sind genug"

Dies hätte auf einem Transparent gestanden, das kürzlich durch Berlin getragen worden sein soll. Was genau der Demonstrant damit meinte, ist nicht bekannt: genug Zeit zum lernen, genug Zeit, um die Reisefreiheit zu genießen, genug Zeit, um existenzielle Ängste kennenzulernen? Auf jeden Fall scheint er den Jahrestag zum Anlaß genommen zu haben, um ein Resümee zu ziehen.

Das tun die sogenannten Transformationsforscher und -forscherinnen auch. Untersucht wird vor allem, warum die politischen Veränderungen der letzten zehn Jahre in Ostdeutschland nicht das erwartete ökonomische und soziale Ergebnis gebracht haben. Dabei fällt zunächst die unterschiedliche Begrifflichkeit für den Veränderungsprozeß auf.

Die einen nennen den Prozeß Umbruch - im Zusammenhang mit Abbruch und Aufbruch (z. B. Wittich, Thomas). Alles hätte sich für alle geändert. Aus ökonomischer Sicht sei es eine Schocktherapie (Sachs) gewesen, ein "großer Sprung" in den Kapitalismus ohne eigene Kapitalisten, ohne eigenen Finanzsektor und nicht zuletzt ohne geeignete Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen. Die mit Brüchen bzw. Umbrüchen im Zusammenhang stehende Terminologie charakterisiert das Maß und die Geschwindigkeit der Veränderungen zwar angemessen, verstellt aber den Blick für dennoch vorhandene Kontinuitäten. Beispielsweise hat sich im ostdeutschen Bildungswesen durchaus nicht alles für alle geändert. Die relative Stabilität in der ostdeutschen Schule ist bis heute ein kontrovers diskutiertes Thema. Die meisten der jetzt tätigen Lehrkräfte waren schon DDR-Lehrkräfte. Auch in den Amtsstuben hat die preußisch-deutsche Mentalität nicht nur für Wandel, sondern auch für Kontinuität gesorgt. Aus Frauensicht gibt es ebenfalls nicht nur gesellschaftliche und biographische Brüche. Denn Frauen waren auch in der DDR das zweitrangige Geschlecht, weshalb sie in die großen gesellschaft-lichen Aufgaben "einbezogen" werden mußten. Allerdings hatte diese Zweitrangigkeit - wie oben gezeigt - für die Betroffenen andere soziale Konsequenzen als heute.

Die anderen nennen den Prozeß "nachholende Modernisierung" (Zapf). Das Ziel der sogenannten Transformation wird also in einer Anpassung des "zweiten totalitären Staatssystems" oder auch der "maroden ostdeutschen Wirtschaft" oder auch der "traditionalen autoritären Kindererziehung" an modernes Westniveau gesehen. Dabei wird unterstellt, daß ein solches Niveau erstrebenswert und zukunftsträchtig ist. Auch dieses theoretische Umfeld - die Modernisierungstheorie - erweist sich inzwischen als problematisch. Für ostdeutsche Frauen beispielsweise sei eine pauschale Rückständigkeitsannahme nicht tragfähig (Geißler, Schenk), so daß sich die Frage aufdrängt, was eine Theorie wert ist, die für die Mehrheit der Bevölkerung nicht tragfähig ist. Auch im Hinblick auf die Zukunftsträchtigkeit des modernen Westniveaus gibt es inzwischen erhebliche Zweifel. Auf der 10. Tagung der "Sozial-Union" in Berlin im Oktober 1999 wurde deshalb vorgeschlagen, statt von "nachholender Modernisierung" von "vorauseilender Zuspitzung" (Kurz-Scherf) zu sprechen, also davon auszugehen, daß die sozialen Probleme des Ostens Modellcharakter für ganz Deutschland hätten.

