Neuerfindung der PDS

In Heft 4-2001 von Sozialismus bespricht Joachim Bischoff das neue Buch von Gregor Gysi

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine stellte auf einer Pressekonferenz in Berlin eine neue Sammlung autobiografischer Notizen des früheren PDS- und Fraktionsvorsitzenden Gysi vor. In einem Teil der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit blüht damit sofort die alte Spekulation wieder auf: Die beiden Politiker arbeiten auf die Neugründung einer linken Volkspartei hin. Auf der Pressekonferenz gab es keinen verwertbaren Hinweis auf ein solches Projekt und im Text schreibt Gysi: Es sei klar, "dass wir gemeinsam keine neue Partei gründen werden. Ich hoffe ja nach wie vor auf eine erstarkende PDS, die eine wichtige Reformkraft Deutschlands werden könnte. Ich habe nicht so viel Kraft und Zeit in diese Partei investiert, um mich anschließend aktiv an ihrer Zerschlagung oder ihrem Untergang zu beteiligen. Wenn sie diesen Weg selbst wählen sollte, so will zumindest ich nicht dafür verantwortlich sein."1 Mit dieser Bewertung ist zugleich der Grund für die hartnäckige Lebensdauer der Spekulation über die Gründung einer neuen linken Partei benannt: Gysi - und nicht nur er - macht "seit längerer Zeit restaurative Tendenzen in der Partei aus". "Dogmatische Linke", "unkultivierte Spinner" und andere verursachen eine ideologisch motivierte Profilneurose. "Tatsache ist..., dass die Anzahl jener Mitglieder gewachsen ist, die dazu neigen, die Verhältnisse in der DDR pauschal zu verklären und die Situation in der Bundesrepublik ebenso undifferenziert zu verurteilen." (33)

Die PDS ist ein erfolgreiches Projekt der sozialistischen Linken und der charismatische Politiker Gysi hat unzweifelhaft einen hohen Anteil daran, dass die fast terroristisch zu nennende Energie des Großteils der politischen Klasse mit der beabsichtigten Eliminierung der PDS keinen Erfolg hatte. Zurecht resümiert Gysi die wichtigsten Etappen dieser gnadenlosen Auseinandersetzung: "Seit 1990 gaben mir die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland und mit ihr alle wichtigen Medien zu verstehen, dass ich als Mitglied dieser politischen Klasse unerwünscht sei und aus verschiedenen Gründen in ihr nichts zu suchen hätte." (37) Die jahrelange Kampagne gegen Politiker, Intellektuelle, Künstler etc. aus der DDR ordnet Gysi zurecht in den gesellschaftlichen Prozess der feindlichen Übernahme der DDR ein. "Wie alle Eliten, waren auch die ostdeutschen zu einem beachtlichen Teil zur Anpassung, zum Opportunismus bereit, aber sie erhielten im vereinten Deutschland kaum eine Chance." (134)

In den autobiografischen Notizen ist von der Inhumanität bei der "Fusion" vieles nachzulesen; von den ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen und deren katastrophalen Konsequenzen für die nächsten Generationen ist jedoch nur am Rande die Rede. Wohlwissend um die Umstrittenheit des Elitebegriffs und die dahinter stehenden Gesellschaftskonzeptionen ist dies für Gysi eine unverzichtbare Betrachtungsebene: "Wenn ich also sage, dass man Eliten beider Teilgesellschaften hätte miteinander vereinigen müssen und dass man aus den Eliten der DDR-Gesellschaft wirklich nur jene hätte entlassen dürfen, die Menschenrechtsverletzungen oder andere Verbrechen zu verantworten hatten beziehungsweise für die Ausübung ihrer Funktion wirklich ungeeignet waren, dann überfordere ich diejenigen, die damals Verantwortung trugen. Wenn ich dennoch behaupte, dieser Weg wäre der richtige gewesen, dann weiß ich, dass man ihn nur auf der Grundlage eines anderen Geschichtsverständnisses hätte gehen können." (140)

