Wissen und Bildungssystem: PISA-Studie und "neuer Intergouvernementalismus"

Betrachtet man dieEntwicklung des deutschen Bildungswesens in längeren Entwicklungszeiträumen,dann stellt man fest, daß Bildungsreformen vor allem dann erfolgten, wenn große Umbrüche ...

... oder Erschütterungen die Krise des Bildungssystems offensichtlich werden ließen: Verlorene Schlachten - und die damit einhergehende geschwundene Massenakzeptanz - lösten die Humboldtschen Reformen aus; der verlorene Erste Weltkrieg und die revolutionäre Stimmung danach führten zur Reichsschulkonferenz und zur einheitlichen, staatlichen Grundschule; auf die Niederlage des Faschismus folgten Lehr- und Lernmittelfreiheit, Demokratisierung der Inhalte und im Osten die polytechnische Einheitsschule. Der Sputnik-Schock, letztendlich die Systemkonkurrenz mit dem sozialistischen Lager, und die Studenten- und Jugendproteste in den siebziger Jahren führten zur Gesamtschule, zur Hochschulreform und der Forderung nach mehr Chancengleichheit. Was wird der aktuelle PISA-Schock bewirken - demokratische Reformen oder nur eine technokratische Modernisierung der Schule?

In den letzten Jahren grassierte bei den Herrschenden ein Selbstbewußtsein, das beste Schulsystem der Welt zu haben, und von der Seite der Qualifikation der Bevölkerung her für die globale Standortkonkurrenz bestens gerüstet zu sein. Zumal nach der Implosion des realexistierenden Sozialismus schwoll der Kamm. Das westdeutsche Schulsystem wurde den Ländern der ehemaligen DDR einfach übergestülpt. Ohne langes Nachdenken wurden andere Erfahrungen und alternative Reformvorstellungen der Jahre 1989/90 beiseitegeschoben. Weder die systematische Vorschulerziehung noch die polytechnisch orientierte Einheitsschule bis Klasse 10, weder Abitur mit Berufsausbildung noch die systematische Weiterbildung blieben in Ansätzen erhalten - alles Dinge, die heute wieder verstärkt zur Diskussion stehen. Nun aber hat das Selbstbewußtsein der Herrschenden einen tiefen Knacks bekommen: Die Bundesregierung schickte sich gerade an, in der Champions-League der Großmächte mitzuspielen, da zeigt die Punktetabelle, dass es nur zur Kreisklasse reicht. Die deutsche Linke, die letzten Jahre mehr damit beschäftigt, wenigstens die Reformansätze der Vergangenheit zu verteidigen, kann sich allerdings nicht zurücklehnen und sagen: "Das haben wir ja schon immer gewußt."

Warum die Aufregung? Das deutsche Bildungssystem ist in dem internationalen Leistungsvergleich PISA unter 32 beteiligten Ländern nur auf Platz 20 bis 25 gelandet. Ein Beweis dafür, dass die Bundesrepublik bildungspolitisch mit den anderen Ländern, selbst mit materiell weniger potenten Ländern wie Griechenland, Portugal und Polen, nicht mithalten kann, und mit Ländern wie Brasilien und Mexiko die Schlußgruppe bildet. Ein Schock nicht nur für diejenigen, die unser Bildungssystem für vorbildlich befinden ("Modell Deutschland"), sondern auch für diejenigen, die es zumindest im Prinzip für in Ordnung halten und auf Binnenoptimierung und Effizienzsteigerung setzen - immerhin hatten sie sich von PISA einen Schub für ihre Modernisierungsvorstellungen erhofft. Doch die Tiefe und Breite des Schocks ob der verheerenden Ergebnisse hat sie alle überrascht.[1]

Hier soll versucht werden, für die gesellschafts- und bildungspolitische Diskussion einige besonders erörterungswürdige Punkte zu benennen; 900 Seiten veröffentlichtes Material liefern viele Aspekte für die Diskussion, die m. E. breit und sorgfältig geführt werden muss.

