Zweifel am ''ostdeutschen'' Rechtsextremismus

Es bedurfte der erschreckenden Zahl von über 100 Toten in rund zehn Jahren rassistischer Gewalt, ehe eine bislang einzigartige mediale Kampagne gegen den Rechtsextremismus losbrach.

Es bedurfte der erschreckenden Zahl von über 100 Toten1 in rund zehn Jahren rassistischer oder ausländerfeindlicher Gewalt, ehe im Sommer dieses Jahres eine bislang einzigartige mediale Kampagne gegen den Rechtsextremismus losbrach. Was die Brandanschläge von Solingen und Lübeck nicht vermochten, nämlich nicht nur Lichterketten, sondern auch eine öffentliche Debatte über Konsequenzen zu entzünden, schafften die rechtsextremen Totschläger von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt im Handumdrehen. Wobei man das landesweite Entsetzen heilsam und das gegenseitige Hochpuschen von Medien und Politik ausnahmesweise einmal positiv finden könnte, wenn nicht gleichzeitig sichtbar geworden wäre, wie wenig die Gesellschaft über sich selbst nachzudenken in der Lage ist und wie sehr die Gesetze der ,,Mediengesellschaft" dies zusätzlich unterbinden, weil sie die Bearbeitung eines jeden gesellschaftlichen Problems den Bedingungen ihrer Produktion unterwerfen. Den Erwartungen der Medien nach schneller, kurzer, möglichst spektakulärer und dann auch noch praktischer Stellungnahme beugen sich mittlerweile alle öffentlichen Institutionen, von den Parteien über die Verbände bis hin zum akademischen Sonderseitenjournalismus. Drei vier Kernsätze, leicht zitierbar - bitte keine tiefschürfenden Abhandlungen -, mehr ist nicht drin, so lange das Thema noch heiß und die nächste Werbepause bereits nah ist.

Doch neben Schnelligkeit und Oberflächlichkeit zeichnet sich der mediale Diskurs in solchen Situationen auch noch durch eine gewisse Tendenz zur Kartellbildung aus. Das mediale Kurzzeitgedächtnis verarbeitet zwei bis drei Meinungsvarianten, selten mehr und noch seltener Zwischentöne. All zu schnell wurde der Rechtsextremismus deshalb als Spätfolge der ,,SED-Diktatur" entsorgt, während sich die Konsequenzen auf eine lasche Verbotskampagne gegenüber der NPD und einen hilflosen Appell zum ,,Aufstand der Anständigen" beschränkten.

Bilder ersetzen Nachrichten - Nachrichten werden Bilder

Indessen steigerten sich die sommerlichen Exzesse bis in den Herbst hinein, als wäre keine öffentliche Aufforderung zum Nachdenken, sondern zum Nachmachen ergangen. Offenbar liegt es im Wesen der ,,Mediengesellschaft" und in ihrer Konzentration auf die bildhafte Symbolik, dass sie die rechte Szene zu weiteren Symbolhandlungen provozierte: Umgestürzte Grabsteine, beschmierte Synagogen und immer wieder Brandsätze, die sich wie ein Bildteppich durch die Tagesschau zogen. Symbolisches Handeln überwiegt freilich auch auf der Gegenseite. Nicht nur in den Parolen von Zivilcourage oder dem ,,Aufstand der Anständigen", sondern auch in den Bildern: Bundestagspräsident Thierse besucht mit Kipa-bedecktem Kopf eine Synagoge, Bundeskanzler Schröder zupft entschlossen die Schleife am Blumengebinde für einen ermordeten Asylbewerber zurecht, und jeder ,,anständige" Politiker, gleich wie unanständig er in der Vergangenheit über Asylmißbrauch oder Einwanderungsstopp geredet hatte, organisiert sich seinen eigenen Fototermin mit Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde.

Wo aus Bildern Nachrichten werden und Nachrichten fast nur noch als Bilder rüberkommen können, ist die Verfestigung von Stereotypen unvermeidbar. Das Wesen des Rechtsextremismus reduziert sich dann auf kahle Schädel und Springerstiefel, auf Bomberjackenträger vor DDR-Plattenbauten und andere Trostlosigkeiten. Die Sucht nach Bildern, die angeblich mehr als tausend Worte sagen, machte den Osten fast zwangsläufig zur optischen Fundgrube entsprechender Sujets, denn nirgendwo inszeniert sich der Rechtsextremismus offener, provozierender und aggressiver als hier. Nicht zuletzt deshalb, weil die bayerischen Kameraden ihre Wochenenden inzwischen bevorzugt in Thüringen und die aus Norddeutschland in Sachsen-Anhalt oder nahe der Ostsee verbringen. Und dies gilt aus eben diesen Gründen auch für westdeutsche Antifaschisten. Ungewollt trägt deshalb sogar noch der Widerstand dazu bei, den Rechtsextremismus zu einer Angelegenheit der neuen Länder zu machen.

