Was macht Europa?

Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung -

Die Pläne der Bush-Administration zum Aufbau einer nationalen Raketenabwehr National Missile Defense, NMD) und zur Aufrüstung im Weltraum bedeuten auch für Europa eine ernste Herausforderung.

Kaum hatte George W. Bush die Wahl zum US-Präsidenten denkbar knapp gewonnen,
machte er deutlich, dass es auch im neuen Jahrtausend für die USA vor allem darum geht, die
militärische Dominanz weiter auszubauen. Besonders der neue Verteidigungsminister Donald
Rumsfeld, unter Präsident Ford schon einmal mit dem Amt betraut, bewies, dass sich auch
nach dem Ost-West-Konflikt mit Feindbildern Politik machen lässt. Bereits 1998 kam die von
ihm geleitete "Kommission zur nationalen Sicherheit" zu dem Ergebnis, "Schurkenstaaten"
wie Nordkorea, Iran oder Irak könnten die USA in wenigen Jahren mit ballistischen Raketen
bedrohen, was zu einem wesentlichen Auslöser für das NMD-Programm wurde. Nach dem
gleichen Muster verfuhr auch die zweite von ihm geleitete Kommission, die mit ihrem Bericht
vom 11. Januar 2001 die Gefahr eines "Pearl Harbor im Weltraum" ausmalte. (1) Die
Begleitmusik dazu lieferte Bush selbst, als er seinem Vater zum 10. Jahrestag des Golfkriegs
einen Angriff auf den Irak schenkte. Mit den zu erwartenden Drohungen Saddam Husseins
bekam Bush, was er wollte: eine verstärkte Nachfrage nach Raketenabwehr.

Anlässlich der Münchner Wehrkundetagung vom 3. Februar 2001 ließ Rumsfeld, ungeachtet
europäischer Kritik, keinen Zweifel an der Entschlossenheit der USA, eine weltumspannende
Raketenabwehr zu errichten. (2) Außenminister Joschka Fischer sorgte sich um ein
Wettrüsten in Asien und im Weltraum, und der außenpolitische Experte der Unionsfraktion,
Karl Lamers, warnte, die USA wollten die "Herren der Welt" werden. Seine Partei hatte
sich in den am 15. Januar vorgelegten "Leitsätzen für eine deutsche und europäische Außen-
und Sicherheitspolitik" jedoch bereits für eine Raketenabwehr mit den USA ausgesprochen.
Da wollte auch Bundeskanzler Schröder nicht abseits stehen, der sich in München noch um
eine Schwächung der NATO gesorgt hatte, aber schon am 28. Februar einen "Kurswechsel"
der Bundesregierung einleitete. Einen Monat vor seinem Antrittsbesuch bei Bush setzte er
sich für eine deutsche Beteiligung am Raketenabwehrsystem der USA ein, nicht nur aus
bündnispolitischen Erwägungen, sondern auch aufgrund des "eminenten wirtschaftlichen
Interesses" (FAZ 28.2.2001). Als bester Bündnispartner der USA erwies sich aber der
britische Premierminister Tony Blair, der sowohl den Einsatz gegen den Irak unterstützte als
auch im eigenen Parlament geäußerte Bedenken gegen NMD über Bord warf.

Dass von einer gemeinsamen europäischen Kritik an NMD nichts zu spüren war, liegt auch
daran, dass es schon seit Jahren in Europa Pläne und Programme gibt, die auf die Entwicklung
von Raketenabwehrsystemen und eine verstärkte Militarisierung des Weltraums hinauslaufen.
Einige dieser Aktivitäten werden im folgenden beleuchtet. (3)

Europäische Raketenabwehrpläne

Schon seit Beginn der achtziger Jahre gibt es in den USA und Europa Entwicklungen für die
Schaffung einer Abwehr gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen auf dem europäischen
"Gefechtsfeld" (TMD: Theater Missile Defense). (4) Kern der europäischen
Raketenabwehrpläne ist die "Erweiterte Luftabwehr" (Extended Air Defense) der NATO,
ergänzt um mobile Abwehrsysteme zum Schutz von Krisenreaktionskräften in den jeweiligen
Einsatzgebieten. In den vergangenen 20 Jahren untersuchte die NATO in verschiedenen
Konzeptstudien die Möglichkeiten zur erweiterten Luftabwehr gegen das gesamte Spektrum
angreifender Flugkörper, von Flugzeugen über Marschflugkörper bis zu ballistischen Raketen
kurzer und mittlerer Reichweite.