PISA-Studie - Anlage, Fragen und Methodik der Erhebung

PISA (Programme for International Student Assessment) ist ein mehrjähriges Programm zur "zyklischen Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation", das von der OECD mit dem Ziel durchgeführt wird, "den Regierungen der teilnehmenden Länder auf periodischer Grundlage Prozess- und Ertragsindikatoren zur Verfügung zu stellen, die für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme brauchbar sind"[2]. Die Erhebungen werden in den Jahren 2000 (Schwerpunkt Lesekompetenz), 2003 (Schwerpunkt mathematische Kompetenz), 2006 (Schwerpunkt naturwissenschaftliche und fächerübergreifende Kompetenz) in 32 Ländern (davon 28 OECD-Länder) bei 180.000 15-jährigen Schülern (Klasse 9) durchgeführt, wobei in jedem Land zwischen 4500 bis 10.000 Schüler nach Zufallsstichproben ausgewählt werden. In der BRD nahmen 5000 Schüler aus 29 Schulen an PISA teil, dazu rund 50.000 Schüler an fast 1500 Schulen an den parallel dazu durchgeführten PISA-E-Erhebung (PISA-Ergänzung), einer eigenen bundesdeutschen komplementären Untersuchung in weiteren Bereichen, deren Auswertung im Herbst 2002 veröffentlicht wird und mit der ein (gewollter) Schulartenvergleich möglich sein soll. Hiervon sind bisher nur Teilergebnisse in die PISA-Auswertung eingeflossen. Es handelt sich um die bisher umfangreichste Erhebung der Bildungsarbeit nach einheitlichen Ertragsindikatoren in der Welt, durchgeführt von der OECD nach politischer Übereinkunft mit den beteiligten Regierungen und unter Einbeziehung zahlreicher Wissenschaftler zu den Test-Aufgaben in den jeweiligen Ländern.

Die Daten werden nach der Multiple-Choice-Methode und frei formulierten Antworten erhoben (Testdauer: sieben Stunden), dazu gab es einen Schülerfragebogen mit Hintergrundfragen und einen Schulleiterfragebogen zur Situation an der Schule sowie einen Erhebungsbogen für Eltern zur sozialen Situation.

Die Schülerinnen und Schüler wurden zur Familiensituation, zum Freizeit- und Fernsehverhalten, zur Schulfreude, zur Unterstützung durch die LehrerInnen, zu ihren Cliquen, zum Besitz von Gebrauchsgütern, zu den Wohnverhältnissen (eigenes Zimmer?), aber auch nach Literatur und Gedichten in der Familie oder dem Hörverhalten von Musik befragt (Internationaler Schülerfragebogen). Dazu gab es in Deutschland eine eigene Ergänzung und - nur in Deutschland - einen Elternfragebogen zur sozialen Lage, wobei z.B auch gefragt wurde: Wie oft haben Sie den Kindern in der Vorschulzeit vorgelesen?

Da die Schülerfragebögen oft ungenau ausgefüllt worden waren, wurden die fehlenden Angaben auf Basis von Schätzungen ergänzt. Die Schulleiter wurden zur Schulsituation befragt. Die Fragen betrafen Sitzenbleiben, Klassengrösse, Schulwechsel (und deren Gründe), sowie die "Marktposition der Schule". Gefragt wurde, ob es an der Schule "reformorientierten Unterricht" gäbe. Eine Frage lautete: "Wie sehr wird das Lernen von 15jährigen an ihrer Schule durch Folgendes beeinträchtigt?" Nach einer Intensivitätsskala von 1-4 konnten folgende Antworten angekreuzt werden: "Häufige Abwesenheit von Schülern, fehlende elterliche Unterstützung beim Lernen zu Hause, Störung des Unterrichts, Schwänzen, fehlender Respekt von den Lehrkräften" u.a. Auch Fragen nach Über- und Unterforderung sowie nach der Arbeitsmoral der Lehrer, zur elterlichen Schulwahl und zu den Schulressourcen mussten die Schulleiter beantworten. Jeder Praktiker weiss jedoch, dass die Wahrnehmung der Schulleitungen von der Realität meilenweit entfernt ist.