Wobei kaum zur Kenntnis genommen wird, dass die Bilderflut in einem eigenartigen Widerspruch zur Datenlage steht. ,,Nach einer aktuellen Statistik des Bundesinnenministeriums liegen bei den fremdenfeindlichen Straftaten pro Einwohner zunächst einmal vier Altländer an der Spitze: Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Nordrhein-Westfalen."2 Ebenso wenig möchten sich die meisten Kommentatoren daran erinnern, dass der ostdeutsche Rechtsextremismus ein westdeutscher Exportartikel ist, der schon produziert wurde, als es noch den ,,antifaschistischen Schutzwall" gab. Ein Paradox übrigens, dass sich die ebenso falsche wie groteske Bezeichnung der DDR-Grenzanlagen nachträglich zu rechtfertigen scheint, denn mit dem Fall der Mauer gehörten die Neofaschisten zu den ersten, die auf der nationalen Welle zu surfen versuchten und bei den Leipziger Demos mitmischten.

Unbegreifliches im unverstandenen Osten

Hinter der Neigung, die Ursachen des Rechtsextremismus im Osten zu verorten, verbirgt sich wahrscheinlich ein gerütteltes Maß an unbewältigter Vergangenheit. Der unbewältigte Faschismus spielt hier eine ebenso wichtige Rolle wie die deutsch-deutschen Mißverständnisse vor und nach dem Fall der Mauer. Wie seit Jahrzehnten will die westdeutsche Gesellschaft sich nicht der Tatsache stellen, dass der Faschismus in der Mitte der Gesellschaft entsteht und nicht von außen in sie hineingetragen wird. Der Historikerstreit machte den nationalsozialistischen Terror zu einer Folge des Stalinismus, und die Politik behandelte ihn immer schon als das Werk einer Handvoll von Verbrechern. Was lag näher, als an diese Tradition anzuknüpfen? Einmal natürlich, weil es auch sonst so gut wie kein Problem der neuen Länder gibt, das nicht den ,,Erblasten der DDR" zugeschrieben wird und zum anderen, weil das westdeutsche Alltagsbewußtsein den Osten um so weniger begreift, je länger die ,,blühenden Landschaften" ausbleiben. Der unbegriffene Osten scheint geradezu prädestiniert für ein Phänomen wie den Rechtsextremismus, weil er den ,,anständigen Menschen" ebenso unverständlich ist, wie so manches andere zwischen Elbe und Oder. Die westdeutsche Ostsicht ist von einem Grauschleier überzogen, der nicht nur durch triste Plattenbausiedlungen und trostlose Industriebrachen verursacht wird, sondern auch durch das Grauen, das seit Jahren aus Gaucks Stasiakten sickert.

Auch die umstandslose Gleichsetzung des SED-Regimes mit der NS-Diktatur hat wahrscheinlich größeren und anhaltenderen Schaden angerichtet, als man sich heute eingestehen mag. Zum einen, weil sie die Biografien von Millionen Menschen entwertet hat, und zum anderen, weil sie jedes Anderssein der Ostdeutschen ideologisierte und den berühmten ,,Erblasten" zurechnete. Sekundiert von ostdeutschen Schuldbekennern, die nicht müde werden, ihren Landsleuten Modernisierungsrückstände, Autoritäts- und Staatshörigkeit wie auch emotionale Defekte nachzusagen, wurde ein fruchtbarer Boden zum scheinbaren Begreifen des Unbegreiflichen geschaffen: Die westdeutsche Zivilgesellschaft scheint ostwärts von den ideologischen, emotionalen und demokratieuntauglichen Nachlassenschaften des SED-Regimes bedroht. Wen wundert es, dass aus diesem Schoß nun auch noch der Faschismus schlüpft?

