Marginalisierung als Folge sozialräumlichen Wandels in der Großstadt

Marginalisierung und Wandel der Großstadt

Es findet gegenwärtig ein sozialer Erosionsprozeß statt, der sich in einer räumlichen Konzentration von Haushalten bemerkbar macht, die von staatlichen Transfers abhängig sind.

1. Marginalisierung und Wandel der Großstadt

Exklusion oder ‚Ausgrenzung‘ sind Begriffe, mit denen seit einigen Jahren neue Formen von Ungleichheit in den Großstädten bezeichnet werden. Gegennüber den traditionellen Formen von Armut, die einem ziemlich genau definierten Zustand entsprachen, stellt Ausgrenzung einen Prozeß dar, in dessen Verlauf Individuen oder Haushalte von den durchschnittlichen gesellschaftlichen Standards der Lebensführung sich entfernen bzw. entfernt werden: in ökonomischer Hinsicht, indem sie keinen Zutritt zum Arbeitsmarkt mehr finden; in institutioneller Hinsicht, indem sich zwischen ihnen und den politischen bzw. sozialstaatlichen Institutionen unüberwindliche Schranken aufbauen; in kultureller Hinsicht, wenn Stigmatisierung und Diskriminierung zum Verlust des Selbstwertgefühls und zum Verlust der moralischen Qualifikationen führen, die für ein integriertes Leben Voraussetzung sind; und schließlich in sozialer Hinsicht, wenn durch soziale Isolation und das Leben in einem geschlossenen Milieu die Brücken zur ‚normalen‘ Gesellschaft verloren gegangen sind. Der Ausgrenzungsprozeß erreicht seine stärkste Ausprägung, wenn Individuen oder Haushalte in allen vier Dimensionen weit von der Mitte der Gesellschaft entfernt sind - und wenn dies mit einer ‚inneren Kündigung‘ gegenüber der Gesellschaft zusammentrifft, die sich in Resignation, Apathie und Rückzug äußert. Von der Gesellschaft im Stich gelassen, erwarten die Betroffenen auch nichts mehr und verhalten sich entsprechend.

Verschiedene Bevölkerungsgruppen sind von Ausgrenzungsprozessen auf verschiedene Weise betroffen. Als erstes sind Arbeitslose zu nennen, bei denen sich die Arbeitslosigkeit verfestigt, was sich in steigenden Zahlen von Dauerarbeitslosen zeigt; zum zweiten ergeben sich wachsende Abstiegsrisiken aus dem Wandel der Familien- und Haushaltsstrukturen, weil angesichts immer kleiner werdender Familien und der Zunahme von individualisierten Lebensformen die Auffangmöglichkeiten durch die informellen Netze von Familie und Verwandtschaft geringer werden; daher gehören die alleinerziehenden Mütter zu den Gruppen, die von dauerhafter Armut bedroht sind; zum dritten können Zuwanderer und ethnische Minderheiten Ausgrenzungsprozessen ausgesetzt sein, weil bei ihnen fehlende politische Rechte und soziale bzw. kulturelle Marginalisierung zusammentreffen (vgl. Bremer/Gestring, 1997).

Neben den sozialen Risiken ist in jüngerer Zeit in unseren Städten die Herausbildung von sozialräumlichen Konstellationen zu beobachten, die selbst zur Ursache für Benachteiligung und Ausgrenzung werden können: eine stärkere räumliche Segregation, die mit einer Konzentration von marginalisierten Bevölkerungsgruppen in bestimmten Quartieren verbunden ist. Ausgrenzungsprozesse durch eine stärkere soziale Segregation in den Großstädten ergeben sich aus dem Zusammenwirken von drei Trends, die aus dem ökonomischen und sozialen Wandel der Großstädte resultieren: a) auf dem Arbeitsmarkt gehen in den Städten die Erwerbsmöglichkeiten für unqualifizierte Arbeiter verloren, weil Industriearbeitsplätze in großer Zahl abgebaut wurden; der wachsende Dienstleistungsbereich nimmt nicht genug bzw. nicht die auf, die infolge der Deindustrialisierung arbeitslos geworden sind; b) aufgrund der Finanznot der Städte, die sich aus dem steigenden Finanzbedarf für Sozialtransfers bei sinkenden Steuereinnahmen ergibt, werden soziale Leistungen reduziert bzw. zumindest nicht in dem Maße ausgebaut, wie es angesichts wachsender Notlagen nötig wäre; c) durch den Rückzug des Staates aus der Wohnungsversorgung und angesichts steigender Wahlmöglichkeiten beim Wohnstandort für Haushalte mit einem stabilen Einkommen lösen sich die sozial gemischten Quartiere auf, und eine stärkere Sortierung der Wohnbevölkerung nach Einkommen, Lebensstil und Nationalität in verschiedenen Quartieren findet statt. Quartiere, in die die Verlierer des sozio-ökonomischen Wandels abgedrängt werden, können - wenn erst einmal eine gewisses Niveau der segregation erreicht wurde und sich dies verfetstigt hat - zu Orten einer sozialer Exklusion werden.

