Westliche Wertegemeinschaft - was ist das?

in (01.02.2002)

Kurz nachdem sich die SPD und die PDS im Berliner Abgeordnetenhaus aufs Koalieren verständigt hatten, sprach Walter Jens in der Staatsoper Unter den Linden auf einem Empfang der ...

... PDS-Bundestagsfraktion und würdigte das Ereignis mit Ossietzky-Zitaten - als wäre nun Wirklichkeit geworden, was Carl von Ossietzky angesichts des drohenden Faschismus gefordert hatte: das Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten.
Wir brauchen Walter Jens nicht darauf hinzuweisen, daß die heutige Wirklichkeit eine ganz andere ist. Er weiß es. Dennoch oder gerade deswegen versuchte er, die Koalitionäre auf diese bestmögliche Tradition zu verpflichten. Auch Kurt Tucholsky, auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Gründer der KPD, auch Paul Levy, den von Ossietzky hochgeschätzten Sozialisten in der SPD (dem Walter Jens sein Theaterstück "Ein Jud aus Hechingen" gewidmet hat), auch Heinrich Mann und Albert Einstein, den lebenslang überzeugten Sozialisten, empfahl er als geistige Ahnen. Beifall.
In der Präambel des Koalitionsvertrags kommen solche Namen nicht vor. Zwar steht darin viel Geschichtliches, aber ausschließlich zum Zweck der Austreibung jeglicher realsozialistischer Vergangenheit - als wären die Kommunisten an der aktuellen Misere schuld, aus der nun die SPDS die tiefgesunkene Stadt herausziehen will. Von dem ruinösen Landesbank-Skandal, den die bisherige Große Koalition zu verantworten hat, also von dem tatsächlichen Anlaß der Neuwahl und des Regierungswechsels, ist da keine Rede.
Als Hauptaufgaben nennt "Rot-Rot" (Welch doppelter Bürgerschreck! Früher gaben sich westdeutsche Sozialdemokraten durch orangefarbene Stecknadelköpfe zu erkennen!) die Kürzung öffentlicher Ausgaben, den Stellenabbau (z.B. im Bildungswesen) und die Privatisierung. Der von der PDS im Wahlkampf strikt abgelehnte Großflughafen soll gebaut, die Fusion Berlin-Brandenburg, von den Brandenburgern plebiszitär verweigert, soll eingeleitet werden. Die Gewerkschaften werden zum Lohnverzicht gedrängt. Die Kommunisten - auch die in der PDS verbliebenen um Sahra Wagenknecht - bleiben unter geheimdienstlicher Überwachung. Die NATO wird freundlich erwähnt. Und in der Präambel taucht in diesem Zusammenhang auch ein Begriff auf, der einen Hinweis auf das geistige Fundament von "Rot-Rot" zu geben scheint: "die westliche Wertegemeinschaft".
Wir baten Gregor Gysi, uns den Begriff kurz zu erläutern. Aber er hatte anscheinend keine Zeit.
Wir fragten dann einige Ossietzky-Autoren, was ihnen spontan zu dem Begriff "westliche Wertegemeinschaft" einfalle.
Dem Hamburger Rechtswissenschaftler Professor Norman Paech kam zunächst folgendes Zitat in den Sinn: "Wir Deutschen haben auf der Grundlage der europäischen Zivilisation im Laufe der Geschichte unsere nationale Identität und Kultur entwickelt, die sich in unserer Sprache und in Künsten, in unseren Sitten und Gebräuchen, in unserem Verständnis von Recht und Demokratie, von Freiheit und Bürgerpflicht niederschlägt. Deutschland gehört zur Wertegemeinschaft des christlichen Abendlandes. Wir sind Teil der europäischen Kulturgemeinschaft." Das ist Originalton CDU, dazu bestimmt, den "Zuwanderungsdruck" der Ausländer auf unser volles Boot abzuwehren. Also Abgrenzung nach Süden und Osten.
Paech steuerte noch ein zweites Zitat bei. Der folgende Text aus der Finan cial Times Deutschland, vor einem Jahr erschienen, zeige, "was diese Wertegemeinschaft wirklich ist", schrieb er. Der Text lautet: "Deutschland braucht jetzt eine Phase echten Kapitalismus. Ein Jahrzehnt lang muß die Wirtschaft ungehemmt wachsen können. Unternehmen müssen Gewinne einfahren. Die Macht der Gewerkschaften sollte gebrochen werden, vor allem durch die Einschränkung von Kündigungsschutz und Mitbestimmung. Ein Jahrzehnt lang muß zuerst daran gedacht werden, wie man das Volksvermögen am schnellsten steigern kann. Die Verteilungsdebatte sollte in den Hintergrund treten - 30 Jahre sind erst einmal genug. Gebraucht wird eine Portion Thatcherismus. Maggie Thatcher war zwar nicht die angenehmste Figur der Wirtschaftsgeschichte, doch sie war notwendig. Einmal alle 50 Jahre braucht jede Industrienation eine Maggie Thatcher. Ob die Deutschen noch wissen, was echter Kapitalismus ist, also die Lust, durch eigene Arbeit reich zu werden? Auch wenn es viele Leistungswillige gibt, ein Masseneffekt ist das heute nicht mehr. Geprägt wird das Land durch das Ausruhen auf alten Erfolgen und das Zufriedengeben mit dem Erreichten. Nach dem Fall der Mauer brach im Osten Deutschlands für eine Weile echter Kapitalismus aus. Menschen machten mit Begeisterung Läden auf und gründeten Firmen. Auf den Parkplätzen an den Autobahnen schossen Imbisse hervor. Dann kamen die Westdeutschen und erstickten den Trend mit ihren Gesetzen und Gewerbeordnungen. Begeisterten Kapitalismus findet man heute fast nur noch in Osteuropa und in den USA. Wer sieht, wie leidenschaftlich koreanische Einwandererfamilien in New York ihre Geschäfte betreiben, begreift an einem simplen Beispiel, wie gesellschaftlicher Reichtum entsteht. Der Leistungswille des Einzelnen heizt den Wohlstand der Gemeinschaft an. Nicht reich werden zu wollen, ist unsozial."
