Im Kapitalismus angekommen

Die Bündnisgrünen haben nach disziplinierter Diskussion ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet.

Das alte aus dem Jahre 1980 spiegelte schon lange nicht mehr die praktische Politik der Partei und ihrer Sonntagsreden wider. In zwei Punkten kommt die Veränderung prägnant zum Ausdruck: Da wird zum einen in der Präambel festgehalten, dass die Anwendung völkerrechtlich legitimierter Gewalt sich nicht immer ausschließen lasse. Zum anderen kann der grüne Finanzpolitiker Klaus Müller triumphierend feststellen: "Jetzt haben wir auch ein Kapitel Marktwirtschaft". Darin heißt es: "Wir wollen den funktionsfähigen Wettbewerb zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher". Mit anderen Worten: Die Grünen sehen ihre Zentralaufgabe in der Herstellung eines funktionstüchtigen Kapitalismus, weil nur so Wachstum und Wohlstand zu verwirklichen sind.

Der taz war dieses Ankommen im Kapitalismus ein Kommentar auf der Titelseite wert. Die langjährige publizistische Begleiterin der einstigen "Antipartei" ist selbst seit geraumer Zeit zur kleinen, aber engagierten Stimme in der bundesdeutschen Überredungsindustrie mutiert, die den BewohnerInnen der Berliner Republik weismachen will, bei der Globalisierung habe man nichts als das Glück der Menschheit im Sinn. Die taz titelt: "Die Grünen - Partei des etwas aufgeschlosseneren Bürgertums". In der Tat wurden mit diesem Programm langjährige Entwicklungen parteiamtlich auf den Punkt gebracht und damit jetzt offiziell der Platz im linken politischen Spektrum freigegeben.

Wird die PDS dieses Angebot nutzen? Diese Gefahr wird wiederum von den meisten Beobachtern als nicht sehr groß eingeschätzt. Sicherlich, bei der PDS wird - wie das verabschiedete Programm zu den Bundestagswahlen zeigt - an einem Grundeinkommen festgehalten, die Arbeitslosen und die anderen von der kapitalistischen Erwerbsgesellschaft diskriminierten BürgerInnen werden als Opfer eingestuft und nicht als Nassauer oder Sozialschmarotzer bekämpft. Unbestreitbar ist auch, dass die PDS Krieg oder militärische Einsätze als Konfliktlösungsmittel ablehnt. Und, was auch schon längst nicht mehr selbstverständlich ist in der politischen Kultur dieses Landes, bei der PDS dürfen sozialistische Träumer und "marxistische Spinner" am Rande noch mittun. Aber auch bei dieser Partei bringt eine Passage aus der Rede des Gysi-Nachfolgers Roland Claus die Vorstufe des Ankommens im bundesdeutschen Kapitalismus auf den Punkt. Claus zitiert mit Blick auf die laufenden Korruptionsaffären bei den Parteifinanzen MarxÂ’ Analyse des "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte". In der Tat betrachten die politischen Parteien der bürgerlichen Republik die riesige Staatsmaschinerie auch heute noch als ihre Beute, wo sie ihre Anhänger, Mitläufer und Sympathisanten unterbringen können und keine Form der Bereicherung am gesellschaftlichen Reichtum auslassen. Auf das Problem, dass bei dieser Exekutivgewalt mit ihrer ungeheueren bürokratischen und militärischen Organisation immer die Gefahr der Verselbständigung sowohl der Staatsmaschinerie wie der verschiedenen Bestandteile der politischen Klasse besteht, hat Karl Marx hingewiesen. Unter bestimmten Bedingungen genügt ein (charismatischer) "Führer", "ein aus der Fremde herbeigelaufener Glücksritter, auf den Schild gehoben von einer trunkenen Soldateska, die er durch Schnaps und Würste erkauft hat, nach der er stets von neuem mit der Wurst werfen muss", um die Verselbständigung vollständig zu machen.