2. Die Ursachen

Die Ursachen für die Herausbildung von problembeladenen Quartieren liegen in einer wachsenden sozialen Ungleichheit der Bevölkerung bei gleichzeitiger Deregulierung der Wohnungsversorgung. In einer Periode, in der sich die Ungleichheit der Bewohner nach Einkommen und ethnischer Zugehörigkeit stärker ausfächert, wird die Wohnungsversorgung stärker dem Markt überlassen, und damit spiegelt sich soziale Ungleichheit, die zunimmt, deutlicher in der sozialräumlichen Struktur der Städte.

Die soziale Entwicklung in den westlichen Großstädten - von Berlin bis New York - wird seit einigen Jahren mit Begriffen wie Dualisierung bzw. Spaltung gekennzeichnet (vgl. Fainstein/Gordon/Harloe 1992). Damit wird ein Wandel der Sozialstruktur der Großstädte benannt, der sich aus dem ökonomischen Strukturwandel, der Denationalisierung von ökonomischen Regulierungen und aus dem Abbau sozialstaatlicher Fürsorge ergibt.

Neben der großen Zahl von Arbeitslosen haben auch manche Beschäftigten Einkommensverluste hinzunehmen, so dass die Realeinkommen eines großen Teils der Bevölkerung sinken. Auf der anderen Seite gibt es aber (in den sog. unternehmensorientierten Dienstleistungen, zu denen z.B. EDV, Werbung, Marketing, Unternehmensberater und Kommunikationsdienste gehören) auch eine wachsende Zahl von Stadtbewohnern, die sehr hohe Einkommen beziehen. Wir haben es also mit einer Spreizung der Einkommensverteilung und - weil die mittleren Segmente quantitativ an Bedeutung verlieren - mit einer Polarisierung der Einkommensstruktur zu tun (vgl. dazu das Beispiel Hamburg bei: Alisch/Dangschat.) Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie ist vermutlich generell mit einer stärkeren Einkommensdifferenzierung und verbunden (vgl. dazu Häußermann/Siebel, Frankfurt/Main 1995).

Hübinger (Hübinger 1999) hat gezeigt, dass etwas 40 % der Bevölkerung unterhalb der "Wohlstandsschwelle" leben, also unterhalb jenes Einkommensniveaus, das nicht zu spürbaren Notlagen führt.

Noch ist die Tatsache nicht hinreichend ins breite Bewusstsein von Stadtbewohnern und Stadtpolitikern gedrungen, dass der Anteil von Bewohnern, die im kulturellen und/oder rechtlichen Sinne Zuwanderer sind, laufend zunimmt, selbst dann, wenn kein einziger Zuwanderer mehr über die Grenzen nach Deutschland gelangen kann - und daß dieser Prozeß einer poliitschen Steuerung bedarf, wenn nicht erhebliche Konflikte und Nachteile für die Bewohner von Einwanderervierteln entstehen sollen. Die Zuwandererbevölkerung ist jünger, lebt häufiger in Familien und hat deshalb häufiger Kinder.

Die kulturelle Heterogenität der Stadtbevölkerung wird also zunehmen, die Anteile von Bewohnern mit einem nicht-deutschen kulturellen Hintergrund werden in einigen Quartieren in allen Großstädten sehr hoch sein. Gleichzeitig verringert der ökonomische Strukturwandel aber gerade jenes Beschäftigungssegment, das in der Vergangenheit die meisten Zuwanderer aufgenommen hat: die unqualifizierte Arbeit in den Fabriken. Die Großstadtbevölkerung wird also heterogener, und die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird schärfer. Sie wird in Zukunft wohl vor allem über Qualifikationen ausgetragen.

Selektive Mobilität

In den Großstädten bilden sich Quartiere heraus, in denen sich die ‚Überflüssigen‘ konzentrieren: die marginalisierten Einheimischen und die diskriminierten Zuwanderer, die in den ‚besseren‘ Vierteln keine Wohnung (mehr) finden (empirische Analysen finden sich in der Berliner Untersuchung ‚Sozialorientierte Stadtentwicklung‘, herausgegeben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie, Berlin 1998, und für Hamburg vgl. Alisch/Dangschat:, S. 111 ff.) Zur Konzentration trägt zusätzlich die Abwanderung von Haushalten, die am ja immer noch vorhandenen Wohlstand in unserem Lande teilhaben, aus diesen Quartieren bei. Sie streben an Wohnstandorte, die am Rande oder außerhalb der Großstädte ("im Grünen") liegen. Die Gründe dafür sind die mangelhaften Umweltqualitäten in den dichten Großstadtgebieten, der Wunsch nach privater Grünfläche um das Haus (insbesondere dann, wenn Kinder zum Haushalt gehören) - und schließlich immer häufiger der Wunsch, sich von Nachbarn distanzieren zu können, deren Kultur und Lebensgewohnheiten man nicht mag. Für jeden freiwillig abgewanderten Haushalt zieht einer nach, der wegen seines Einkommens oder wegen kultureller Diskriminierung keine andere Wahl hat.

Kulturelle Konflikte sind besonders heftig in den Schulen, wenn die Anteile von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache den Status einer Minderheit übersteigen. Ob berechtigt oder nicht, die Sorge der Eltern um die Bildungszukunft ihrer Kinder führt zur Abwanderung derer, die über die materiellen Voraussetzungen dafür verfügen, wenn die Schule sich nicht in der Lage zeigt, mit den wachsenden Anforderungen einer multikulturellen Schülerschaft produktiv umzugehen.