Hier kommt alles zusammen: Die Rechtfertigung des Hitlerfaschismus durch den Stalinismus, die Gleichsetzung von Rechts und Links, die kleinbürgerliche Angst vor den proletarischen Underdogs und die letztlich befreiende Gelegenheit, nun auch noch den Neofaschismus den abgetretenen Kommunisten in die Schuhe zu schieben. Nichts daran ist wirklich neu, aber es ist schon außerordentlich faszinierend, wie die ideologischen Versatzstücke des Kalten Krieges auch heute noch genutzt werden können, um das Wiederauftauchen des Faschismus nicht als eigenes, sondern als äußeres Problem abzutun.

Die sich sogar noch vertiefende Fremdheit des Ostens scheint ein fruchtbarer Nährboden. Denn wo die scheinbaren Erfolgsrezepte der alten BRD versagen und eine ,,Nachfolgepartei der SED" das gewohnte Parteienspektrum durcheinander wirbelt, sieht der Normalbürger auch Platz für andere Unbegreiflichkeiten.

Pädagogische Totalitarismustheorie

Ein beliebtes Erklärungsmuster für die scheinbare Neigung ostdeutscher Jugendlicher zum Rechtsextremismus liefert ihre angeblich autoritäre Sozialisation.3 Wobei zuweilen sogar unterstellt wird, dass die DDR-Jugend im kulturellen Milieu des Faschismus aufwuchs. So schreiben Hajo Funke und Lars Rensmann: ,,Die gerade im Osten tiefgestaffelten Mentalitäten von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entspringen hierbei auch dem politisch-kulturellen Horizont einer autoritären DDR-Gesellschaft, die kulturelle Identitätsangebote, soziale Codes und politische Sozialisationsformen des Nationalsozialismus partiell konservierte."4 Überhaupt halten sich viele Autoren, die den ostdeutschen Rechtsextremismus der DDR anlasten und dabei auf scheinbare Parallelen zwischen Faschismus und Realsozialismus hinweisen, mit kulturellen Äußerlichkeiten wie etwa Massenaufmärschen und kollektivistischen Erziehungsstilen auf. Sie unterstellen, dass es sich dabei ausschließlich um Momente faschistischer oder stalinistischer Herrschaft handelt, ohne zu erkennen, dass diese kulturellen Formen und Sozialisationsmechanismen sämtlichen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts eigen waren. Ob monarchistisch, klerikal, sozialdemokratisch oder kommunistisch, das 20. Jahrhundert war eine Etappe militärisch-autoritärer Massenorganisationen. Ob britische Pfadfinder, faschistische Pimpfe oder sowjetische Komsomolzen und deutsche Falken, rein äußerlich betrachtet findet sich bis in die späten 60er Jahre hinein überall ein Hang zur Massensymbolik.

Abgesehen davon, dass sich hinter der kulturell äußerlichen Gleichsetzung von Faschismus und Staatssozialismus eine ebenso fatale wie peinliche Verharmlosung der nationalsozialistischen Kultur verbirgt, übersieht sie gleichzeitig die Kontinuitäten der alten Bundesrepublik. Bekanntlich ließen sich die ,,sozialen Codes" der faschistischen Eliten in den ,,politisch-kulturellen Horizont" Westdeutschlands außerordentlich wirksam einpassen. Beim Aufbau des bundesdeutschen Staatsapparates wirkten 21 Minister und Staatssekretäre, 100 Generale und Admiräle der Bundeswehr, 828 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter, 245 leitende Beamte des Auswärtigen Amtes, der Botschaften und Konsulate sowie 297 hohe Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes mit, die faschistische Hoheitsträger gewesen waren. Nicht zu vergessen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger und Bundespräsident Heinrich Lübke, der eine als bekennender Nationalsozialist, der andere als Architekt von Zwangsarbeiterlagern.