Der eigentliche Leistungsvergleichstest bestand aus je einem Teiltest zur Lesekompetenz, zur mathematischen und zur naturwissenschaftlichen Grundbildung (Nebenkomponente mit 60 Minuten Testzeit) und zum selbstregulierten Lernen sowie zu Kooperation und Kommunikation. Zu den beiden letzten Vergleichstests wurden freiformulierte Schülerantworten, zu den anderen Tests verschiedenartige Aufgabenlösungen verlangt. So gehörten zum Test über Leseverständnis Erzählung, Darlegung, Anweisung, aber auch Diagramm, Tabellen, Karten; in der Mathematik ging es um Textaufgaben, Flächenberechnungen, Proportionen, Prozentrechnung. In Deutschland gab es jeweils Zusatzaufgaben, oft mit erheblichem Gewicht im Vergleich zur internationalen Aufgabenstellung (z.B. wurden in Mathematik international 31, national 86 Aufgaben gestellt).

Bei der Auswertung der PISA-Tests wurden die verschiedensten international üblichen statistischen und vergleichbaren Verfahren angewandt: Mittelwertbildung, Clustern, Skalieren. Die Tests selber wurden nach dem Design des Multi-Matrix-Sampling durchgeführt - die Teiltests wurden aufgespalten und zu Itembündeln auf einzelne Testhefte verteilt, die von jeweils einem Teil der Schüler bearbeitet wurden.

Alle Schüler erhielten bei PISA 2000 Leseaufgaben, aber nur ein Teil - nach Zufallsstichproben ausgewählt - Aufgaben aus Mathematik oder Naturwissenschaften. Alle erhielten den Schülerfragebogen und die Fragen zum Problemlöseverhalten. Für die Auswertung wurden Fähigkeitsniveaus gebildet, denen die Ergebnisse zugeordnet wurden.[3] Um die Elternberufe vergleichbar zu machen, legte man die sogenannten ISCO-Codes zugrunde, wie sie von der IAO (ILO)[4] seit 1990 verwendet werden. Die Bildungsausgaben wurden nach OECD-üblichen Verfahren verglichen. Die Codierung bei den 35-45 Prozent Tests mit freien Formulierungen haben später Studenten vorgenommen. Die Stichproben erfolgten in Deutschland ohne Schüler aus Sonderschulen für geistig, körperlich oder mehrfach Behinderte. Lediglich eine Schule wurde bei der Auswertung ausgeschlossen, weil weniger als 50 Prozent der Schüler beteiligt waren.

Anlage und Methodik der PISA-Studie werden deshalb relativ ausführlich dargestellt, um deutlich zu machen, dass eine Methodenkritik im einzelnen (Mittelwerte, Multi- Matrix-Sampling, Schulleiterfragebögen, Codierung freier Antworten) zwar manchen Ziffernwert relativieren mag, aber nicht so gravierend ist wie bei anderen bildungspolitisch relevanten empirischen Untersuchungen (wie zum Beispiel bei der LAU [Lernausgangslagenuntersuchung] in Hamburg). Zu bedenken bleibt, dass auch PISA nur begrenzt bestimmte Teil-Ergebnisse eines Lern- und Bildungsprozesses mißt, nicht aber den Prozeß selber erforscht. Die Ergebnisse bedürfen deshalb auch der Interpretation. Zu fragen ist allerdings, ob die nun vorliegenden Ergebnisse nicht durchaus bedeutsame Rückschlüsse auf die Bildungspolitik und das Bildungssystem zulassen. Ich meine, dass das der Fall ist, schon deshalb, weil diese Untersuchung über Lernergebnisse zugleich den sozialen Hintergrund einbezieht.

Ergebnisse der PISA-Erhebung[5]

Lesekompetenz: 10 Prozent der SchülerInnen im OECD-Raum erreichen hervorragende Leistungen, in Deutschland nur 9 Prozent (Mittelfeld). In Australien, Kanada, Finnland, Neuseeland und England sind es sogar über 15 Prozent. Sechs Prozent im OECD-Schnitt erreichen nicht die unterste Kompetenzstufe, in Deutschland 10 Prozent. Hinzu kommen hier für die unterste Kompetenzstufe weitere 13 Prozent - dieser Wert wird nur von Mexiko und Luxemburg übertroffen.