Das Ende des sozialen Mietwohnungsbaus

Ende der 80er Jahr hat die Bundesregierung verkündet, dass es nicht mehr notwendig sei, den sozialen Mietwohnungsbau weiter zu fördern, so dass inzwischen ein Prozess der rapiden Schrumpfung dieser Bestände eingesetzt hat. Da jährlich über 100.000 Wohnungen aus den Sozialbindungen herausfallen, neue jedoch kaum gebaut werden, ist der Bestand von 4 Mio. Sozialwohnungen (1980) auf inzwischen 1,9 Mio. gefallen, und er wird innerhalb weniger Jahre auf einen Restbestand absinken. Die Wohnungsbaugesellschaften, die sich in öffentlichem Eigentum befinden, sind von der Politik aufgefordert, Wohnungen zu verkaufen, um die Eigentumsquote im Lande zu erhöhen. Dabei werden in der Regel die attraktivsten Bestände privatisiert und die Bestände, die für die Aufnahme der bedürftigsten Mieter bereitgestellt werden, quantitativ verringert und räumlich konzentriert - und damit stigmatisiert. Die Erfahrungen aus Großbritannien könnten eigentlich davor bewahren, die gleichen Fehler auch in Deutschland zu machen (vgl. Forrest/ Murie 1988)

Die Modernisierung von Altbauwohnungen verringert zudem das Angebot an billigen Wohnungen im privaten Sektor. Während also die Zahl derjenigen Haushalte wächst, die aufgrund ihrer Einkommenssituation sich am normalen Wohnungsmarkt nicht adäquat versorgen können, schrumpft das Angebot, das genau für diese Situation entwickelt worden war. Das kleiner gewordene Angebot an Sozialwohnungen konzentriert sich räumlich in den jüngeren Beständen, die am Rande der Großstädte errichtet worden sind. Diese können deshalb die Ghettos des 21. Jahrhunderts werden. Eine vom Gesamtverband der Wohnungswirtschaft e.V. (GdW), in dem überwiegend die ehemals gemeinnützigen und/oder öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften repräsentiert sind, in Auftrag gegebene Studie trägt den Titel ‚Überforderte Nachbarschaften‘ und beschreibt die "soziale und ökonomische Erosion in den Großsiedlungen" in Westdeutschland. Die Situation in den ostdeutschen Großsiedlungen wird dagegen noch als vergleichsweise harmlos dargestellt. Auf innerstädtische Probleme geht der GdW gar nicht ein, weil sich dort keine großen Bestände seiner Mitglieder befinden

Der Fahrstuhleffekt

Sozial selektive Weg- und Zuzüge sind nur eine Variante der Entstehung einer Konzentration von problembeladenen Haushalten, die andere ist eine Folge der Arbeitsmarktkrise. Dafür gibt es in den Großstädten heute viele Beispiele: Gebiete, in denen vorwiegend gering qualifizierte Industriearbeiter gewohnt haben (‚Arbeiterviertel‘), erleben einen kollektiven Abstieg dadurch, daß die Fabrikarbeitsplätze verschwunden und die Arbeiter arbeitslos geworden sind. Plakativ formuliert: aus einem Arbeiterquartier wird dann ein Arbeitslosenquartier. Die Kaufkraft nimmt ab, die sichtbare Armut nimmt zu, Läden werden geschlossen bzw. verändern ihr Angebot in Richtung Billigstwaren, und insgesamt verschlechtert sich das ‚Klima‘.

Soziale Ungleichheit setzt sich - wenn es keine sozialstaatliche Intervention gibt -in sozialräumliche Segregation um; diese führt zu sich selbst verstärkenden Prozessen sozialer Selektion, an deren Ende Quartiere stehen, die von einer kumulativen Abwärtsentwicklung betroffen sind: Mit jeder Stufe der Verschärfung der sozialen Probleme verlassen diejenigen Haushalte, die noch über Wahlmöglichkeiten verfügen, die Quartiere, womit dann die Konzentration und Dichte sozialer Problemlagen weiter zunimmt. Das ist ein Prozeß der ‚Abwärtsentwicklung‘, der sich selbst laufend verstärkt, wenn er nicht durch koordinierte Anstrengungen von Bewohnern, Eigentümern, Gewerbetreibenden und Stadtpolitikern unterbrochen wird.

3. Das Beispiel Berlin

In Berlin haben sich seit November 1989 die Bedingungen für jene Prozesse, aus denen sich die sozialräumliche Struktur einer Stadt ergibt, so grundlegend verändert, daß ein Wandel der Bevölkerungsverteilung auf die verschiedenen Stadtgebiete unvermeidlich ist.

Die Mauer ist weg, und damit sind nicht nur Umzüge zwischen den beiden Stadthälften sondern auch ins Umland möglich geworden. Im Osten waren die Wohnungen vor 1990 den Haushalten von der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) zugeteilt worden, nach der Wende konnten sie plötzlich selbst darüber entscheiden, wo sie wohnen wollen. Auch traten wieder private Vermieter auf den Plan, die sich die Mieter nach anderen Kalkülen aussuchen als eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft. Innerhalb der Jahre 1990 bis 2000 sind außerdem in Berlin insgesamt über 100.000 Wohnungen neu gebaut worden.