Wie der Prozeß auch genannt wird, gegenwärtig wird laut darüber nachgedacht, ob er gelungen ist bzw. warum er nicht gelungen ist. Exemplarisch dazu einige Forschungsergebnisse im Klartext (vgl. Diewald, 1997 oder Wingens, 1999): Die Gesellschaft hätte den Ostdeutschen zu viel "Statussicherheit" gewährleistet, weshalb zu wenig "neue Gelegenheiten der Kompetenz-entfaltung" bestanden. Und gleichzeitig gab es bei Ostdeutschen zu wenig Bemühen um die erforderliche "psychische Infrastruktur". Den Ostdeutschen - und zwar Frauen wie Männern - seien private Bedürfnisse immer noch wichtiger als berufliches Fortkommen, und "Personen mit einer privatistischen Perspektive" hätten nun einmal geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Schon zu DDR-Zeiten hätten sich Ostdeutsche bei ihrer Arbeitsplatzwahl vor allem von privaten Bedürfnissen leiten lassen. Bevorzugt wurden deshalb Arbeitsstellen in Heimatnähe (Remigrationsmotiv), in Nähe des Lebenspartners bzw. der Partnerin (Partnermotiv) und in Betrieben, die Sozialleistungen, z. B. Wohnungen zur Verfügung stellten. Bei so viel Defiziten hilft den Ostdeutschen auch die vor einigen Jahren identifizierte "Chaosqualifikation" nichts, die Stefan Hradil damals noch für zukunftsträchtig hielt, gewissermaßen für aufhebenswert im Hinblick auf das kommende Chaos (Hradil, 1995). Auch die relativ gute, weil der gemeinsamen deutschen Tradition geschuldete Bildung konnte wegen der störenden privatistischen Perspektive nicht in "berufliches Kapital umgemünzt werden".

Andere haben herausgefunden, daß bei den Ostdeutschen immer noch "privat vor Katastrophe" ginge, daß ihnen die Familie immer noch so erstaunlich wichtig sei. Aus Westsicht gilt als unbestritten, daß die Bedeutung der Familie abnimmt, "je wichtiger Selbst- und Mitbestimmung werden; und weil sie in Ostdeutschland weniger wichtig sind, bleibt dort auch die Bedeutung der Familie größer als in Westdeutschland" (Meulemann, 1998).

Mit ostdeutschen Lebenserfahrungen belastet beziehungsweise durch solche Erfahrungen privilegiert, muten diese Forschungsergebnisse schon sehr fremd, beinahe lächerlich an, zumal sie auch in theoretischer Hinsicht nicht überzeugend sind. Nach DDR-soziologischen Erkenntnissen funktioniert eine Gruppe (ein Kollektiv, eine Familie) um so besser und wird um so mehr geachtet und gebraucht, je besser die Chancen des/der einzelnen sind, sich auch in ihrem Rahmen selbst zu verwirklichen. Für ein kompensatorisches Modell zwischen Gruppe und Individuum (je bedeutsamer das eine, desto bedeutungsloser das andere) konnten in den 26 Jahren, in denen es DDR-Soziologie gab, weder empirische noch theoretische Belege gefunden werden. Die statistisch nachweisbaren sinkenden Heiratszahlen und steigenden Scheidungszahlen, die sogenannte gewollte Kinderlosigkeit in allen hochentwickelten Ländern oder die steigende Zahl von neuen Lebensformen (z.B. living apart-together) und ähnliche Fakten können nicht als Beleg für die sinkende Bedeutung von Familie gewertet werden, eher als Beleg für sich wandelnde und anspruchsvollere Familienformen (Bertram) und als Beleg dafür, daß die gegenwärtige Gesellschaft den gestiegenen Anforderungen an Privatheit nicht ausreichend entspricht. Nicht nur aus Ostsicht und auch nicht nur aus Frauensicht ist zu bezweifeln, daß der Mensch mit zunehmender Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeit aufhört, ein Familienwesen zu sein.

Im Jahr 1992 sagte der Schriftsteller Stephan Hermlin: "Ich nehme zur Kenntnis, daß ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind. Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt". Acht Jahre später meinen wir, daß es inzwischen nicht ausreicht, diese Hoffnungen als "unerledigt" zu konservieren, sondern daß es hohe Zeit wird, mit den Erfahrungen eines gescheiterten alternativen Gesellschaftsversuchs und nun auch noch mit den Erfahrungen eines gescheiterten oder halb gescheiterten Transformationsprozesses nach neuen Wegen zur Erfüllung dieser Hoffnungen zu suchen. Um auf das Gutachten des Sachverständigenrates zurückzukommen, wir sehen Deutschland in gesamtsozialer Hinsicht durchaus nicht auf dem richtigen Weg. Die gegenwärtig etablierte Politik vermittelt - relativ unabhängig davon welche Partei sich jeweils an der Macht befindet - mit ihrer "strukturellen Rücksichtslosigkeit des Öffentlichen gegenüber dem Privaten", mit ihrer gnadenlosen Dominanz des Ökonomischen und zunehmend des Militärischen, mit ihrer Umverteilungspolitik von unten nach oben für die Mehrheit der Bevölkerung keine Zukunftshoffnungen. Aber wir wissen auch, daß "Zukunft keineswegs Sachzwängen unterliegt, sondern prinzipiell erfunden und gestaltet werden kann" (Zimmermann, 1998).