Gesamtleistung: Hier liegen deutsche Schüler bei der Lesekompetenz zwischen Rang 21 und 25, bei mathematischer Grundbildung zwischen Rang 20 und 22, bei naturwissenschaftlicher Grundbildung zwischen Rang 19 und 23. Dabei fällt auf, dass in Deutschland eine extrem hohe Leistungsstreuung besteht, während z.B. in Italien, bei gleichem Leistungsstand, die Streuung signifikant geringer ist. Die höchsten Leistungen bei Lesekompetenz haben Finnland, Japan und Korea erreicht. Diese Länder weisen zugleich die geringste Leistungsstreuung auf.

 

Es fällt auf, dass bei den verschiedenen Leistungskriterien sowohl die Spitzengruppe wie die Gruppe am Ende der Skala jeweils von Schülern aus fast immer denselben Ländern gebildet werden[6] (vgl. Übersicht).

 

Rangfolge der Länder in der PISA-Studie nach Leistungskriterien

Lesekompetenz

Mathematische
Kompetenz

Naturwissenschaftliche Kompetenz

1 Finnland

2 Kanada

3 Neuseeland

4 Australien

5 Irland

...

21 Deutschland

30 Mexiko

31 Brasilien

1 Japan

2 Korea

3 Neuseeland

4 Finnland

5 Australien

...

20 Deutschland

30 Mexiko

31 Brasilien

 

1 Korea

2 Japan

3 Finnland

4 England

5 Kanada

...

20 Deutschland

30 Mexiko

31 Brasilien

 

Leistungsunterschiede und Schulsystem: Bei Leistungsunterschieden in Ländern mit gegliedertem Schulwesen - das sind im OECD-Rahmen Belgien, Deutschland und die Schweiz - liegt die Streuung zwischen den Schularten oder Schulformen. Bei Ländern mit integriertem Schulwesen ist sie geringer und liegt innerhalb der Schulen. PISA zeigt nach Ansicht der OECD weiter, dass "eine breite Beteiligung an Bildungsgängen zu höheren Abschlüssen und die Sicherung eines hohen Leistungsniveaus gleichzeitig realisierbar ist. Das heißt, ein hohes Leistungsniveau bedarf nicht notwendig einer frühen Auslese". Die OECD verweist in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse in Finnland, Schweden und Island.

Leistungsniveau und sozialer background: Ein "ungünstiger sozioökonomischer Hintergrund" gehört zu den Faktoren, "die sich am stärksten auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler auf den PISA-Skalen (...) auswirken"[7] In allen Ländern besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem familiären Hintergrund und den Lernleistungen, doch zeigen einige Länder, dass eine hohe durchschnittliche Bildungsqualität mit einer ausgewogenen Verteilung der Bildungserträge einhergehen kann: In Kanada, Finnland, Island, Japan, Korea und Schweden liegt das Leistungsniveau (...) über dem Durchschnitt, während die Effekte des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status auf die Schülerleistungen zugleich unterdurchschnittlich ausgeprägt sind".[8] In Deutschland wirkt sich der soziale Hintergrund besonders stark aus, hier sind die Unterschiede im internationalen Vergleich am größten, während in Ländern mit integrierten Schulsystemen dieser Faktor nicht so ausprägt ist. Das wird durch den Migrationshintergrund verstärkt. "Andere Länder (Norwegen, Schweden, Österreich, Schweiz) erreichen bei ähnlichem Migrations-Kontext bessere Ergebnisse"[9]. "Im Endergebnis führen diese Effekte dazu, dass in Ländern, in denen ein hoher Grad an schulischer Segregation nach sozioökonomischen Merkmalen besteht, (...) die Chancenungleichheit verstärkt wird."[10] So konstatiert PISA, dass selbst in den USA die Schulen sozial weniger segregieren als in der BRD - ähnlich stark nur in Belgien und Österreich, beides ebenfalls Länder mit gegliedertem Schulwesen.[11]