Trotz der seit 1989 verringerten Bedrohungslage geht es weiterhin um ein mehrschichtiges
Abwehrsystem, bestehend aus Frühwarnsensoren, Multifunktionsradars, schnellen
Lenkflugkörpern und einem System zur Datenübertragung in Echtzeit. Besonders bei den
Interventionstruppen wird eine hohe Mobilität und gute Transportabilität als notwendig
angesehen. Der graduelle Prozess wird deutlich bei der Weiterentwicklung der
Patriot-Luftabwehrrakete zum Zweck der Raketenabwehr (Patriot Advanced Capability,
PAC-3).

Die geplante mehrschichtige TMD-Architektur umfasst eine Abwehr innerhalb der
Atmosphäre gegen Raketen bis zu 1000 km Reichweite wie auch außerhalb der Atmosphäre
gegen Reichweiten bis 3500 km. Die untere Abwehrschicht soll bestehen aus
PAC-3-Versionen der Patriot, dem französisch-italienischen Abwehrsystem SAM-T, einem
System der US-Navy (lower-tier) und dem Medium Extended Air Defense System
(MEADS). Die obere Abwehrschicht würde das THAAD-System (Theater High-Altitude
Area Defense) der USA, das schiffgestützte Abwehrsystem der US-Navy für größere Höhen
und eine luftgestützte Laserwaffe zur Abwehr in der Startphase umfassen. (5)
Bezeichnenderweise soll auch eine "counterforce strike capability" dazu gehören, also ein
offensives Potential zur Zerstörung militärischer Ziele.

Zur Zeit stehen wichtige Weichenstellungen an, und die beteiligten Rüstungsfirmen hoffen auf
große Gewinne. Für sie wäre TMD "das größte Projekt, das jemals von der Allianz
unternommen wurde." (6) Am 15. Januar 2001 sollten die Vorschläge für
Machbarkeitsstudien eines zukünftigen TMD-System eingereicht werden. Vier
Industriekonsortien "fiebern" danach, die zwei begehrten Kontrakte zu erhalten, auch weil es
um die Rangordnung der Firmen im enger werdenden globalisierten Konkurrenzkampf geht.
Die vier Konzeptteams gruppieren sich um die großen US-Rüstungsfirmen Lockheed-Martin,
Raytheon-Tales, Boeing-SAIC, Northrop Grumman. Beteiligt sind auch einige europäische
Firmen, wobei der europäische Konzern European Aeronautic Defence and Space Company
(EADS) in allen vier Teams dabei ist, also auf jeden Fall zu den Gewinnern gehören will. Im
Juni dieses Jahres will die NATO eine Auswahl treffen und 2004 eine Entscheidung fällen, so
dass etwa 2010 mit einer Stationierung begonnen werden könne. Die Integration der Software
und Kommunikationssysteme in das modernisierte Air Command and Control System (ACCS)
soll ab 2005 erfolgen.

Auch in anderen Regionen der Welt wird an TMD-Systemen gearbeitet, was die dortige
Rüstungsdynamik anheizt. Besonders weit fortgeschritten ist Israel, das nicht nur über die
offensive Jericho-Rakete verfügt, sondern auch über das Arrow-Abwehrsystem. Hier wird im
regionalen Kontext die globale Schwert-Schild-Logik der USA reproduziert: massiv
zuschlagen können, aber sich vor den Folgen schützen. Die USA tun ihr Bestes, um dieser
Logik auch in Japan, Südkorea, Taiwan oder anderswo zum Durchbruch zu verhelfen und
damit zugleich Absatzmärkte für die eigenen Abwehrsysteme zu schaffen.

Je mehr steigende Kosten und hohe Gewinnerwartungen eine Rolle spielen, umso mehr ist die
transatlantische Kooperation in der Raketenabwehr Widersprüchen und Konkurrenzen
zwischen den Partnern ausgesetzt. Hinter der europäischen Forderung nach
Technologietransfer verbirgt sich die Erwartung, dass die USA Europa Zugang zu
Technologien und Programmen ermöglichen sollen, um die "technologische Lücke" zwischen
Europa und den USA zu schließen. US-Firmen denken in der Regel jedoch nicht daran, ihren
technologischen Vorsprung preiszugeben, und sie haben die stärkere Hausmacht.