In der DDR mag der Antifaschismus all zu sehr auf den kommunistischen Widerstand reduziert und auch ritualisiert worden sein, aber er gehörte zur Staatsdoktrin, während es im Westen über zwei Jahrzehnte dauerte, ehe die faschistischen Verstrickungen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt und der Emigrant Willy Brandt Bundeskanzler werden konnte. Heute ist es Mode geworden, den Antifaschismus der DDR als einen verordneten abzutun, aber die ästhetische Aufarbeitung des Faschismus, wie übrigens auch die Kritik am Fortwirken seiner Mentalitäten in der Sowjetischen Besatzungszone, gehören zum Besten der DDR-Kulturproduktion. Auf dem Verordnungswege konnten Filme wie ,,Jacob der Lügner" oder Kants ,,Aufenthalt" weder entstehen noch Wirkung zeigen. Richtig ist auch, dass der Antifaschismus der DDR für den Kalten Krieg instrumentalisiert wurde, aber er hat eindeutige antifaschistische Haltungen hinterlassen. ,,Inzwischen haben mehrere Studien belegt, dass rassistische und neofaschistische Einstellungen in Ostdeutschland signifikant geringer sind als im Westen. EMNID ermittelte zum Beispiel 1991, wie viele Personen mit ausgeprägt antisemitischen Haltungen es in beiden Teilen gibt: Ex-DDR 4 Prozent, alte Bundesländer 16 Prozent."5

Bei aller berechtigten Kritik an der Instrumentalisierung des Antifaschismus für die Zwecke des SED-Regimes wird leicht vergessen, dass auch die BRD ihren verordneten und instrumentalisierten Antifaschismus hatte, wie etwa die Heroisierung der Wehrmachtsoffiziere des 20. Juli 1944, bei denen geflissentlich übersehen wurde, auf welcher Seite die meisten davon 1933 gestanden hatten. Was im Westen ansonsten verordnet wurde, war ein Antikommunismus, den Thomas Mann schon deshalb eine Grundtorheit des 20. Jahrhunderts nannte, weil er mit dem Kommunismus zugleich auch noch den antifaschistischen Widerstand verteufelte. Bestes Beispiel dafür ist, dass die Bundesregierung in den 50er Jahren, in der Zeit heftigsten Antikommunismus, ,,beim Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, einem früheren SA- und NSDAP-Mitglied, die Vereinigung der Naziopfer" zu verbieten beantragte.6

Mit einigem Abstand lassen sich heute in der Geschichte beider deutscher Teilstaaten defizitäre Beschäftigungen mit dem Faschismus ausmachen. Eine gründlichere öffentliche Aufarbeitung der Momente faschistischer Herrschaft bewerkstelligte im Westen bestenfalls die 68er Bewegung, nicht aber die Gesellschaft an sich. Was die westdeutsche Aufarbeitung des Faschismus der DDR voraus hatte, gehörte durchweg nicht zum gesellschaftlichen mainstream, während der mangelhafte Antifaschismus der DDR nicht nur zur Staatsdoktrin, sondern gerade auch zum Alltagsbewußtsein gehörte.

Kinder der DDR oder Kinder der Wende?

Aber selbst wenn man der pädagogischen Totalitarismustheorie glauben sollte und einen kausalen Zusammenhang zwischen Pionierlagern oder FDJ-Fanfarenzügen und rechtsextremer Gesinnung konstruiert, taugen die Erklärungsmuster nicht zum Begreifen des Rechtsextremismus in den neuen Ländern. Die jugendlichen Gewalttäter haben die DDR überwiegend im Kindergarten erfahren, während sich politische Haltungen und Wertsysteme im Alter zwischen 10 und 14 Jahren entwickeln.7 ,,Wer 1980 und danach geboren ist, und das sind etwa siebzig Prozent der rechtsextremen Gewalttäter, durchlebte diese Phasen der Persönlichkeitsentwicklung in den ostdeutschen Umbruchjahren nach 1991."8 Die rechtsextremen Jugendlichen Ostdeutschlands sind keine Kinder der DDR, sondern, soweit es um ihre politische Prägung geht, sind sie Opfer eines politischen Vakuums, der sozialen Auflösung und eines allgemeinen Verlusts alltagsnaher Vorbilder. Die Wende hat sie im Zustand der Unmündigkeit in eine Gesellschaft gestoßen, deren aggressiven Leitbildern und sozialdarwinistischen Verhaltensmaximen sie sich unmöglich entziehen konnten, weil sie weder im Elternhaus noch in der Schule an tradierten Werten Halt finden konnten.