Schulausstattung: PISA zeigt aber auch, dass in allen OECD-Ländern "die den Schulen zur Verfügung stehenden Ressourcen statistisch signifikant mit den Schülerleistungen zusammenhängen"[12], wobei Deutschland bei den Bildungsinvestitionen in Klasse 1-10 unter dem OECD-Durchschnitt liegt. 1998 waren es 9 Prozent weniger. Dabei weisen neuere amerikanische Untersuchungen[13] nach, dass 500 $ Mehrausgaben pro Schüler pro Jahr 0,7 Punkte Leistungszuwachs bedeuten. Einzelne Befunde von PISA und der zusätzlichen deutschen Schulleiterbefragung geben dafür Gründe an: Der Fachlehrermangel in Chemie und Physik beeinträchtigt an 10-33 Prozent der Haupt- und Realschulen den Unterricht.[14] Und die Leistungen in Klassen mit weniger als 20 Schülern wären in Mathematik und Lesen signifikant besser.[15]

Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch das Schulsystem: Die PISA-Erweiterung fördert weitere soziale Segregationsfaktoren zutage. Die angebliche Durchlässigkeit unseres Schulsystems ist nur eine nach unten: Die Relation zwischen Aufstieg und Abstieg liegt zwischen 1:11 und 1:18. Bei Abstiegen "aus der Realschule läßt sich ein systematischer Zusammenhang mit der Herkunft nachweisen!"[16] Überhaupt gibt es zwei deutsche Besonderheiten: Das Sitzenbleiben und das freiwillige Zurückstellen (Zurückgehen) in der Grundschule - was im übrigen rechtlich nur noch in Belgien und Österreich möglich ist, aber kaum vorkommt. Drei Prozent blieben 1996 in Deutschland sitzen, zwei Prozent gingen 1999 in der Grundschule "freiwillig" zurück.[17] So werden herkunftsbedingte Ungleichheiten im hiesigen Schulsystem reproduziert, während sie in integrierten Systemen anderer Länder ausgeglichen werden.

Gesellschafts- und bildungstheoretische Implikationen der PISA-Studie

PISA ist natürlich auch eine interessengeleitete Untersuchung, was nicht vergessen werden darf, aber auch nicht gegen sie spricht.

Die OECD und alle an PISA beteiligten Regierungen haben mit großem personellen und finanziellen Aufwand über einen längeren Zeitraum - mit Auswertung und Vorbereitung über 8-10 Jahre - basale Kompetenzen als Teil des OECD-Indika­torenprogramms erfasst. (Zu dem Untersuchungsprogramm gehören auch die periodischen OECD-Berichte "Bildung auf einen Blick"). Dessen Ziel ist es, den Regierungen vergleichende Daten über Ressourcenausstattung, individuelle Nutzung sowie Funktions- und Leistungsfähigkeit sowie Effizienz ihrer Bildungssysteme zur Verfügung zu stellen.

Die Ertragsindikatoren werden in Benchmarking-Listen dargestellt, die naturgemäß die Standortkonkurrenz befördern. Curriculare Validität und curriculare Fragen treten in den Hintergrund. Dabei folgt PISA dem angelsächsischen Literacy-Konzept, was mehr umfasst als Lesefertigkeit und mathematische Kenntnisse. Es wurde die Anwendungskompetenz in einigen Basisbereichen verglichen - nicht die ganze bildungsrelevante Breite der Ergebnisse des Bildungsprozesses: Soziale, politisch-historische, musisch-sportliche Kompetenzen waren nicht gefragt. Ausdrücklich ging es der OECD um ein "‚inhaltliches BenchmarkingÂ’ (Vergleichsnormierung)"[18] dieses didaktisch-bildungstheoreti­schen Konzepts.

Vergleichnormierung: Reduziertes Bildungskonzept

Dass es sich dabei um die Reduktion des humanistischen Bildungskonzepts - ComeniusÂ’ "omnia omnes omnina" (Alles für alle ganz), Humboldts "allgemeine Menschenbildung" oder des im sozialistischen Bildungsbegriff enthaltenen Konzepts "der allseits entwickelten Persönlichkeit, die aktiv und solidarisch mit anderen gestaltend eingreift" - handelt, soll ausdrücklich festgestellt werden, kann aber einer Kapitalagentur wie der OECD eigentlich nicht vorgeworfen werden. Linke sollten in der Diskussion der Ergebnisse von PISA deshalb nicht beim Ländervergleich oder bei Fragen einer anderen Lernkultur stehenbleiben, sondern Fragen des Bildungsprivilegs, der soziale Ungleichheit verstärkenden Schulstruktur, der inhumanen Selektionsmechanismen und der Ressourcenverteilung mit diskutieren. Schließlich käme es darauf an, in der neuen Bildungsdiskussion bis zu der Frage vorzustossen, welche Bildung für alle wir denn wollen.[19]