Die Wohngebiete konnten von dem die ganze Stadt ergreifenden Wandel nicht unberührt bleiben. Insbesondere Kreuzberg, da waren sich die Experten einig, würde von den Angestellten der neuen Dienstleistungsunternehmen überfallen und gentrifiziert werden, weil dieser Stadtteil so günstig zum neuen Zentrum liegt. Auch für die Altbaugebiete, die im Osten an die Mitte grenzen, wurde eine rasche Gentrification vorhergesagt bzw. befürchtet. 'Befürchtet' deshalb, weil man die soziale Mischung der Wohnbevölkerung in den ostberliner Altbaugebieten durch spekulative Sanierungs- und Modernisierungsaktivitäten in Gefahr sah. Daher wurde fast der gesamte Bezirk Prenzlauer Berg mit besonderem Städtebaurecht (Sanierungs- oder Milieuschutzsatzungen) überzogen. Die ansässige Bevölkerung sollte gegen Verdrängung geschützt werden, den Investoren wurden daher straffe Zügel angelegt.

Die Mieten im Westteil stiegen bei Neuvermietungen nach 1990 in bis dahin ungekannte Höhen, und auch dort wurde jetzt in Erwartung einer gestiegenen und zahlungsbereiten Nachfrage wieder mehr in die Altbauten investiert. Kurzum: die ganze Stadt richtete sich auf Bevölkerungszuwachs und ein kaufkräftiges Publikum ein.

Doch es kam anders. Bis 1994 nahm die Bevökerungszahl tatsächlich zu, seitdem geht sie zurück, seit 1996 ist sogar der Wanderungssaldo negativ, d.h. es verlassen mehr Menschen die Stadt als zuziehen. Und die Steigerung der Kaufkraft blieb bisher ebenfalls aus. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und die Beendigung der Subventionen für die westberliner Industrie haben zwischen 1990 und 1995 zum Verlust von etwa 50% der industriellen Arbeitsplätze in der Stadt geführt. Die Lohn- und Gehaltseinkommen im Ostteil liegen bis heute ungefähr bei 80% der westdeutschen, und die Westberliner haben durch den Wegfall der Berlin-Zulage, die bis Anfang der 90er Jahre an jeden Erwerbstätigen bezahlt worden war, reale Einkommensverluste hinnehmen müssen. Zwar gibt es auch Wachstumssektoren in Berlin, insbesondere im Bereich von Dienstleistungen, aber der Umbau der Berliner Wirtschaft führt zu einer erheblich veränderten Beschäftigungsstruktur: gut bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie sind verschwunden, hinzu kommen sehr hoch dotierte sowie sehr schlecht bezahlte Dienstleistungsarbeitsplätze - und weil dies nicht so viele sind, steigt die Arbeitslosigkeit.

3.1. Selektive Mobilität

Die Häufigkeit von Umzügen innerhalb der Stadt hat sich seit der Vereinigung jährlich deutlich erhöht. Diese Dynamik ist in den Innenstadtbereichen am größten. Im Ergebnis führen diese Umzüge zu einer Abnahme der Einwohnerzahl in den innerstädtischen Bereichen und zu einer Zunahme in den Außenbezirken. Von den Randwanderern bleiben zwar die meisten noch innerhalb der Stadtgrenzen, aber die Wanderungsverluste gegenüber dem Umland nehmen Jahr für Jahr zu. Zuwanderer in die innerstädtischen Bereiche sind vor allem jüngere Menschen, überproportional viele aus dem Ausland.

Im Westteil hat sich durch die Umzüge und die Investitionen seit der Vereinigung in keinem Bezirk das soziale Profil verändert. Die historisch angelegten Sozialprofile haben sich seit der Wende noch stärker ausgeprägt. Das heißt beispielhaft: Kreuzberg wurde nicht gentrifiziert, vielmehr nehmen die Anteile von Sozialhilfeempfängern zu; die Armutsbveölkerung erhält ein größeres Gewicht. Im Wedding haben die Anteile der Niedrigverdiener zugenommen und die der höheren Einkommensgruppen abgenommen. Dagegen wohnen in Zehlendorf heute noch weniger Leute mit geringen Einkommen als noch vor zehn Jahren - insgeamt deutliche Tendenzen einer sozialen Entmischung.

Die östlichen Innenstadtbereiche weisen eine strukturell gleiche Entwicklung wie die westlichen Innenstadtbereiche auf: durch Wanderungen verändert sich die soziale Zusammensetzung in eine ähnliche Richtung wie im Westen, die selektive Wirkung der Mobilität ist sogar noch schärfer ausgeprägt. Allerdings führte dies bisher nicht zu den gleichen Ergebnissen, weil die Ausgangssituation im Jahre 1990 sehr verschieden war. Angesichts gestiegener Wahlmöglichkeiten streben aber nun auch in den Ostbezirken die Familien mit Kindern, wenn sie über das entsprechende Einkommen verfügen, in die weniger dicht besiedelten Randbezirke oder ins Umland.

