Entwurf mit inneren Widersprüchen

PDS-Programmdiskussion: Sozialismus muss nicht nur mit einer anderen Ökonomie assoziiert werden, sondern zugleich auch mit politischem Liberalismus.

Aus: Z 46, Juni 2001, 39-42

Der Ansatz des von André und Michael Brie sowie Dieter Klein vorgelegten Programmentwurfes ist nicht nur sympathisch, sondern auch begrüßenswert. Michael Brie erklärte auf der öffentlichen Veranstaltung im AMON-Hotel Berlin am 7. Mai 2001, dass es darum gehe, "egalitären und libertären Sozialismus" zu verbinden.

Dies ist ein schwieriges aber lohnenswertes Unterfangen, geht es schließlich um eine notwendige Neubestimmung von Sozialismus. Sozialismus muss endlich nicht nur mit einer anderen als der kapitalistischen Ökonomie assoziiert werden, sondern zugleich auch mit politischem Liberalismus.

Wenn aber Liberalismus eine Denkrichtung ist, die die freie Entfaltung des Individuums fordert und staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen will, dann muss für SozialistInnen eben gerade klar sein, dass es sich um politischen und mitnichten um wirtschaftlichen Liberalismus handeln darf.

Bei genauerer Betrachtung des vorgelegten Entwurfes von André und Michael Brie sowie Dieter Klein muss dann allerdings konstatiert werden, dass dem selbst gesetzten Anspruch nicht genüge getan, zum Teil so gar in eklatanter Weise widersprochen wird (siehe Punkt 3).

1.

Die zentralen Punkte des Programmentwurfes sind "Freiheitsgüter" und der zu ihnen nötige "Zugang". Genau die Reduktion auf "Zugang" jedoch lässt einen der wesentlichsten Aspekte sozialistischer Politik außer Betracht, nämlich die Tatsache, dass es nicht nur um Aneignung gesellschaftlicher Produkte, sondern gerade auch um Einfluss auf ihre Entstehung durch die sie Produzierenden geht. "Zugang" suggeriert objektiv gegebene Dinge, hier Freiheitsgüter. "Zugang" suggeriert auch, es ginge allein darum, dass die Menschen nur gleich, sozial gleich, gerecht oder sozial gerecht zugreifen sollen können. "Zugang" lässt außen vor, dass, bevor der Schritt des Zugriffs erfolgt, auch Einfluss auf den Entstehungsprozess dieser Güter bitter notwendig ist. (Nur dann kommt man um eine Antwort auf die Eigentumsfrage nicht herum.)

Nun könnte argumentiert werden, dass in verschiedenen Passagen des Entwurfes die Freiheitsgüter näher definiert oder umschrieben werden, die Kritik am Begriff "Zugang" fehlgehe. Verwiesen werden könnte dann auf den Satz in der Präambel: "Strategische Entscheidungen über die Richtungen, Normen und Einschränkungen der sozialen, wissenschaftlich-technischen, ökologischen und kulturellen Entwicklung bedürfen bewusster und demokratischer Gestaltung sowie der Mitbestimmung der Produzentinnen und Produzenten, der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Kommunen und der gesellschaftlichen Bewegungen." Und immerhin deuten die Autoren z. B. in der Präambel an, dass die Menschen die Möglichkeit brauchen, über die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Lebens gemeinsam mit anderen entscheiden zu können. Dies alles wirkt aber wie Kosmetik, solange der zentrale und alles überragende Begriff der des "Zugangs" ist und in den Abschnitten über die einzelnen Freiheitsgüter eben gerade wieder allein auf den Zugang abgestellt wird.

Zwar werden die Freiheitsgüter und ihre gewünschte Beschaffenheit im Abschnitt III. näher definiert, aber es geht schließlich und endlich nur wieder um den Zugang zu diesen, nicht aber um konkrete Möglichkeiten der Einflussnahme auf ihre Verfasstheit.

Am Rande sei noch bemerkt, dass die Autoren möglicherweise selber ihre Schwierigkeiten mit dem "Zugang" haben. Im vorliegenden Entwurf purzeln die "Zugänge" fröhlich durcheinander und werden mal mit dem einen und mal mit einem anderen Adjektiv verschönert. Da wird auf der einen Seite formuliert, dass nicht der Profit darüber bestimmen dürfe, unter welchen Bedingungen Menschen den "Zugang" zu den Bedingungen freier Entwicklung moderner Gesellschaften erhalten (Präambel), und auf der anderen Seite ist dann die Rede von der prinzipiellen "Gleichheit des Zugangs" zu den Freiheitsgütern (I.1.). Nach Ansicht der Autoren kämpfen soziale Emanzipationsbewegungen für die Schaffung "gleicher sozialer Möglichkeiten des Zugangs" (I.2.) zu den wichtigsten Gütern der Gesellschaft. Im Abschnitt III. 4. wird dann gar der "rechtlich gesicherte Zugang" zu existenzsichernder und ökologisch verantwortbarer Erwerbsarbeit gefordert. Diese Aufzählung könnte noch weiter geführt werden, soll aber nur deutlich machen, dass die Konsistenz des Entwurfes nicht gewahrt ist. Da es einen Unterschied macht, ob ich für gerechten oder gleichen, für sozial gleichen oder gleichen "Zugang" bin, müsste hier mindestens eine nähere Erläuterung erfolgen, warum wann welcher "Zugang" angemessen erscheint, oder es ist eine Entscheidung für eine der verschiedenen "Zugangs"arten erforderlich.

2.