Dass die "Vergleichsnormierung" auf ein Grundbildungskonzept kein zu weit hergeholtes Ziel ist, beweist die einsetzende Diskussion um ein "Kerncurriculum", um "den goldenen Fonds" oder - in angelsächsischen Ländern - um "the great books". Der Aufspaltung in "Elitebildung einerseits, Sozialpädagogik für den Rest" (von Hentig), oder in "Training der herrschenden Arbeitsmoral für die einen und polytechnische und fremdsprachliche Bildung für die anderen" muss einen argumentativen Riegel vorschieben, wer die Postulate der Französischen Revolution und damit das demokratische Prinzip in der Bildungspolitik realisieren will. "One learns to work - one works to learn" (Watts) mag einer an "employability" als Bildungsziel ausgerichteten Strategie geschuldet sein - demokratische Bildung für alle ist das nicht. Eine solche Intervention wird um so nötiger, als sowohl die KMK, alle Bildungsminister der Länder und viele verantwortliche Bildungspolitiker sich beeilen, vor einer erneuten Debatte über die Schulstruktur zu warnen. Auch dass es nicht um mehr Geld ginge, ist zu hören - bis hin zur Heinrich-Böll-Stiftung. Warnungen vor schnellen Schlußfolgerungen deuten darauf hin, daß man die Diskussion um grundsätzliche Bildungsfragen auf die Verbesserung der Qualität, eine bessere Lehrerausbildung und mehr Nachmittagsangebote zu reduzieren gedenkt.

"Humankapital" und Bildungs-Rendite

Mit der OECD folgt PISA dem Konzept vom Humankapital, das die von den Individuen erworbenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse in den Blick nimmt, um neue Produkte zu ermöglichen. Ihm wird in der neueren makroökonomischen Wachstumstheorie als endogenem Faktor eine größere Bedeutung beigemessen. Dank Computerisierung und Verwissenschaftlichung ist das Gewicht des "Faktors Arbeit" in der klassischen Wertschöpfungskette "Werkzeuge und Rohstoffe und Kapital und Arbeit" schliesslich gestiegen.

Von linker Warte ist das Humankapitalkonzept allerdings um die Kategorie "soziales Kapital" zu erweitern (Bourdieu, Colemann)[20], das Handlungskompetenz einschließt, die im Interesse der handelnden Personen liegt. Hinzu kommt die Bildung des "kulturellen Kapitals" (Bourdieu), das die gesamten kulturellen Ressourcen für den einzelnen erschließt. Auch dazu hat der Bildungsprozeß beizutragen, denn politisch-demokratische und nachhaltige Entwicklung (nicht nur als ökologische zu verstehen) und multikulturelle Vielfalt sind globale Bildungsziele in einem linken Bildungsverständnis.

Die OECD greift aus linker Sicht zu kurz, wenn sie nur die Kapitalrendite des eingesetzten Kapitals im Auge hat. Die Renditeberechnungen der OECD konstatieren, dass sich das ins deutsche Bildungswesen investierte Kapital (konkret: in Sek. II) mit 5,6 Prozent zu gering verzinst, während die Verzinsung in Frankreich mit 14,1 Prozent und in Portugal mit 32,8 Prozent erheblich höher liegt. Die OECD drängt deshalb auch auf höhere Investitionen und auf einen Abbau der teuren Dreigliedrigkeit (deshalb auch ist seit einiger Zeit von "Umsteuern" die Rede, nämlich mehr in die Grundschule zu investieren).[21]