So kommt die oben zitierte Studie aus Sachsen-Anhalt zu dem Schluß, dass sich die jungen Rechten weit überdurchschnittlich von ihren Lehrern nicht verstanden fühlen, Konflikte mit dem Elternhaus haben und wesentlich stärker als ihre Altersgenossen über mangelnde Freizeitmöglichkeiten klagen. Am stärksten überproportioniert ist ihre Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation, was um so mehr ins Gewicht fällt, als die jungen Rechten, wiederum stärker als der Durchschnitt, ihrer persönlichen Karriere einen hohen Stellenwert einräumen. Ebenso übrigens ideellen Werten und Tugenden, was auf einen erheblichen Mangel an beidem schließen läßt. Diesem Mix aus Konflikten mit Elternhaus und Schule, gepaart mit einer sinnlosen Freizeit und dem frustrierenden Widerspruch zwischen Karriereorientierung und beruflicher Unzufriedenheit, versuchen die rechtsorientierten Jugendlichen in einem erschreckenden Maße durch Alkohol- und Drogenkonsum zu entkommen. Der auffälligste Unterschied zwischen rechtsextremen Jugendlichen und ihren Altersgenossen besteht deshalb in ihrer enormen Suchtabhängigkeit.

Man muß keine weitergehenden Studien betreiben, um einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen dem Wertevakuum der Nachwendezeit und der sozialen Psyche dieser Jugendlichen zu erkennen. Die Konflikte mit Eltern und Lehrern scheinen normal, müssen aber vor dem psychischen Hintergrund dieser Autoritäten interpretiert werden. Deren Vorbildwirkung schwand nämlich nicht im gleichen Maße, wie sie für Jugendliche schon immer in diesem Alter geschwunden ist, sondern sie verkehrte sich ins Gegenteil. Nach der Wende wurde Millionen von ihnen erst die berufliche Lebensgrundlage entzogen und dann auch noch die Lebensleistung öffentlich herabgewürdigt, so dass vielen Eltern sowohl die materiellen als auch die ideellen Ressourcen für eine orientierende Vorbildrolle abhanden kamen. Sie waren plötzlich keine Autoritäten mehr, sondern wurden zu Sinnbildern des Scheiterns und der Ausweglosigkeit, wenn sie nicht bereits als Wendehälse an Glaubwürdigkeit einbüßten.

War der kulturelle und soziale Bruch nach ´89 schon für viele Erwachsene schwer zu verkraften, so muß er bei manchen Kindern der Wendezeit zu dramatischen Orientierungsproblemen geführt haben. Allein gelassen inmitten der sie umgebenden materiellen und ideellen Trümmer entwickelten sie zwangsläufig ein übersteigertes Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und Sinngebungen, das sich nur durch starke Reize befriedigen oder durch Überkompensation verdrängen ließ. Natürlich folgt daraus keine Notwendigkeit zur Annahme rechtsextremer Orientierung, aber sie war eine der wenigen möglichen Individualitätsformen, die sich entwurzelte ostdeutsche Jugendliche in dieser Situation aneignen konnten, um der Orientierungslosigkeit und Sinnkrise ihrer Alltagswelt zu entkommen.

Der Rechtsextremismus verbindet starke Reize mit sozialem Zusammenhalt, ist mit Werten verbunden, die nicht nur rechts formuliert werden und erlaubt die historische Einordnung der eigenen Nöte in eine Art Schicksalsgemeinschaft. Letzteres wurde in der Nachwendezeit kaum von anderen soziokulturellen Milieus angeboten. Die Linke stand vor einem Scherbenhaufen ihrer historischen Identität, die Bürgerbewegung bot ein Bild der Auflösung, und die neue Gesellschaftsordnung präsentierte sich ebenso unübersichtlich wie geschichtslos. Das Bedürfnis nach historischer Identität scheint in Sinn- und Orientierungskrisen eine ebenso große Rolle zu spielen wie die Suche nach Wahrhaftigkeit. Und dieses Bedürfnis befriedigt sich nicht nur in nationalen, sondern ebenso in religiösen, rassischen oder ethnischen Gewändern, wie sich in unzähligen Krisenregionen anhand der unterschiedlichen Ausprägung fundamentalistischer Strömungen beobachten lässt. Im Kern sind solche Bewegungen regelmäßig in soziale und ökonomische Umbrüche eingebunden, also durchaus mit den Verwerfungen der Wendezeit zu vergleichen. Es würde zu weit führen, hier zu erörtern, weshalb derartige Umbrüche gegenwärtig sehr viel seltener sozialrevolutionäre und emanzipatorische Bewegungen hervorbringen. Für die Entwicklung einer rechtsextremen Jugendkultur in Ostdeutschland gibt es allerdings eine ganze Reihe einsichtiger Gründe - und kaum einer davon hat etwas mit dem gesellschaftlichen System der DDR zu tun.