Querelen um MEADS

Unübersehbar wurden die Differenzen bei dem Abwehrprojekt MEADS, das nach Ansicht
des DASA-Vorsitzenden Manfred Bischoff der "Testfall der transatlantischen
Kooperationsfähigkeit" ist. (7) Mit dem mobilen System soll die veraltete
Hawk-Luftwabwehr ersetzt werden. Es geht um den Nahbereichs-Schutz der eigenen
Truppen bei "Out of Area"-Einsätzen, in Ergänzung zu den bodengestützten Systemen Patriot
PAC-3 und THAAD. (8) Um die hohen Kosten zu senken - die Schätzungen reichen bis
zu mehr als 20 Milliarden DM -, (9) unterzeichneten 1995 die USA, Deutschland,
Frankreich und Italien eine Absichterklärung über die Entwicklung von MEADS. Da sich
Frankreich kurz darauf aus finanziellen Gründen aus dem Projekt zurückzog und
Eigenentwicklungen den Vorzug gab (etwa dem schiffsgestützten Aster-System) musste der
ursprüngliche Kostenschlüssel von 50% für die USA, je 20% für Deutschland und Frankreich
sowie 10% für Italien geändert werden. Er liegt heute bei 55:28:17.

Das Projekt hatte von Anfang an mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. So verzögerte
der US-Kongress die Bewilligung der vorgesehenen Projektmittel. Das Pentagon bestand auf
einer veränderten Projektkonzeption, derzufolge MEADS im wesentlichen auf den
US-Systemen Patriot und THAAD aufbauen soll. Dies bedeutete für die europäischen
Partner einen Rückschlag und schloss eigenständige Entwicklungen wie das deutsche
Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) weitgehend aus. Dennoch stimmten sie zu, um
einen Ausstieg der USA aus dem Projekt zu verhindern. Weitere Unstimmigkeiten ergeben
sich aus der hinhaltenden Technologietransferpolitik der USA. So hatte es bis zu 259 Tagen
gedauert, bis das Pentagon die Weitergabe von Informationen über kritische Technologien
genehmigte. (10) Weitere Anträge, etwa zur Leistungsfähigkeit von PAC-3, wurden erst
gar nicht behandelt.

Auch wenn im Mai 2000 der Zugang Deutschlands und Italiens zu PAC-3 geöffnet wurde,
ging das "transatlantische Trauerspiel" weiter. (11) Ein vorläufiger Höhepunkt wurde
erreicht, als der Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Walther Stützle, in einem
Brief vom 26. November 2000 die deutsche Mitarbeit am MEADS-Programm aufkündigte.
(12) Als Begründung wurde angegeben, das MEADS-Konzept würde "nicht notwendig
den Erfordernissen genügen, um dem zukünftigen Spektrum sich abzeichnender
Bedrohungen für die Landesverteidigung und internationale militärische Operationen
zu begegnen." Der Kosovo-Krieg habe zudem gezeigt, dass Radarsensoren für die
Luftverteidigung durch Anti-Radar-Flugkörper unwirksam gemacht werden können. Auf
Druck Washingtons erklärte Verteidigungsminister Scharping das Schreiben Stützles kurz
darauf für nichtig und bewilligte für die Finanzierung der "Risk Reduction"-Phase von
MEADS 50 Millionen DM.

Russische Planspiele für eine Euro-Abwehr

Angesichts der drohenden US-Dominanz tritt der russische Präsident Wladimir Putin die
Flucht nach vorn an. Neben die Androhung von Gegenmaßnahmen gegen NMD und das
Angebot weiterer nuklearer Abrüstung tritt der Vorschlag für ein mobiles,
"gesamteuropäisches Raketenabwehrsystem" gegen nukleare Bedrohungen, das der russische
Verteidigungsminister Sergejew NATO-Generalsekretär Robertson bei seinem Besuch in
Moskau unterbreitete. (13) Danach soll vor dem Aufbau einer Raketenabwehr genau
analysiert werden, ob überhaupt eine Bedrohung vorliege. Sei dies der Fall, soll mit Hilfe von
Diplomatie und Kooperation versucht werden, der Bedrohung zu begegnen. Erst wenn dies
misslinge, soll ein Abwehrsystem aufgebaut werden, das allen europäischen Staaten offen
stehe und nicht zu Spannungen gegenüber den Ländern führen dürfe, die als potentielle
Angreifer gelten. "Paria-Staaten" soll es in Europa nicht geben.