Für die Großsiedlungen und auch für die kleineren Wohnkomplexe des sozialen Wohnungsbaus im Westteil wird seitens der Wohnungsbaugesellschaften und der Bezirksverwaltungen ebenfalls eine sozial selektive Entwicklung durch Umzugsbewegungen berichtet, die auf die Belastungen durch die Fehlbelegungsabgabe und die niedrigen Einkommensgrenzen bei der Bezugsberechtigung zurückzuführen sei. Für einkommensschwache Haushalte, die knapp über der Einkommensgrenze liegen, scheint die Miete zu hoch zu sein. Die relativ hohen Mieten können dagegen von so armen Haushalten übernommen werden, bei denen das Sozialamt die Miete bezahlt. Dadurch findet gegenwärtig ein sozialer Erosionsprozeß statt, der sich vor allem in den innerstädtischen Sozialwohnungsbeständen in einer räumlichen Konzentration von Haushalten bemerkbar macht, die von staatlichen Transfers abhängig sind.

Die Großsiedlungen im Ostteil (Plattenbausiedlungen) werden von den Haushalten mit höheren Einkommen verlassen - sie ziehen entweder in kleinere Neubauten in der Nähe oder ins Umland. In die freiwerdenden Plattenbauwohnungen rücken einkommensschwache Haushalte nach, darunter viele Einwandererfamilien, die über Wohnberechtigungen für große Wohnungen verfügen, die dort ansonsten schwer vermietbar sind . Die Situation in den großen Plattenbausiedlungen am Stadtrand ist also einerseits geprägt von einem Entmischungsprozeß, in dessen Verlauf sich die DDR-typische soziale Mischung entdifferenziert; dies kann als Anpassung an einen Verteilungsprozeß angesehen werden, in welchem die Haushalte ihren Wohnstandort - im Rahmen ihrer Kaufkraft - selber wählen können. Denn unter diesen Umständen stellen die standardisierten Neubauwohnungen in Großsiedlungen nie das Ende der Wohnkarrieren von Haushalten dar, die sich aufgrund ihres Einkommens andere Wohnformen bzw. andere Standorte leisten können.

Dieser Abwanderungsstrom, typisch für die Gründerzeitquartiere, zeigt sich bereits jetzt auch in den Altbauquartieren im Osten. Von dort ziehen überproportional viele Familien weg, wenn sie das Einkommen haben, um sich eine besser ausgestattete Wohnung in einer Gegend mit angenehmerem Wohnumfeld zu mieten oder zu kaufen. Zwar gibt es in den Bezirken Prenzlauer Berg und Friedrichshain einige Inseln der Aufwertung, die mit sozialer Altbauquartiere der gleiche Erosionsprozeß wie für die Westberliner: bei einer hohen Umzugsdynamik ergibt sich ein sozialer Wandel hin zur Dominanz von Haushalten, die von staatlichen Transfers abhängig sind - und dazu gehören auch große Teile der Zuwanderer. Erwächst daraus ein besonderes Problem?

3.2. Übergangszonen oder Sackgassen?

Traditionell sind die Innenstadtgebiete 'Orte des Übergangs', d.h. dort haben sich immer die Zuwanderer -aus dem In- und Ausland - zuerst niedergelassen. Der Prozeß der Integration in die Stadtgesellschaft war dann in der Regel verbunden mit einer Randwanderung des Haushalts, heraus aus den dichten und alten Quartieren in die 'besseren' Viertel. Dieser Vorgang - gedacht als permanente Bewegung - ist in den Stadtentwicklungsmodellen der Chicagoer Schule der sozialökologischen Stadtsoziologie zur Grundlage einer Stadtentwicklungstheorie geworden (vgl. Friedrichs 1995), in der innerstädtischen Altbaugebiete als 'Zone of Transition' bezeichnet wurden. Diese Theorie passt auf die Entwicklung der wachsenden Stadt, in der sich aus Zuwanderung, Arbeitsplatzwachstum und sozialem Aufstieg der Individuen ein räumliches Entwicklungsmuster mit einem aufsteigenden sozialen Gefälle von der Stadtmitte zur Peripherie ergibt.

Die zuvor skizzierten und in Berlin heute zu beobachtenden Trends entsprechend diesem Muster nur noch zeilweise: passend ist der negative Wanderungssaldo von Erwerbstätigen in den innerstädtischen Quartieren, der anzeigt, daß dort mehr Erwerbstätige weg- als zuziehen. Aber in dieses Bild passt nicht, daß aus den Randbezirken nicht-erwerbstätige Personen wegziehen - nach der sozialökologischen Theorie, die ganz auf Marktprozessen basiert, hätten die dort gar nicht wohnen dürfen. Europäische Städte lassen sich generell schlechter als amerikanische Städte mit diesem Modell beschreiben, weil es in den meisten Ländern einen staatlich subventionierten Sektor ('sozialer Wohnungsbau') gibt, bei dem sich Qualität und Standort nicht aus der Kaufkraft der Bewohner ergeben. In Berlin speziell war durch den hohen Anteil staatlicher Finanzierung im Wohnungsbau, durch die Mietenregulierung und auch durch die besondere Baustruktur der Mietskasernengebiete die sozialräumliche Segregation nicht so ausgesprägt wie in einer Stadt, wo vor allem der Markt die Höhe der Mieten und die Verteilung der Wohnungen bestimmt. In West-Berlin betrug 1990 der Anteil des sozialen Wohnungsbaus an der gesamten Wohnungsversorgung ca. 40%, in Ost-Berlin unterlag der gesamte Wohnungsbestand staatlicher Kontrolle. In beiden Teilen der Stadt sind nun die Weichen seit der Vereinigung eindeutig in Richtung 'mehr Markt' gestellt. Die Restitution von Privateigentum und der Verkauf von Plattenbauwohnungen im Osten, der Verkauf von Sozialwohnungen im Westen wurden nach 1990 zur Entstaatlichung der Wohnungsversorgung eingeleitet; das Ende der Förderung von Mietwohnungsbau sowie eine verstärkte Förderung der Eigentumsbildung markieren einen 'Paradigmenwechsel' in der Wohnungspolitik, der Implikationen für die sozialräumliche Struktur hat.