Rechte Bauernfänger mit linken Parolen

Unabhängig davon, dass sich natürlich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nichts Neues entwickelt, was nicht auf die eine oder andere Weise durch deren gesellschaftlichen Charakter geprägt ist, hat der ostdeutsche Rechtsextremismus typisch deutsche und insbesondere westdeutsche Wurzeln. Erstens wird sich faschistisches Gedankengut in Deutschland trotz aller antifaschistischen Aufklärung noch sehr viel länger halten, als es uns lieb sein mag, weil es in das gesellschaftliche Bewußtsein eingeschrieben ist und sich durch den Rückgriff auf historische Metaphern jederzeit erneuern kann. Zweitens läßt sich bis ins Detail nachweisen, wie die neofaschistischen Kader der alten Bundesrepublik die rechtsextreme Szene der neuen Bundesländer systematisch entwickelt haben. Und drittens geschah dies alles auf einer sozialökonomischen Basis, die einerseits durch den Transformationsprozeß und andererseits durch die Realität der gegenwärtigen kapitalistischen Modernisierung geprägt ist.

Der jugendliche Rechtsextremismus in den neuen Ländern ist kein spontanes Produkt, sondern eine Art Freilandversuch der neuen Strategien, die im geistigen und organisatorischen Umfeld der NPD entwickelt wurden. Sie lehnen sich an Überlegungen der 68er Bewegung an, zielen auf kulturelle Hegemonie, auf Formen gesellschaftlicher Gegenmacht und profilieren sich sozialrevolutionär. Nicht umsonst gehören ehemalige APO-Aktivisten wie Horst Mahler oder der frühere SDS-Theoretiker Reinhold Oberlercher zu den Vordenkern dieser Strategie.9 Dabei knüpft man unmittelbar an aktuelle linke Diskussionen an, kritisiert den ,,Globalisierungskurs" der Neoliberalen und das nackte Nützlichkeitsdenken des Kapitalismus. Das Primat der Politik über die Ökonomie wird ebenso gefordert, wie die Orientierung wirtschaftlichen Handelns am Gemeinwohl.10 Die neue Rechte nimmt Anleihen beim linken Antikapitalismus auf, bis dahin, dass sie sich Parolen der MLPD zu eigen macht und massenhaft Aufkleber mit den Slogans ,,Arbeit statt Profite" oder ,,Arbeit für Millionen statt Profite für Millionäre" verbreitet. Mit Zynismus stellen die neuen National-Sozialisten bereits fest: ,,Die ,Linke` läuft nur noch unseren Aktionen hinterher, ist unfähig, eigene Akzente zu setzen, und reagiert nur noch auf unsere Vorgaben."11. Und tatsächlich ist es ein nicht unbedenkliches Problem, wenn junge Linke ihren Schwerpunkt auf den Antifaschismus legen, während junge Faschisten ihren Schwerpunkt zum Antikapitalismus hin verlagern. Und auch mit diesem Vakuum wissen die neo-nationalsozialistischen Vordenker umzugehen. ,,Marxisten-Leninisten" gelten ihnen als ,,wertvollste Mitkämpfer, ... wenn sie den Sozialismus als Volksgemeinschaft verstehen".12

Zwar dürfte es sich bei den jungen Rechten ebenso wenig um ,,Marxisten-Leninisten" handeln wie überhaupt um Linke. Tatsache ist aber, dass sie sich im blinden Haß gegen alles Fremde über ihre eigene Entfremdung empören und deshalb offen für Ideen sozialer Gerechtigkeit sind. Es muß einen auch nicht wundern, wenn sich antikapitalistische Motive so nahtlos mit nationalsozialistischem Gedankengut und Terror verbinden lassen. Zum einen ist der Antikapitalismus nicht von sich aus bereits links, sondern die Linke gründet sich in erster Linie auf humanistisch-emanzipatorische Prinzipien. Wo diese fehlen, mündet jeder Antikapitalismus in Terror oder Diktatur, ganz gleich ob er sich nationalistisch, religiös oder anders gewandet. Zum anderen kämpft jede spontane Revolte mit den Waffen und in der Logik ihrer Gegner. Auch Friedrich Schorlemmer erblickt in den Gewaltexessen der rechtsextremen Schläger ,,das implizite Lebensprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, demzufolge der Stärkere sich durchsetzt und der Schwächere verliert. Rechtsextreme exekutieren einen Primitiv-Darwinismus. Besonders Jugendliche, die orientierungs- und haltlos, arbeits- und ziellos geworden sind, beweisen sich auf diese Weise."13