Ich möchte Gysis Argumentation in diesem Punkt nicht folgen. Selbst in der politischen Klasse der alten BRD gab es nicht wenige Manager, Politiker und Medienleute, die sich zunächst für einen langsamen Verschmelzungsprozess und daher für konföderative Strukturen einsetzten, sicher vor allem mit Blick auf die sozialen und ökonomischen Kosten. Zugleich war unbestritten, dass diese Form der Verschmelzung auch Westdeutschland weitgehend verändert hätte. Die Galopp-Lösung hat nicht nur eine unermessliche Zerstörung von Wirtschaftspotenztial und gesellschaftlichem Reichtum gebracht und eine bis heute anhaltende Schieflage bei der Finanzierung dieser Übernahme, sondern ist in einen Anpassungsprozess umgeschlagen, den der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf - der sich auch 1989/90 an der Debatte über Zeithorizonte und Strukturen der "Fusion" hervortat - heute auf rund 30 Jahre dimensioniert. Wenn jetzt führende Sozialdemokraten offen oder verdeckt mit Blick auf die Mehrzahl der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studien gar von einer ernsten Situation sprechen - Ostdeutschland steht auf der Kippe -, dann verwundert die Ausblendung dieser Dimension bei Gysi.

Gysi hat der Öffentlichkeit ein politisches - kein wissenschaftlich-theoretisches - und ein höchst persönliches Buch vorgelegt. Anders als bei den meisten anderen autobiografischen Notizen von Politikern sind wir hier mit einer durchdachten Sichtweise konfrontiert. Richtig ist zweifellos die Beobachtung, dass das Projekt PDS zu wenig Unterstützung aus dem Westen erhielt: "Ich habe mich darauf verlassen, dass die linken und linksliberalen Intellektuellen das Projekt PDS zwar kritisch, aber doch solidarisch begleiten würden. Das war ein Irrtum." (150) Logischerweise gibt es für diese Zurückhaltung mehrere Gründe. Beispielsweise: Die Entspannungspolitik änderte nichts am fast totalitären Antikommunismus in der westdeutschen Gesellschaft. Wenn Gysi zudem eine "geschwächte linke kulturelle Hegemonie im Westen" (150) ausmacht, die durch den Untergang der DDR gefährdet wurde und die Sprachlosigkeit und Passivität der politischen Westlinken erklärt, dann werden vermutlich viele der auf diese Weise Kritisierten dieser Argumentation nicht folgen. Auch Gysi registriert, dass sich in der alten BRD seit Mitte der 70er Jahre eine Hegemonie neoliberaler Politik ausbreitete: "das heißt die Akzeptanz des Primats der Wirtschaft über die Politik, die Tendenz zur Deregulierung und zum Sozialabbau, führten zu einer Entsolidarisierung zwischen den Menschen... Der Rechtsextremismus ist auch deshalb erfolgreich, weil er Sehnsucht nach Solidarität missbraucht, indem er sie im Nationalen einfordert". (99) Auch dieser komplexe Prozess prägte die feindliche Übernahme der DDR, die Zerstörung des wissenschaftlich-kulturellen Potenzials Ostdeutschlands und markierte den Rahmen für das Projekt PDS. Wir bräuchten heute nicht per Medienkampagne zur "Zivilcourage" auffordern, wenn diese nicht unter den sozial-kulturellen Bedingungen der Entwicklung Westdeutschlands verkümmert wäre.

Gysi erzählt in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Geschichte: "Einer meiner Irrtümer beim Einzug in den Bundestag bestand zum Beispiel darin, dass ich glaubte, zwischen den Politikerinnen und Politikern verschiedener Fraktionen sei der Streit in der Sache relativ ernst gemeint, während die Auseinandersetzung zwischen Personen eher eine Inszenierung sei. Ich stellte mir das so vor, dass sich diese Leute im Plenum zwar beschimpften, anschließend aber gemeinsam Bier oder Wein tränken. Real erlebte ich dann das Gegenteil. Der Streit in der Sache war nie so ernst wie die Konkurrenz zwischen Personen." (128) Zum Streit um politische Konzeptionen und zwischen beteiligten Personen würde vielleicht der frühere SPD-Vorsitzende Lafontaine darauf verweisen, dass zumindest in Schlüsselfragen die kompromisslose Auseinandersetzung von Sache und Person untrennbar ist. Und dass selbst die Sozialdemokratie bis zur Vernichtung der bürgerlichen Existenz von Mitstreitern ging und geht, wenn der Eindruck vorherrscht, hier werde eine "gefährliche" Konzeption vertreten.