Ostdeutsche haben Grund genug, an der Erfindung und Gestaltung von Zukunft selbstbewußt und hartnäckig mitzuwirken. Sie haben das Privileg, die Unterschiede zwischen einem sozialistischen und einem kapitalistischen Patriarchat zu kennen und von diesem "hohen Niveau" aus weiterdenken zu können. Sie sind im ganzheitlichen Denken geübter als Westdeutsche, unter anderem, weil sie in einer geschlossenen Gesellschaft1) gelebt haben und deshalb mit der "Geschlossenheit der Erde", mit der Begrenztheit ihrer Ressourcen schon Erfahrungen haben. Sie haben nicht nur autoritäre Ansprüche, politische Arroganz und Bevormundungen erlebt, sondern auch deren Grenzen und deren Veränderbarkeit (Meyer, 1997). Insofern hat auch Deutschland Grund genug, das Wissen und die Lebensansprüche der Ostdeutschen ernst zu nehmen.

Literatur:

- Aktuelle Daten vom Arbeitsmarkt in Ostdeutschland. Stand Januar 2000, IAB-werkstattberichte, Nürnberg

- ALLBUS, seit 1992, SPSS-Datei in ISDA-Verwaltung, selbst ausgewertet. Der ALLBUS ist ein von Bund und Ländern über GESIS finanziertes Projekt, das bei ZUMA Mannheim und beim Zentralarchiv für empirische Sozialforschung Köln realisiert wird.

- Arbeitslosenreport '99, Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg, Berlin

- Diewald, M. 1997, Aufbruch oder Entmutigung? Kompetenzentfaltung, Kompetenzentwertung und subjektive Kontrolle in den neuen Bundesländern. Arbeitsbericht 5/1997, Projekt "Ostdeutsche Lebensverläufe im Transformationsprozeß", Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

- Hradil, S., 1995, Die Modernisierung des Denkens. Zukunftspotentiale und "Altlasten" in Ostdeutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/95, Bonn

- Mayer, K. U., Diewald, M., 1996, Kollektiv und Eigensinn: Die Geschichte der DDR und die Lebensverläufe ihrer Bürger. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46/96, Bonn

- Meulemann, H., 1998, Geht immer noch "Privat vor Katastrophe"? In: Soziale Welt, Heft 3, München

- Meyer, G., 1997, Zwischen Haben und Sein. Psychische Aspekte des Transformationsprozesses in postkommunistischen Gesellschaften. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 5/97, Bonn

- Mierendorff, J., 1992, Kindheitsverläufe, familiale und außerfamiliale Bedingungen in den Entscheidungen für Betreuungsformen und die Nutzung von Kinderfreizeiteinrichtungen, Berlin

- Schorlemmer, F., 1994, Nichts macht so müde wie das, was wir nicht tun. In: Politiklust, Hrsg. Gabriele von Arnim, München

- Sozialleistungen 1997 - Fachserie 13, Reihe 2 des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden 1998

- Wingens, M., 1999, "Der gelernte DDR-Bürger": biographischer Modernisierungsrückstand als Transformationsblockade? In: Soziale Welt, Heft 3, München

- Winkler, G. (Hrsg.) 1999, Sozialreport 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin

- Zimmermann, A., 1998, Lernen zur Erfindung von Zukünften. Eine Zuspitzung. In: quem-report Nr. 52, Berlin

1 Aus einem von der Autorin geführten Interview 1995 "Wenn es in der DDR eine Mißernte gab, dann wirkte sich das auf die Ersatzteilbeschaffung für mein Auto aus. Deshalb interessierte ich mich schon sehr für das Erntewetter, und es war ja auch einzusehen, daß für die knappen Devisen eher Getreide als Autoersatzteile gekauft werden mußten."