Auf das im achtzehnten Brumaire aufgeworfene Problem, wie man den Marsch in die politische Sackgasse vermeidet und eine Veränderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege schafft, ohne sich in den Grenzen des Kleinbürgertums wohnlich einzurichten - auf diese Schlüsselfrage wollte oder konnte der Fraktionsvorsitzende der PDS nicht eingehen. Die Vorschläge von Marx, wie man der zerstörerischen Logik der demokratisch-republikanischen Institutionen entgehen kann,1 mag man in der PDS-Führung nicht für modern oder tragfähig halten, aber der Appell an die moralische Integrität der von den demokratischen Sozialisten gestellten Mandats- und Funktionsträger reicht als Perspektive nicht aus. In diesem Falle müssen wir dem einstigen KPD- und späteren SPD-Funktionär Herbert Wehner recht geben: "Selbst der Sauberste stinkt, wenn er in einen Eimer Scheiße steigt."

Die PDS dient sich als Nachlassverwalterin der einst systemkritischen Bündnisgrünen und des implodierten Flügels der linken Sozialdemokratie an, aber das praktisch-politische Angebot bleibt so dürftig wie die programmatisch-politische Positionsbestimmung. Unterstellen wir einmal, dass die PDS ein Bewusstsein von der gefährlichen Logik der Staatsmaschinerie hat und keineswegs daran denkt, ihre Anhänger mit staatlichen Einkommensprämien oder sonstigen "Renten" zu versorgen. Eine Antwort auf folgende Fragen wird man in den Wahldokumenten wie der Regierungspraxis, aber auch auf politisch-parlamentarischer Ebene gleichwohl vergeblich suchen: Wie kann man zunächst den überlieferten staatlichen Apparat für eine Neuorganisation der gesellschaftlichen Wertschöpfung einsetzen, ohne die für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Gegensätze in der Primärverteilung (Arbeits- und Gewinneinkommen) und - auf allen nachgeordneten Ebenen - der Sekundärverteilung zu reproduzieren? Zugleich stellt sich das Problem, wie man eine weitere Ausdehnung der Staatsmaschinerie mit ihren negativen Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Leben verhindern kann. Wie also kommen wir voran bei der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Herausbildung einer neuen Form der gesellschaftlichen Ökonomie, bei der die Wahrnehmung und Verwaltung öffentlich-allgemeiner Funktionen nicht zur persönlichen Bereicherung genutzt wird?

Die Bewertung der aktuellen gesellschaftlichen Praxis könnte kaum negativer ausfallen: Die Sozialdemokratie ist in einen Spendenskandal verwickelt, bei dem es um Schmiergeldzahlungen zur Erlangung kommunaler Investitionsaufträge geht. Dass auch in Deutschland seit geraumer Zeit der Wettbewerb um öffentlicher Aufträge "geschmiert" wird, ist bekannt. Bei der Müllverbrennungsanlage in Köln, die jetzt im Zentrum des öffentlichen Interesses steht, geht es immerhin um ein Investitionsvolumen von 425 Millionen Euro. In Zeiten rückläufiger kommunaler Investitionen und verschärfter Kapitalkonkurrenz sind solche Projekte hart umkämpft. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Clement hat angekündigt, man werde die Bekämpfung der Korruption zur vordringlichen Staatsaufgabe machen. Dass dieser Ankündigung Taten folgen, kann mit Blick auf die zurückliegenden Skandalfälle bezweifelt werden. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass kommunale Funktionsträger der Sozialdemokratie bei dem schmutzigen Geschäft der Vergabe öffentlicher Investitionen ihre persönliche Bereicherung betreiben. Öffentliche Bauaufträge, Infrastrukturinvestitionen, Geschäfte im Transport- und Energiebereich sind bevorzugte Sphären von Schmiergeldoperationen. Bis 1999 konnten Schmiergeldzahlungen bei Auslandsaufträgen sogar von der Steuer abgesetzt werden, und harte Sanktionen gegen den Einsatz entsprechender Praktiken im Inland sind stets abgebogen worden. Es ist den bundesdeutschen Staatsanwaltschaften seit langem bekannt, dass Anlagenbauer im Ausland millionenschwere Konten zur Pflege der politischen Landschaft unterhalten. Das Schmiergeld-System wird über Schweizer Bankkonten abgewickelt, womit zumindest rein banktechnisch der Vergleich mit den Finanzskandalen der CDU auf der Hand liegt.