Man muss nicht jeder Begründung von Gysi folgen, aber unzweifelhaft hat das Noch-Erfolgsprodukt PDS mit der Ener-gie und Kompetenz seines langjährigen Partei- und Fraktionsvorsitzenden zu tun. "Was ich in der politischen Kultur innerhalb und außerhalb des Bundestages herbeiführen wollte, kann man einfach als Normalität bezeichnen, denn die politische Kultur in Deutschland war und ist zum Teil noch heute eher anormal. Erreicht habe ich mein Ziel nicht, aber ein bisschen normaler und damit europäischer ist die politische Kultur in Deutschland in den letzten zehn Jahren schon geworden." (381)

Gysi hat einen außergewöhnlichen Beitrag geleistet: Die Etablierung der PDS in der bundesdeutschen Gesellschaft und die Aufhellung der politischen Kultur sind Wirklichkeit. Jetzt müssen andere dafür sorgen, dass die Ängstlichkeit und der Hang zur Profilneurose in der PDS oder der sozialistischen Linken überwunden wird. Ja, Gysis und Biskys Verzicht auf führende Funktionen ist selbst noch als therapeutischer Anstoß gedacht. "Erst durch unsere Entscheidung sind viele aufgewacht und fangen ernsthaft an, sich mit der Frage des Profils und der Zukunft der PDS auseinander zu setzen und für ihre Perspektive zu streiten." (293) In der Tat wäre es vermutlich zu viel verlangt, nach Enthüllung etlicher Irrtümer von Gysi auch noch einen selbstkritischen Ausweis für die Profilneurose zu erwarten. Hier grenzt seine Sichtweise m.E. an Weisswäscherei: "...in den ersten Jahren gab es wenig Streit in der PDS. Die Situation zeichnete sich damals durch Solidarität und Geschlossenheit aus". (293) Sicherlich sind die Personalverschläge des Parteivorsitzenden, von denen es nicht wenig gab und die sich keineswegs breiter Popularität erfreuten (siehe Graf Einsiedel), letztlich immer akzeptiert worden. Aber ob der Charismatiker als ein in der Wolle gefärbter Demokrat agierte, immer nur das Wohl der politischen Linken verfolgte und an dem neuerdings entbrannten Kampf um die Ausrichtung der PDS keinerlei Anteil hat, kann und wird von den Parteiforschern oder Zeithistorikern zu entscheiden sein.

Gysi lässt den Leser - bei allem Optimismus - über die Dramatik nicht im Unklaren: "Die Situation ist nicht ungefährlich für die Zukunft der PDS und nach wie vor nicht endgültig entschieden." (291) Die ausgebrochenen Grabenkämpfe haben einen klaren Bezugspunkt: Angesichts der neoliberalen Ausrichtung der Politik käme es darauf an zu verhindern, "dass aus der Marktwirtschaft eine Marktgesellschaft wird." (334) Gysi sieht Unheil am Horizont: "Jede Gesellschaft verträgt soziale Unterschiede nur bis zu einem gewissen Grad." (181) Zu den zerstörerischen Folgen wachsender sozialer Ungleichheit kommt eine sich abzeichnende Demokratiekrise (Rechtsextremismus). Die SPD oder die europäische Sozialdemokratie unterschätzen diese Entwicklung, was eine Herausforderung und Verpflichtung für die PDS sein müsste.

An diesem Punkt bleibt m.E. die Argumentation von Gysi zum Teil unscharf. Die von der derzeitigen Mehrheitsströmung in der europäischen Sozialdemokratie verfolgte Politik, "selbst zum Motor einer neoliberalen Ausrichtung der Politik zu werden", (327) führt zu sozialen Strukturen, die weder ökonomisch rational noch ohne massive Beschädigung von Demokratie und Zivilgesellschaft bleiben. "Die Tendenz der europäischen Sozialdemokratie, den Neoliberalismus zu fördern, sich an die Spitze von Privatisierung und Deregulierung zu setzen, ist unverkennbar... Mit der Veränderung der Sozialdemokratie sind aber auch die anderen Parteien, und zwar nicht nur in Deutschland, in eine Profilkrise geraten." (329) Wenn sich also die Profilkrisen von bürgerlichen und grün-ökologischen Parteien und letztlich auch von Sozia-lis-ten/Reformkommunisten auf diesen Strukturwandel in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften zurückführen lassen, dann sind die zerstörerischen Aktivitäten von kommunistischen Sekten und trotzkistischen Strömungen in der PDS in gewissem Maße auch Symptom dieses Entwicklungstrends. Das Dilemma der PDS - wie der europäischen Linkssozialisten insgesamt - besteht also darin, zunächst dem Zug der europäischen Sozialdemokratie in die Mitte oder nach rechts Widerstand entgegenzusetzen. "Es ist keine Schande für eine sozialistische Partei, in einer Gesellschaft - zumindest vorübergehend - linke Sozialdemokratie zu ersetzen, wenn diese aus welchen Gründen auch immer ausfällt." (334) Die Linkssozialisten könnten daher - fest verankert in der kapitalistischen Gesellschaft - dem Umbau des sozialstaatlich zivilisierten Kapitalismus Widerstand entgegensetzen. Würde damit aber die Transformation der Sozialdemokratie aufgehalten, gar gestoppt und könnte durch "Druck von links" die europäische Sozialdemokratie auf eine reformerische Position jenseits der Kapitallogik zurückgeholt werden? Die strategische Option - sozialistisches Korrektiv zur europäischen Sozialdemokratie - ist sicher mit Risiken verbunden, aber es ist eine bürgernahe, praktikable Linie mit Aussicht auf Erfolg.