Die OECD befindet sich im Einklang mit der Weltbank, die sich seit 20 Jahren darum bemüht, eine veränderte Definition von staatlichen Aufgaben durchzusetzen. Ihr geht es um eine Neuvermessung der Aufgaben des Staates und der privaten Haushalte: Senkung der Staatsquote zugunsten erhöhter privater Ausgaben und Effektivierung vorgegebener Strukturen durch Privatisierung, Wettbewerb und Dezentralisierung, durch Ersetzung der Bürokratie durch Marktelemente und Controlling, durch zentrale Prüfungen und Evaluation. "Ergebnisorientierte Leistungskontrolle" ("output measurement") oder "benchmarking system" in der Terminologie der Weltbank.[22] Die Konkretisierung dieser Konzepte heißt: Stärkung der Grundbildung durch den Staat, Übernahme der Kosten für weiterführende Schulen durch private Haushalte (Studiengebühren, Bildungsgutscheine).[23]

Element des "neuen Intergouvernementalismus"

Nicht zuletzt dienen internationale Vergleiche wie PISA dazu, die Bildungssysteme verschiedener Länder aneinander anzugleichen - vom "Benchmarking" soll ja gerade ein Ansteckungseffekt ausgehen. Als neue Technik der internationalen Governance - weder EU noch OECD oder Weltbank regieren im klassischen Sinne[24] - wird mit PISA die offene Koordination mittels Indikatoren praktiziert. Statt harter Regulierung mittels Verordnung oder Rechtsangleichung, was zu zeitaufwendig ist und Widerstände weckt, wird auf die Verdichtung internationaler Interaktionen gesetzt. Statt inhaltlicher, festgelegter Lösungsstrategien werden Problemfelder identifiziert. Das ist eine flexible, neue Interventionsform, die mit Hilfe der Öffentlichkeit einen sanften Anpassungsdruck erzeugt. Politische Praktiken werden mittels wissenschaftlicher Indikatoren und "best practice" transportiert. Auch die EU ist seit dem Lissaboner Gipfel zu dieser neuen Governance-Strategie übergegangen. PISA stellt einen solchen neuartigen "policy transfer" dar, der Modernisierungspraktiken nach rationalen Kriterien angleicht. Die dynamischen Integrations- und Modernisierungsimpulse sind von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen in den einzelnen Nationalstaaten abgekoppelt, und das sollen sie auch: Dass PISA vorbereitet wurde, war Sache der OECD und der Regierungsstäbe - öffentlich diskutiert oder parlamentarisch gebilligt wurde das Programm nicht. Das neue, ökonomisch bedingte Integrationsprojekt kommt "von oben", als "sanfte Revolution" (Gramsci). Es ist überfällig, dass sich die gesellschaftlich-reformerischen linken Kräfte einmischen, um diese Entscheidungen aus den Hinterzimmern der herrschenden Machteliten herauszuholen und wieder zu politisieren.

Die Ergebnisse von PISA mögen einige Konservative verstören; die "Modernisierer" haben sie schon für ihre Konzepte zu nutzen versucht. Die Diskussion in der SPD und den Grünen nahestehenden Kreisen zeigen dies. Sie interpretieren die Ergebnisse als Beweis für die Richtigkeit ihres Modernisierungs- Konzepts: Nur Fragen der Schulqualität, der Lehrerfortbildung, der verstärkten Vor- und Grundschulbildung sollen diskutiert werden, nicht der eigentliche Skandal: Dass das reichste Land Europas es zulässt, dass das Bildungswesen die soziale Ungleichheit verstärkt; dass es durch Selektion, Sitzenlassen und schlechte ImmigrantInnenförderung mitten im Europa des 21. Jahrhunderts sein eigenes grundgesetzliches Postulat verletzt, ein sozialer Rechtsstaat zu sein. Nicht diskutiert werden soll die Frage des Bildungssystems, seiner Strukturen und der Bildungsinvestitionen. Fast alle[25] warnen davor. Sie sehen die Gefahr, dass eine durch den PISA-Schock beflügelte Bildungsdebatte den von der OECD vorgegebenen Rahmen sprengen könnte: Anstatt der weiteren Öffnung für den sich entwickelnden globalen Bildungsmarkt, für den PISA gleichsam Türöffner-Funktion hat, könnte die Forderung nach regulierenden Eingriffen des Staates[26] wachsende Bedeutung gewinnen. Linke müßten die Diskussion in diese Richtung treiben, indem sie entsprechend ihrem anderen Bildungsverständnis auf weiterführende demokratische Reformen drängen. Dazu liefert PISA zahlreiche Argumente und Indikatoren, unabhängig davon, was sich seine Urheber von der Studie versprochen haben mögen. Dann wäre der PISA-Schock ein heilsamer.