Problematisch erscheint weiterhin, dass das Thema Rechtsextremismus unter dem Punkt Frieden und Gewaltfreiheit (III.2.) abgehandelt wird, im Punkt Demokratische Teilhabe (III.1) aber mit keinem Wort erwähnt wird. Rechtsextremismus ist in erster Linie eine Gefahr für die Demokratie, und die Gewalttaten Rechtsextremer sind lediglich die Spitze des Eisberges. Rechtsextremismus zu bekämpfen ist Aufgabe der demokratischen Kräfte und darf keinesfalls mit der Einschränkung demokratischer Grundrechte einhergehen, wie es derzeit mit dem Versammlungsrecht versucht wird. Dies wird zwar im Punkt III.2. erwähnt, wirkt aber an dieser Stelle deplaziert.

Es ist auch eine Verkürzung der komplexen Ursachen von Rechtsextremismus, wenn das Wiederaufleben rechtsextremer und neonazistischer Kräfte aus der Mitte der Gesellschaft und aus der bewussten Missachtung gegenüber der Aufgabe hergeleitet wird, allen Menschen ein soziales und menschenwürdiges Leben zu bieten. Unzweifelhaft entsteht Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft, aber die Entstehung aus der Missachtung der Aufgabe, allen Menschen ein soziales und menschenwürdiges Leben zu bieten, ist monokausal. Ein soziales und menschenwürdiges Leben allein ist keine Garantie für die Verhinderung von Rechtsextremismus. Dies zeigt auch die Tatsache, dass es in der DDR Rechtsextremismus - zum Teil staatlich toleriert - gegeben hat.

Insoweit kann auch der von Winfried Wolf und anderen vorgelegte Entwurf nicht überzeugen. Dort wird in bezug auf die besondere Betoffenheit Ostdeutschlands vom Anwachsen rassistischer und faschistischer Tendenzen formuliert: "Die jähe politische Wende 1989/90, biographische Brüche und fehlende Vorbilder für Jugendliche, der niedrige Lebensstandard und vor allem die massiv höhere Erwerbslosenquote, insbesondere unter Jugendlichen, bieten hierfür einen fruchtbaren Nährboden. Das haben führende Vertreter der neonazistischen Organisationen früh erkannt, als sie bereits 1989 den Schwerpunkt ihrer propagandistischen und organisatorischen Arbeit auf die neuen Länder konzentrierten."

Völlig inakzeptabel ist allerdings, wenn im Entwurf von Winfried Wolf u.a. in den 15 Reformpunkten formuliert wird: "Verbot faschistischer Organisationen." In lückenloser Fortführung des Satzes: "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" wird kurzerhand Demokratie außer Kraft gesetzt. Ja, Faschismus ist ein Verbrechen, aber eine faschistische Meinung ist zunächst eine Meinung. Und mit dieser muss sich auseinandergesetzt werden. Verbote helfen nichts, sie vertreiben die Gedanken nicht aus den Köpfen. Demokratie muss menschenverachtende Meinungen - nicht Handlungen - aushalten können, sie muss mit ihnen umgehen und sie muss zu gesellschaftlicher Ächtung solcher Meinungen beitragen. Demokratie ist aber nur wehrhaft, wenn sie sich diese Wehrhaftigkeit erringt, nicht aber wenn per Gesetz eine Meinung verboten wird.

3.

Völlig ad absurdum wird der politische Liberalismus der Autoren aber geführt, wenn unter dem Punkt Frieden und Gewaltfreiheit (III.2.) des Entwurfes der Satz formuliert wird: "Der Schutz gegen kriminelle Gewalt ist ein Grundrecht, das der Staat für jede und jeden zu gewährleisten hat."

Wahrscheinlich unbeabsichtigt, dennoch grob fahrlässig, wird hier der herrschende Sicherheitsdiskurs bedient, der Einschränkung von Grundrechten gerade mit einem Grundrecht auf Sicherheit begründet. Eine Richtung, die die Autoren zwar ausdrücklich ablehnen, der sie mit der von ihnen vorgeschlagenen Formulierung aber Tür und Tor öffnen. Ist erst einmal ein Grundrecht auf Sicherheit eingeführt, lässt sich jede Einschränkung von bürgerlichen Freiheitsrechten im Sinne des Rechtes auf Sicherheit begründen.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar aus den Artikeln 1-19 des GG ein grundrechtlich verbürgten Schutz bei konkret drohenden Gefahren einschließlich des Schutzes vor latent drohenden Gefahren aus gefährlichem Tun anderer BürgerInnen abgeleitet, allerdings kann daraus kein abstraktes Grundrecht auf Sicherheit gefolgert werden. Mit den Grundrechten wurde eine objektive Werteordnung geschaffen, die ihrerseits die Grundrechte in erster Linie als Abwehrrechte gegen den Staat anerkennt. Nach dieser objektiven Werteordnung begründen die Grundrechte also vorrangig Freiheit vor dem Staat, nicht Freiheit im Staat im Sinne von Sicherheit, so z.B. vor Kriminalität (vgl. F. Roggan, Auf legalem Weg in einen Polizeistaat, S. 217).

Will die PDS tatsächlich sozialistische Bürgerrechtspartei sein, muss ganz schnell vom Recht auf Sicherheit Abstand genommen werden oder eine Klarstellung erfolgen, was mit der zitierten Aussage gemeint ist.

Als Fazit bleibt festzustellen, dass der Entwurf in sich widersprüchlich ist und somit noch gehöriger Überarbeitung bedarf, um seinem selbst gesteckten Anspruch und einem Programm einer sozialistischen Partei zu entsprechen.