Verwiesen wird auf die Erfahrungen Russlands, das aus sowjetischer Zeit nicht nur
verschiedene Luftabwehrsysteme zur Hand hatte, sondern bei Moskau in Übereinstimmung
mit dem ABM-Vertrag das einzige Abwehrsystem gegen Interkontinentalraketen besitzt und
auch über Testgelände verfügt. Die Schaffung einer Euro-Abwehr könne durch gemeinsame
schnelle Eingreifkräfte zur Raketenabwehr realisiert werden. Zu besprechen sei die
Abwehrarchitektur (Zahl der Abfanglinien, Zusammensetzung des Systems und
Zusammenwirken der Komponenten), die Rolle von weltraumgestützten Systemen zur
Erkennung von Raketenstarts sowie die Schaffung eines gemeinsamen Frühwarnzentrums für
Raketenstarts.

Besondere Bedeutung scheint Russland einer Abwehr in der Raketenstartphase beizumessen,
durch Systeme, die in der Nähe vermuteter Raketenbedrohungen stationiert werden (etwa auf
Schiffen). Auch wenn Moskau mit dem Konzept einige seiner Probleme mit NMD verringern
möchte, lassen sich andere Probleme nicht ausschließen, etwa die Inkompatibilität mit dem
ABM-Vertrag, technische Schwierigkeiten oder Gegenmaßnahmen potentieller Kontrahenten.
Ein mobiles Abwehrsystem könnte so stationiert werden, dass es auch russische oder
chinesische Raketen in der Startphase abwehren kann. (14)

Auch wenn der russische Vorstoß im Westen auf freundliches Wohlwollen stieß, bleibt seine
Implementierung fraglich. Wenn schon die engsten NATO-Verbündeten von den USA
vorgeführt werden, warum sollte der stärkste Rüstungskomplex der Welt auf eine Mitarbeit
des ehemaligen Gegenspielers angewiesen sein oder gar russische Rüstungsfirmen
unterstützen? Bush machte dann auch für sich das Beste daraus: Er wertete den russischen
Vorschlag als grundsätzliche Zustimmung zu den Raketenabwehrplänen der USA.

TMD und NMD - Zwei Seiten einer Medaille

Während über NMD heftig gestritten wird, bleibt TMD meist von der Kritik ausgespart, so als
handele es sich um das bessere Abwehrsystem. Dabei sind, allen Unterschieden zum Trotz,
TMD und NMD zwei Seiten derselben Medaille. (15) Wie in den achtziger Jahren liegt die
Funktion von Euro-TMD vor allem darin, die Ankopplung Europas an die globalen
Raketenabwehrpläne der USA herzustellen und so einer europäischen Kritik zu begegnen.
Während NMD sich gegen Interkontinentalraketen richtet, soll TMD die Abwehr von Kurz-
und Mittelstreckenraketen in verschiedenen Regionen der Erde bereitstellen. Einige der
Sensor- und Kommunikationssysteme ließen sich in einem integrierten Gesamtsystem für
beide Aufgaben nutzen.

Schwer zu schätzen sind die Kosten eines europäischen TMD-Programms, die in der
Größenordnung von einigen Dutzend Milliarden Dollar liegen könnten. Sie geraten in Konflikt
mit knappen Budgets und anderen kostspieligen Rüstungsvorhaben Europas. Sollte Europa in
die Raketenabwehrfalle tappen, bedeutet dies ein Rüstungsprojekt ohne erkennbares Ende und
ein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis von den USA, die hier immer voraus sein werden.
Die bereits in der SDI-Debatte vor 16 Jahren von Helmut Kohl propagierte Vorstellung,
Europa könne durch Mitarbeit in der Raketenabwehr wirtschaftlich oder technologisch etwas
gewinnen, ist absurd angesichts des geringen kommerziellen Marktsegments der betreffenden
Rüstungstechnologien und der protektionistischen "Buy-American"-Strategie, die jede
Gleichberechtigung ausschließt. (16)