Zuvor haben wir bereits gesagt, daß sich trotz der Veränderungen in der Lagegunst bei keinem Gebiet das soziale Profil geändert hat, sondern daß sich das bereits zuvor angelegte schärfer herausbildet: Gentrification dort, wo bereits die Gentry wohnt; starker Ausländerzuzug dort, wo bereits die Konzentration von Ausländern hoch ist; Zuzug von Erwerbslosen dort, wo bereits viele Bewohner arbeitslos sind; Wegzug der Familien dort, wo schon jetzt nur noch wenige wohnen. In diesen Entwicklungen zeigt sich eine Tendenz zur sozialräumlichen Polarisierung: die Auftsteiger verlassen die hetrogenen, von sozialen Problemen gekennzeichneten Innenstädte, und umgekehrt werden die Nischen für unterprivilegierte Sozialgruppen in den Wohngebieten der Mittelschicht knapper. Damit verändert sich auch das Muster der Stadtentwicklung: die Umzugsbewegungen vom Zentrum zur Peripherie sind nicht mehr Ausdruck eines allgemeinen sozialen Aufstiegs, weil nicht mehr alle daran teilhaben können, und weil es immer häufiger auch die Bewegung in die umgekehrte Richtung gibt. Aus den innerstädtischen Übergangszonen werden Sackgassen.

In amerikanischen Städten sind solche 'dead ends' eindringlich beschrieben und als 'Hypergettos' bezeichnet worden (z.B. Wacquant/Wilson 1989), und in den Verstärkereffekten der residentiellen Segregation werden die Grundlagen für eine neue 'urban underclass' gesehen (vgl. Mingione 1996, Häußermann 1997, Kronauer 1997).

3.3. Gebiete mit problematischen Entwicklungstendenzen

Insgesamt zeichnet sich im Stadtgebiet von Berlin ein stärkerer Sortierungsprozeß nach Einkommen, Nationalität und Familienstand ab als vor 1990 in den getrennten Teilen West- und Ost-Berlin. Die soziale Segregation in der Stadt nimmt durch selektive Mobilität von Jahr zu Jahr zu. Die beobachteten Veränderungen führen im Westteil zu einer klareren Profilierung bereits zuvor angelegter sozialräumlicher Ungleichheiten, d.h. daß dort, wo bereits in der Vergangenheit hohe Anteile von Armen wohnten, nun noch mehr Arme wohnen, und daß dort, wo bereits in der Vergangenheit die höchsten Anteile von hoher Bildung und hohem Einkommen zu beobachten waren, diese Anteile noch zunehmen. Im Ostteil lösen sich die durch die staatliche Wohnungszuweisung entstandenen vergleichsweise heterogenen sozialräumlichen Strukturen durch selektive Migration langsam auf.

Anhand der Analyse von Bevölkerungsdaten lassen sich neben den Großsiedlungen in Ostberlin (Plattenbausiedlungen) drei andere Gebietstypen erkennen, die durch einen sozialen Entmischungsprozeß gekennzeichnet sind: 1. innerstädtische Altbaugebiete in Westberlin; 2. innerstädtische Altbaugebiete in Ostberlin; 3. Wohnkomplexe des sozialen Wohnungsbaus in Westberlin; 4.

- Für die Wohnkomplexe des sozialen Wohnungsbaus in den innerstädtischen Bezirken von Westberlin wird angesichts der laufenden Entmischungsprozesse - in Übereinstimmung mit den Vorschlägen des Bausenators - die Aufhebung von Fehlbelegungsabgabe und Einkommensgrenzen empfohlen, um den kumulativen Prozeß einer durch hohe Mieten und Zuzugsbeschränkungen beschleunigten sozialen Segregation zu bremsen - allerdings sollten Bindungen und Belegungsrechte unternehmensbezogen und räumlich differenziert umverteilt und nicht einfach ohne Gegenleistung aufgegeben werden. Im Frühjahr 1998 hat der Senat die im Jahr 1997 eingeführte Aufhebung der Fehlbelegungsabgabe für einige Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, in denen die Entmischungsprozesse auffällig waren, tatsächlich beschlossen - allerdings ohne eine Gegenleistung zu fordern.