Hinzu kommt, dass wir es gegenwärtig mit einer Kapitalismusvariante zu tun haben, die gerade in den entwickeltsten Ländern zu einer bisher nie gekannten Barbarei führt. Sinnlose Gewalt von Jugendlichen und gar Kindern nimmt auch in völlig unpolitischen Milieus zu und wird oft genug erst nachträglich ideologisch begründet. So schreibt der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg: ,,Die Fixierung der öffentlichen Debatte auf ,rechtsextreme Gewalt` verstellt den Blick darauf, dass sich in den letzten Jahren ein neuer Gewalttypus ausgebildet hat, der auf jede ideologische Legitimation verzichtet, gewissermaßen ,rein` ist und sich tendenziell gegen jeden und alles wendet. ... Die unangenehme Wahrheit, die von der gegenwärtigen Rechtsextremismusdebatte überdeckt wird, besteht darin, dass die Gesellschaft die Kinder und Jugendlichen bekommt, die ihrem unwirtlichen Schoß entspringen und die sie verdient. Sie stürzen aus dem Mutterleib unvermittelt in die Gesellschaft des entfesselten Marktes und entwickeln nur noch deren psychische Korrelatformen."14

Unter jungen Antifaschisten sind Argumente über die sozial-ökonomischen Wurzeln des neuen Nationalsozialismus nicht besonders beliebt, weil sie dem Eindruck der Entschuldigung erwecken und die ideologische Nähe zu bestimmten Parolen der Linken wird als bloßes Tarnungsmanöver abgetan. Die berechtigte Empörung über die brutalen Gewaltexzesse, den Ausländerhaß und Antisemitismus sollte aber nicht blind dafür machen, was Brecht schon über die faschistischen Totschläger wußte, dass man nämlich erst Opfer werden muß, um Täter werden zu können. Man muß es ernst nehmen, dass die Gewalttätigkeiten und das offene Bekenntnis zum faschistischen Terror aus gesellschaftlichen Frustrationen, aus Entfremdung und einem diffusen Gefühl der Ausbeutung entstehen, das sich nicht durch Aufklärung über die Inhumanität des Faschismus, sondern nur durch ein tieferes Verstehen des Kapitalismus und seine praktische Verquickung mit der nationalsozialistischen Machtergreifung aufheben läßt.

1 Die Angaben stützen sich auf eine in der Frankfurter Rundschau vom 14.9.00 veröffentlichte Dokumentation.

2 Thomas Abbe, Wilde Zucht der Muttermale, Freitag vom 4.8.2000.

3 Vgl. Thesenpapier ,,Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit", J. C. Behrends u.a., ZZF Potsdam/Projektgruppe ,,Herrschaft und Eigensinn".

4 Hajo Funke, Lars Rensmann, Kinder der Einheit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2000, S. 1069f.

5 Daniela Dahn, ,,Westwärts und nicht vergessen", Berlin 1999, S. 58.

6 Ebd., S. 57.

7 Eine Studie von FOCUS - Forschungsstelle für Konflikt- und Sozialstudien e.V. über ,,Werte und Einstellungen rechtsextrem orientierter Schülerinnen und Schüler in Sachsen-Anhalt" weist eine hochsignifikante Konzentration rechtsextremer Jugendlicher in der Altersgruppe zwischen 15 und 17 Jahren aus, während rechtsextreme Haltungen in den Altersgruppen unter 14 und über 18 Jahre unterdurchschnittlich vertreten sind.

8 Thomas Abbe, ,,Wilde Zucht der Muttermale", in: Freitag vom 4.8.2000.

9 Vgl. dazu: Jean Cremet, Die NPD - eine ,,Partei neuen Typs?", Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2000, S. 1079f.

10 Reinhold Oberlercher, Entwurf einer neuen Volkswirtschaft, in: Staatsbriefe 2/1997.

11 ,,Aula", September 1998, S.15f.

12 Aus einem Strategiepapier des NPD-Parteivorstandes, zitiert nach Jean Cremet, a.a.O, S. 1081.

13 Friedrich Schorlemmer, "Mordslust", in: Freitag vom 1.9.2000.

14 Götz Eisenberg, ,,Gewalt, die aus der Kälte kommt", in: Frankfurter Rundschau vom 8.9.2000.