Allen Anstrengungen zum Trotz bleibt der technische Erfolg von TMD fraglich. Zur Abwehr
von Kurzstreckenraketen bleiben nur wenige Minuten Reaktionszeit. Eine torkelnde oder in
mehrere Teile zerfallende Rakete in der Endflugphase ist schwer zu treffen. Ob die
Integration aller Komponenten zu einem komplexen aber dennoch zuverlässigen
Gesamtsystem gelingt, zeigt sich erst im Ernstfall. Sensoren und Kommunikationseinrichtungen
sind verwundbar gegenüber verschiedenen Arten von Attacken. Bislang sind die Fortschritte
von TMD eher ernüchternd. Dies wurde deutlich, als sich das Patriot-System bei seinem
Debüt im Golfkrieg zur Abwehr der irakischen Scud-Rakete als ungeeignet erwies. Alle
Abwehrversuche schlugen fehl, und der Schaden in den angegriffenen israelischen Städten
wurde sogar noch vergrößert, da die zur Abwehr eingesetzten Patriot-Raketen ebenfalls auf
bewohnte Gebiete herabfielen. (17)

Dass trotz dieser Fehlschläge die auf die sechziger Jahre zurückgehende Patriot-Rakete als
Zugpferd einer zukünftigen Euro-Abwehr dienen soll, erweckt wenig Vertrauen. Ungeachtet
aller politischen Debatten bleibt die Entwicklung der Raketenabwehr ein langwieriger und
kostspieliger Prozess ohne Erfolgsgarantie. Anlass zur Beruhigung bietet dies allerdings nicht,
denn wachsende Rüstungsausgaben, eine neue Rüstungsdynamik und die Neigung zur
weltweiten Kriegführung sind reale Probleme, die nicht weg zu definieren sind.

Um die Kosten und Risiken der Raketenabwehr zu rechtfertigen, wird nun auch in der
deutschen Debatte, gestützt auf Aussagen des Bundesnachrichtendienstes (BND), zunehmend
die Raketenbedrohung bemüht. In dem BND-Bericht vom Oktober 1999 zur Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersystemen heißt es: "Einige Staaten im
Nahen Osten arbeiten an Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1000 km. Damit
liegt auch NATO-Gebiet in der Reichweite dieser Raketen und der mit ihnen
gegebenenfalls bestückten Massenvernichtungsmittel." (18) Eine realistische
Bedrohungsanalyse, die nicht nur potentielle technische Fähigkeiten betrachtet, sondern auch
den politischen Kontext und die eigenen Drohpotentiale, steht immer noch aus.

Andere Akzente setzt Brigadegeneral a.D. Hermann Hagena, der in Führungsstäben der
Streitkräfte diente. Seiner Ansicht nach "ist die Wahrscheinlichkeit als äußerst gering
einzustufen, dass ein "Schurkenstaat" die erforderlichen Fähigkeiten zu einem Angriff
mit weitreichenden Raketen und MVW auf die USA oder NATO erlangt. Sie würde sich
weiter verringern, wenn es gelänge, Russland und China in die Anti-Proliferationsfront
der Weltgemeinschaft wirksam einzubinden und die Möglichkeiten der politischen
Einflussnahme auf die "rogue states" intensiviert würden. Entsprechende Angebote des
russischen Präsidenten Putin sollten ernst genommen werden. Der Annäherungsprozess
zwischen Süd- und Nordkorea wie auch die parlamentarischen Erfolge der gemäßigten
Kräfte im Iran sind Entwicklungen, deren Unterstützung mehr Erfolg verspricht als
schlecht abgestimmte oder gar einseitige militärische Reaktionen ..." (19)

Das Proliferationsproblem militärisch lösen zu wollen, entspricht dem Versuch, ein Feuer mit
Benzin zu löschen. Weitergehende politische und diplomatische Lösungsansätze, die den
Ursachen der Proliferation mit Abrüstung und Rüstungskontrolle, mit vertrauensbildenden
Maßnahmen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Konzepten regionaler Sicherheit zu Leibe
rücken, werden in der politischen Debatte zumeist ausgeblendet. Hier liegt aber das Feld, auf
dem sich Europa gegenüber den USA am ehesten profilieren und weltweit Ansehen und
Einfluss gewinnen kann.

Anmerkungen

1
Report of the Commission to Assess United States National Security Space
Management and Organization, Washington DC, Jan. 11, 2001; siehe auch die kritische
Bewertung G. von Randow, C. Stelzenmüller, Killersatelliten im All - Amerikas
Strategen denken wieder über Weltraumwaffen nach, Die Zeit 09/2001.