[1]              Klaus Bullan, Der Sputnik-PISA-Schock, in: Sozialismus, H. 1/2002, S.18f.

[2]              Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 15.

[3]              A. a. O., S. 48ff.

[4]              ISCO: International Standard Classification of Occupations, IAO (ILO) 1990, vgl. a. a. O., S. 329ff.

[5]              PISA 2000 und "Draft Briefing Note" der OSCE über PISA, 4. 12. 2001, Paris.

[6]              PISA-Kurzfassung, OECD, Paris, S. 12, S. 20, S. 27.

[7]              Draft Briefing, a. a. O. S. 7.

[8]              Ebd., S. 7.

[9]              Ebd., S. 8.

[10]             Ebd., S. 8.

[11]             PISA 2000, a. a. O., S. 460/61.

[12]             Draft Briefing, a. a. O., S. 9.

[13]             Untersuchungen von Hanushek, Hedges, Lane, Greenwald.

[14]             PISA 2000, a. a. O. S. 437.

[15]             Ebd., S. 423. Auch andere PISA-Vergleichsergebnisse sind bildungspolitisch relevant. In Schweden und Finnland gibt es weder Hausaufgaben noch Nachhilfeunterricht - trotzdem hohe Leistungen. Ein gegliedertes Schulwesen (Haupt-, Realschule, Gymnasium) nach Kl. 4 haben nur noch die Schweiz und Liechtenstein. Österreich, Rußland, Tschechien und Ungarn teilen nach Kl. 4/5, aber das wird selten wahrgenommen. Belgien, Luxemburg, Mexiko, z.T. Irland und USA, nach Kl. 6, Holland nach Kl. 7, Italien, Portugal, Polen nach Kl. 8, Frankreich nach Kl. 9. Ebd., S. 424.

[16]             Ebd., S. 355.

[17]             Ebd., S. 470.

[18]             Ebd., S. 19.

[19]             Vgl. Steffie Odenwald, Welche Bildungs wollen wir?, Sozialismus, 1 /2002, S. 20ff.

[20]             J. S. Coleman, Foundation of social theory, Cambridge 1990; P. Bourdieu, in: Kreckel, (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, Göttingen 1983.

[21]             Peter J. Weber, in: I. Lohmann/R. Rilling (Hrsg.), Die verkaufte Bildung, Opladen 2002 In diesem Band finden sich weitere hier relevante Beiträge. Vgl. auch H. Bethge, Bildungspolitik der "neuen Mitte", in: Z 45, März 2001, S. 85 ff.

[22]             World Bank "Priorities and Strategies for Education", Washington, 1995.

[23]             Vgl. Klausenitzer, Bildung und globaler Paradigmenwechsel, Die deutsche Schule, Heft 2/2001, S. 242 ff.

[24]             Vgl. zum "Neuen Intergouvernementalismus z.B.: M. Felder/A. Statz/S. Tidow, Alter und neuer Intergouvernementalismus, maschinenschriftliches Zirkular, Dezember 2001, S. 8/9.

[25]             Bundespräsident Rau ist eine Ausnahme. Vgl. seine Rede zum Abschlußkongress des "Forums Bildung", 10. 1. 02, Berlin.

[26]             Vgl. die beginnende Debatte zum GATT-Abkommen im Rahmen der WTO-Beratungen; dazu: Nico Hirt in: Lohmann/Rilling, a. a. O., S. 15ff.; R. Petrella, Rede auf der OECD-Konferenz in Tokyo, 25. 10. 99, maschinenschriftlich; Forum Umwelt und Entwicklung, Juli 2001, Bonn, maschinenschriftlicher Bericht; DGB "Die Welthandelsliberalisierung der Dienstleistungen darf die Bedürfnisse der Menschen nicht vergessen" - DGB-Anforderungen an das GATT-Abkommen, maschinenschriftlich, 2001; Resolution der Bildungsinternationalen (BI), Jomtien, 25. - 29. 7. 2001.