- Die innerstädtischen Altbaugebiete in Ostberlin verdienen besondere Aufmerksamkeit in der Beobachtung der laufenden Entwicklungen, da die derzeitigen Tendenzen prinzipiell in eine ähnliche Richtung weisen wie in den Westberliner Altbaugebieten. Einige Gebiete, in denen die negativen Trends besonders ausgeprägt sind, werden als ‚Verdachtsgebiete‘ eingestuft. Noch kann der Entmischungsprozeß dort aufgehalten werden, weil er noch nicht so weit fortgeschritten ist. Die bisherige Politik, die sich allein auf die Vermeidung von Bewohnerverdrängung durch Gentrification orientiert, muß ergänzt und erweitert werden um Strategien, die einen sozialen Abstieg von Teilgebieten vermeiden.

- Alarmierend erscheinen die Entwicklungen in einigen Gebieten der westberliner Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist, daß die Wanderungsprozesse, die zum sozialen Abstieg eines Quartiers beitragen, dort, wo bereits zuvor die Konzentration von Haushalten mit materiellen und/oder sozialen Problemen hoch war, besonders stark ausgeprägt sind - dort findet also eine kumulative Verschärfung sozialräumlicher Marginalisierung statt. Dadurch bilden sich Gebiete heraus, in denen sich vielfältige Problemlagen konzentrieren und sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Damit wird der Ort, an dem man lebt, selbst zu einer Quelle von sozialer Benachteiligung. Diese Quartiere werden als ‚problembehaftete Gebiete' bezeichnet, und für sie ist ein akuter Handlungsbedarf gegeben. Sie zeichnen sich aus durch

 hohe Bevölkerungsfluktuation
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 hohe und zunehmende Ausländeranteile, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen
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 hohe Arbeitslosigkeit und hohe Sozialhilfedichte
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 hoher Zuzug von Zuwanderern aus dem Ausland
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 Überwiegen des Wegzugs von Familien mit Kindern (negativer Wanderungssaldo)
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 Überwiegen des Wegzugs von Erwerbstätigen (negativer Wanderungssaldo)

Politischer Handlungsbedarf?

Was bedeutet die These, daß aus benachteiligten Quartieren benachteiligende werden oder daß 'arme Nachbarschaften ihre Bewohner ärmer machen'. (vgl. Friedrichs 1998) Die Tatsache, daß man in einer bestimmten Gegend wohnt, ist selbst ein Faktor der Benachteiligung: soziale Ungleichheit wird damit nicht nur befestigt, sondern verschärft.

Effekte eines Quartiers kann man sich auf verschiedene Weise vorstellen:

- einerseits so, daß durch die vorherrschenden Überzeugungen und das dominante Verhalten der Bewohner eine 'abweichende Kultur' entsteht, die auch diejenigen prägt, die ihr bisher nicht angehörten. Soziales Lernen führt zu Verhaltens- und Denkweisen, die die Mitglieder einer solchen Kultur immer weiter von den Normen und Verhaltensweisen der Mainstream-Gesellschaft entfernen. Dadurch erleiden sie Nachteile, weil sie z.B. Chancen auf dem Arbeitsmarkt auch dann nicht mehr ergreifen können, wenn diese objektiv wieder gegeben sind. In der konservativen amerikanischen Version ist dies die zentrale Bestimmung der 'underclass', die durch negative Verhaltensweisen und diese rechtfertigende Einstellungen charakterisiert sei.

- andererseits zeichnen sich benachteiligte Quartiere durch Eigenschaften aus, die entweder die Lebensführung beschwerlich machen und/oder die Handlungsmöglichkeiten ihrer Bewohner objektiv einschränken. Dabei geht es um physisch-materielle Merkmale eines Quartiers (z.B. Qualität als Wohnort, die Erreichbarkeit von sozialen Einrichtungen) und um seine institutionelle Ausstattung mit privaten und öffentlichen Dienstleistungen.

- eine dritte Dimension der Wirkungen stellt das negative Image eines Quartiers dar, das aufgrund eigener Erfahrungen oder aufgrund von Vorurteilen dem Quartier aufgestempelt wird, und das dann nach innen (gegenüber seinen Bewohnern) und nach außen (als Stigmatisierung der Bewohner) Effekte entfaltet, die die Handlungsmöglichkeiten der Bewohner erheblich einschränken. Bekannt sind die Beispiele, daß Arbeitssuchende sofort abgeweisen werden, wenn sie eine bestimmte Adresse als Wohnort nennen.

Wenn die soziale Segregation durch die Überlagerung von räumlicher Separierung und sozialer Marginalisierung einen bestimmten Grad erreicht hat, werden diejenigen, die in den randständigen Qurtieren wohnen, von den Lebenschancen, die unsere Gesellschaft nach bisherigen Standards jedem bieten kann, weitgehend ausgeschlossen. Es geht dann also nicht nur um einen Mangel an Verteilungsgerechtigkeit, sondern um einen Mangel an Chancengleichheit.