Dass eine solche strategische Option überhaupt nichts mit dem Verzicht auf grundlegende Kapitalismuskritik und auf eine den Kapitalismus überschreitende Perspektive zu tun hat, ist im vorliegenden Buch schön entwickelt. Die spannende Frage ist allerdings, ob die von Gysi präferierte Lösung tragfähig ist: "Eine aktuelle sozialistische Politik gegenüber den entfesselten Finanzmärkten, der Tendenz von Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau bestünde in einem weltweiten Kampf, der die im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit erzielten höchsten sozialen, ökologischen und demokratischen Standards zum Entwicklungsmaßstab erhöbe." (327) Es ist ja gerade eine Merkmal der aktuellen Entwicklung, dass sich das Kapital von den erkämpften Standards - bei der Einkommensverteilung, bei sozial-kulturellen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit, Alterssicherheit, bei der Unternehmensverfassung etc. - freimacht. Zustimmen will ich Gysi in der These, dass Egalitarismus, den Unbelehrbare immer noch aus der Kritik der politischen Ökonomie herauslesen, keine Lösung ist. "Gleichmacherei ist falsch, doch Maßlosigkeit in den sozialen Unterschieden hat gravierende, letztlich zerstörerisch wirkende Folgen für die Gesellschaft." (181)

Die Mehrheitsströmung der europäischen Sozialdemokratie sucht unter dem Druck der Entfesselung des Kapitals nach einer "optimalen Ungleichheit" und verabschiedet sich damit aus der Geschichte der Bewegung der arbeitenden Klassen und ihrer Organisationen. Eine sozialistische Partei kann eine Politik des Drucks von links erfolgreich gestalten, wenn sie eine Perspektive über den Terror der kapitalistischen Ökonomie hinaus definiert, die sich nicht in die staatssozialistische Mängelwirtschaft und eine permanente Suche nach "optimaler Ungleichheit" auflöst.

Gysi präsentiert eine strategische Konzeption für eine linkssozialistische Partei, an deren Begründung z.T. Zweifel und Kritik anzubringen sind. Auch in anderen europäischen linkssozialistischen Parteien ist der "Stein der Weisen" weiterhin unentdeckt. Der lauter gewordene Fanatismus und dogmatische oder denunziatorische Kommunikation gefährden den innerparteilichen Such- und Entwicklungsprozess. Es ist in der Tat absurd, dass ausgerechnet die Partei mit dem konsequentesten Anti-Kriegsengagement sich eine selbstzerstörerische Auseinandersetzung über die Weiterentwicklung der UNO-Politik und anderer internationaler Organisationen leistet. Appelle, zu einer zivilisierten innerparteilichen Auseinandersetzung zurückzukehren, haben - darin hat Gysi wiederum Recht - vermutlich keine Wirkung mehr. Im Klartext bedeutet dies: Findet die sozialistische Partei der Bundesrepublik die Kraft und Entschiedenheit, sich von jenen Kräften und Strömungen - beispielsweise dem Trotzkismus oder kommunistischen Sekten - zu distanzieren, die "den Pluralismus in der PDS nur so lange anerkennen, wie sie eine Minderheit bilden. Sollten sie aber jemals die Mehrheit erreichen, dann würde der Pluralismus sofort überwunden werden. Dann gäbe es nur noch ein Weltbild?" (309) Dies ist keine Befürchtung, sondern auf unteren Parteiebenen erwiesene Praxis. Es ist allerdings für eine Partei mit keinem leichten historischen Erbe nicht einfach, sich von sozialistischen Sekten und Dogmatismus durch klare politische Abgrenzung zu verabschieden.