2
Siehe G. Neuneck, Missile Defense, Germany and Europe, Febr. 2001, in: Pugwash
Special Issue on NMD (im Druck).

3
Europäische Entwicklungen zur militärischen Weltraumnutzung werden im nächsten Heft
behandelt.

4
Siehe hierzu J. Scheffran, Die Europäische Verteidigungsinitiative - Testfall für SDI, in:
D. Engels, J. Scheffran, E. Sieker, SDI - Falle für Westeuropa, Köln 1987, S. 271-337.
Zu den Programmen Anfang der neunziger Jahre vgl. J. Scheffran, Raketenabwehr
contra Proliferation - Der Norden tut sich zusammen, in: Wissenschaft und Frieden 12,
1/94, S. 51-56. Eine umfassende technische Analyse findet sich bei J. Altmann, SDI for
Europe?, Frankfurt: HSFK Research Report 3/1988.

5
L. Hill, TMD - NATO Starts the Countdown, Jane`s Defence Weekly (JDW), 3 January
2001, S. 24-27. Entsprechende Informationen finden sich auch in: National Missile
Defence and the Alliance after Kosovo, Draft General Report to NATO Parliamentary
Assembly by Jan Hoekema, 3.10.2000; Das Nationale Raketenabwehrsystem (NMD)
und seine Folgewirkungen für die Allianz, Entwurf eines Zwischenberichts an die
Parlamentarische Versammlung der NATO, Berichterstatter: Karl A. Lamers, 6.
Oktober 2000, http://www.nato-pa.int.

6
JDW, 3.1.2001.

7
M. Bischoff, Sicherheitspolitik und Wirtschaft - Verteidigungstechnologie und
Verteidigungsindustrie, Europäische Sicherheit 3/98, S. 20-22.

8
Eine aktuelle Übersicht zu MEADS findet sich in einem Arbeitspapier von Tom Bielefeld
(IFSH), vorgetragen auf dem Workshop "National and Theater Missile Defenses after
the US Elections", Berlin, 14.-16.2.2001.

9
H.-J. Leersch, Scharping unter Beschuss wegen Raketenabwehr, Die Welt,
13.12.2000; A. Szandar, Angriffe aus Schurken-Staaten, Der Spiegel 16, 17.4.2000, S.
42.

10
U.S. General Accounting Office, Defense Acquisitions: Decision Nears on Medium
Extended Air Defense System, GAO/NSIAD-98-145, Juni 1998.

11
B.W. Kubbig, T. Kahler, Problematische Kooperation im Dreieck: Das trilaterate
Raketenabwehrprojekt MEADS, HSFK-Bulletin No.18, Herbst 2000,
www.hsfk.de/abm/index.html.

12
JDW 6.12.2000, S.3, H.-J. Leersch, Amerika verärgert: Berlin steigt aus
Rüstungsprojekt aus, Die Welt, 8.12.2000.

13
Siehe die Dokumentation von Auszügen in der FAZ vom 24.02.2001, S. 6.

14
Zur Kritik einer "boost-phase defense" siehe R.W. Jones, Taking Missile Defense to
Sea - A Critique of Sea-Based and Boost-Phase Proposals, Washington, DC: Council
for a Livable World Education Fund, October 2000, www.clw.org.

15
Zur Verbindung siehe M. Broek, F. Slijper, Theatre Missile Defence in Europe,
HSFK-Bulletin No 22, 2001.

16
Vgl. J. Scheffran, SDI - Wird Europa totgeforscht?, W+F 2/85.

17
Siehe T. A. Postol, Lessons of the Gulf War Experience with Patriot, International
Security, Winter 1991/92, Vol. 16, No. 3, S. 119-171.

18
BND, Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und Trägerraketen, Oktober 1999.
Siehe auch N. Busse, Atombomben auf Berlin und München?, FAZ 15.2.2001; BND:
Saddam Hussein baut Atomwaffen, Die Welt, 24.2.2001.

19
H. Hagena, NMD für die USA - Verteidigung gegen ballistische Flugkörper für die
NATO?, Europäische Sicherheit 7/2000, S. 14-19.

Regina Hagen ist im Vorstand des Global Network Against Weapons and Nuclear
Power in Space und Koordinatorin von INESAP.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären
Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit an der TU Darmstadt und
Redakteur von W&F.

E-Mail: regina.hagen@jugendstil.da.shuttle.de