8. Zusammenfassung

Durch selektive Migration und durch die Verarmung der Bewohner können in einem Quartier Prozesse in Gang kommen, die zu einer kumulativ sich selbst verstärkenden Spirale der Abwärtsentwicklung führen. Dadurch entsteht ein soziales Milieu, das eine Umwelt für soziales Lernen darstellt, in der nur noch eine begrenzte Realitätswahrnehmung möglich und der Verlust von ‚moralischen Qualifikationen‘ wahrscheinlich ist, die Voraussetzung für eine Reintegration in die Erwerbstätigkeit wären. Durch selektive Migrationsprozesse bildet sich ein Milieu der Benachteiligung immer stärker heraus, und diejenigen, die keine Möglichkeit zur Wahl eines anderen Wohnstandorts haben, passen sich diesem Milieu langsam an. Insbesondere die Kinder und Jugendlichen werden kaum noch mit positiven Rollenmodellen konfrontiert und geraten - auch durch Anpassungsdruck - in einen Sozialisationsprozeß, dessen Ergebnis Verhaltensweisen sind, die ein Entkommen aus dem Milieu der Benachteiligung unwahrscheinlicher machen.

Diese 'inneren' Prozesse, die sich in den Subjekten abspielen, werden bestätigt und verstärkt durch Veränderungen des 'äußeren' Milieus bzw. des objektiven Raums: die Verwahrlosung von Gebäuden, Straßen und Plätzen und die Degradierung der Versorgungsinfrastruktur hat eine weitere Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls zur Folge und verstärkt die Neigung zu Rückzug und Resignation. Die Mobilen verlassen solche Quartiere und schwächen damit die sozialen Kompetenzen und die politische Repräsentation des Quartiers - denn um eine wirksame Nachbarschaftsinitiative zu gründen, bedarf es einiger sozialer Kompetenzen.

So entstehen "Ghettos ohne Mauern" (Hess/ Mechler, 1972) Orte der sozialen Ausgrenzung. Aus dem Strudel multipler und kumulativer Benachteiligung, der mit dem unfreiwilligen Wohnen in solchen Quartieren verbunden ist, gibt es nach einer gewissen Zeit kein Entkommen mehr. Die Bewohner sind mit ihren Quartieren ausgegrenzt, wenn nicht die solidarische Stadtgesellschaft Prozesse der sozialen Stabilisierung einleitet und die Reintegration der Quartiere und ihrer Bewohner dauerhaft unterstützt. Die Einschätzung, sozialräumlich segregierte Quartiere seien Orte einer emanzipatorischen Kultur, ist heute wohl kaum mehr zu begründen. Denn sowohl die Institutionen einer gesellschaftskritischen Gegenkultur als auch die utopischen Perspektiven einer ganz anderen Gesellschaft, die die marxistische Theorie als Orientierung der Arbeiterbewegung entworfen hatte, sind im gesellschaftlichen Wandel untergegangen. Die starken nachbarschaftlichen Beziehungen, die in segregierten Quartieren vorgefunden werden können, sind unter diesen Bedingungen eher von benachteiligender als von emanzipatorischer Qualität, und sie bedürfen zur Entwicklung anderer Qualitäten der Unterstützung von außen.

Die Modernisierungsperspektive erlaubte eine Klassifikation der Wohn- und Lebensbedingungen in den Sanierungsgebieten als 'rückständig', weil der Einbezug auch der Armen und Marginalisierten in den sich aufwärts bewegenden Fahrstuhl ökonomischen Wachstums und kultureller Modernisierung fraglos möglich erschien. Bei dem Problem, wie mit segregierten Quartieren umzugehen sei, stellte sich nur die Frage, ob der Integrationsprozeß durch staatliche Intervention beschleunigt werden solle oder nicht. Anders ist die Situation heute: die Integrationsprozesse sind prekär geworden, statt quasi-automatischer Integration ist die Perspektive für die Marginalisierten heute eher die Ausgrenzung. Der Fahrstuhl ist nicht mehr groß genug, alle mitzunehmen. Durch die demographische Entwicklung, d.h. durch die abnehmende Zahl von Einwohner in Deutschland, wird der Prozeß der Ausgrenzung wahrscheinlich in Zukunft für weniger Menschen Realität als heute, aber er wird strukturell nicht verschwinden.

Literatur:

Monika Alisch/Jens Dangschat, Armut und soziale Integration, Opladen 1998, S. 125 - 134.

Peter Bremer/ Norbert Gestring, Urban Underclass - neue Formen der Ausgrenzung auch in deutschen Städten?, in: PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 106, 27. Jg., 1997

Susan S. Fainstein/Ian Gordon/Michael Harloe (Hrsg.): Divided Cities. New York & London in Contemporary World. Oxford 1992

Ray Forrest/Alan Murie, Selling the Welfare State. The Privatization of Publkic Housing, London 1988

Jürgen Friedrichs, Do Poor Neighbourhoods Make Their Residents Poorer? Context Effects of Poverty Neighbourhoods on Residents, in Hans-Joachim Andreß (Hrsg.), Empirical Poverty Research in a Comparative Perspective. Ashgate 1998

Henner Hess/Achim Mechler, Ghetto ohne Mauern, Frankfurt/Main 1972

Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Dienstleistungsgesellschaften. Frankfurt/Main 1995

Hartmut Häußermann/ Andreas Kapphan,: Berlin: Von der geteilten zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990. Opladen 2000

Werner Hübinger, Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 18/99 vom 30. April 1999

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie Berlin (Hrgs.), Sozialorientierte Stadtentwicklung, 1998