Erneut zeigt sich, dass die angekündigte "brutalstmögliche Aufklärung" nur im Schneckentempo vorankommt. Selbstverständlich ist einzuräumen, dass eine Innenrevision beim Prüfen der Kassenbücher und Befragungen von Parteimitgliedern nur mühsam gegen kriminelle Energien ankommt. Auf der anderen Seite steht außer Frage, dass der einstige sozialdemokratische Ehrenkodex längst in die Museen für die Geschichte der Arbeiterbewegung abgeschoben worden ist. Die sozialdemokratische Partei hat sich seit längerem von den Zielen umfassender Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit verabschiedet. Dem eigenen Selbstverständnis nach will die SPD nur mehr eine Volkspartei sein, die in den spätkapitalistischen Verhältnissen für Innovation und Chancengerechtigkeit sorgt. Soziale Ungleichheit ist - selbstverständlich in Maßen - als Motor der Akkumulation und des gesellschaftlichen Fortschritts anerkannt. Logischerweise wird daher auch die Willensbildung in der Partei längst durch multimediale Machtkartelle organisiert und bestimmt. Wie bei den anderen Parteien entscheidet der Zugang zu öffentlichen Mandaten und die Disposition über öffentliche Ressourcen die innerparteilichen Machtauseinandersetzungen. Zugespitzt formuliert: Nicht einmal bei den diversen sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaften (für Arbeitnehmer, für Frauen, Jungsozialisten etc.) entscheiden Argumente den Wettstreit unterschiedlicher Konzeptionen. Zwar wird die Vorstellung gepflegt, die politische Willensbildung werde ausgehend von den aktiven Ortsvereinen in die Parteispitze hochbuchstabiert, aber faktisch ist die Top-down-Struktur der Normalfall für die Programmatik. Mag sein, dass - um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen - die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer etliches zu einer Reform des Arbeitsmarktes beizutragen hat, die Entscheidungen für den weiteren Umbau des "Rheinischen Kapitalismus" werden aber an anderer Stelle vorbereitet und exekutiert.

Selbst bei einer rücksichtslosen Aufklärung des Spendenskandals und der Verwicklungen bei der Müllentsorgung wird diese Affäre für die Krise der politischen Repräsentanz ein weiteres Mosaiksteinchen liefern. Die stark rückläufige Wahlbeteiligung (zuletzt in Bayern) ist Ausdruck der Abwendung von einem gesellschaftlichen Willensbildungssystem, in dem der Kampf um öffentliche Mandate und Ressourcen mit allen - d.h. auch kriminellen - Mitteln ausgetragen und entschieden wird. Korruption, versumpfte Parteifinanzen und machiavellistische Machtkartelle (Seilschaften, Koordinationskreise etc.) sind mittlerweile Bestandteile dieses Systems und keine begrenzten Fehlentwicklungen. Die Richtung, in die sich die demokratisch-republikanischen Systeme in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften entwickeln, ist deutlich erkennbar. Das jüngste Ergebnis der Parlamentswahlen in Portugal kann dafür als exemplarisch gelten. Nur mehr 62% der WahlbürgerInnen beteiligen sich an der Neubestellung der Regierung und der parlamentarischen Kontrollorgane. Der linke Flügel des Parteienspektrums - in diesem Fall Sozialisten und Kommunisten -, der für sich beansprucht, die Mehrheit der Arbeitenden zu repräsentieren und deren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu gestalten, bleibt in der Minderheit. Nach Jahren einer sozialdemokratisch-sozialistischen Regierungspraxis reicht das erzeugte Maß an Enttäuschung aus, um die bürgerlichen Kräfte in offener oder heimlicher Kooperation mit den Rechtspopulisten an die gesellschaftliche Macht zu bringen. Es steht zu befürchten, dass wir entsprechende Wahlergebnisse in Europa in diesem Jahr noch häufiger quittieren müssen. Und kann Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein progressives Projekt werden, wenn es mehrheitlich von rechtsbürgerlichen Regierungskoalitionen bestimmt wird?

1 Zum Nachlesen: Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx-Engels-Werke, Band 8, S. 110ff., Berlin 1960