Verena Grundmann, die an der Berliner Humboldt-Universität Jura studiert, antwortete knapp: "Die Westliche Wertegemeinschaft ist eine Religion, die den Kriegsgott EURUSD verehrt und drei Grundwahrheiten predigt: I. Gemeinschaft wird über intensiven Ellenbogenkontakt hergestellt. II. Die tagesaktuellen Werte verkündet der Prophet Großer Dax. III. Laß Dich nicht beirren von kreisenden Kugeln und räumlichen Dimensionen: Da, wo Europa oben und im Mittelpunkt liegt, ist jedenfalls Westen."
Der junge hannoversche Soziologe Marcus Hawel: "Etwas, bei dem einem der Atem ausgehen kann. Ein korrumpierender Kampfbegriff mit geopolitischem Einschlag zur chauvinistischen Abgrenzung und Ausgrenzung gegen den Rest der Welt: gegen den Osten und seine ›asiatischen Taten‹, gegen den Süden und seine ›Wilden‹. Aber was ist mit Auschwitz, Hiroshima, My Lai...? Die westliche Vergangenheit ist gegenwärtig als kalte Grausamkeit, als abstrakte, dingliche Kälte, als Gleichgültigkeit von Mensch und Ware mitten im Westen. Aus den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Moderne, die Auschwitz einmal möglich gemacht haben, wurden nicht nur in Deutschland keine weit genug reichenden Konsequenzen gezogen; sie existieren nach Auschwitz weiter - aber nunmehr mit homogener, identischer und christlicher Ethik, überwiegend protestantisch. Denn der Protestantismus ist der Geist des Kapitalismus. Mythisch ist diese Wertegemeinschaft bis in die Mark, den Euro und den Dollar. Aus dem Tausch gründeten sich genauso die ethischen Werte wie die Täuschung über sie. Der ›Westen‹ ist eher eine Mehrwertgemeinschaft, und die Geschichte der ›westlichen Wertegemeinschaft‹ ist eine Geschichte von blutigen Kämpfen, Intrigen, Wahnsinn und Barbarei - nicht als das Andere der Zivilisation, sondern als konstitutiver Bestandteil unserer zivilisierten Doppelmoral."
Die Gewerkschafterin Anne Rieger: "Beim Begriff ›westliche Wertegemeinschaft‹ fällt mir spontan ein, daß sie Gesetze gegen die Käfighaltung von Hühnern ausspricht, gegen die Käfighaltung afghanischer Menschen auf dem US-Stützpunkt Guantanamo aber nur schwachen Protest hören läßt und weiter an der uneingeschränkten Solidarität mit den Menschenschindern festhält."
Der Theologe Otto Meyer: "Die ›westliche Wertegemeinschaft‹ führt Krieg - was gilt es zu verteidigen? Zum Beispiel die Freiheit, angeregt von den Plakatwänden unserer Städtereklame, uns eine eigene Meinung zu bilden. So wie jetzt die neue Werbung für die Bild-Zeitung: ›Verbotene Liebe - Die brisante Serie in Bild.‹ Ins Auge fällt brutal ein fast nackter Frauenkörper, kopfreduziert, mit Großausschnitt zwischen Bauchnabel und Oberschenkel, das Geschlecht weniger verdeckt als betont durch einen roten Tanga. Die Hand hält zwei Finger unterm Slip. Mit Lippenstift ist über das Bild geschrieben: ›Ab hier hilft mir mein Kollege‹. An der nächsten Haltestelle wieder die großflächige Abbildung des Frauenkörpers, gezeigt wird diesmal die aufdringliche Rückseite mit der Aufschrift: ›Nur für meinen Schwager‹; darunter: ›Verbotene Liebe - BILD Dir Deine Meinung.‹ Daneben, im gleichen Format, Werbung für die Kindernothilfe: Ein hockendes Dritte-Welt-Kind wirft weit in den Raum hinter sich den schwarzen Schatten eines Skeletts mit der Aufschrift: ›Stell Dir vor, Du bist Kind und mußt verhungern...‹ An der nächsten Station wird wieder der Frauenkörper ausgestellt, diesmal zwischen Bauchnabel und Hals, mit einem roten BH, den zwei Hände anfangen zu öffnen; über die Brüste steht mit Lippenstift geschrieben: ›Mein Chef geht mir ans Herz‹. Daneben fehlt nicht die Werbung für die Kindernothilfe, das hockende braune Kind wirft jetzt seinen großen Schatten als Soldat mit geschultertem Gewehr: ›Stell Dir vor, Du bist Kind und mußt töten...‹ Bilds Meinungsbildung umfaßt auch andere Aspekte. Als Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit und zugleich zur PISA-Studie sehen wir auf dem nächsten Plakat die Region zwischen Knie und Bauchnabel eines Jungenkörpers, eine Hand beginnt lässig, die Jeans zu lösen, darüber auf den Bauch gekritzelt: ›Zeig mir Französisch, Lehrerin...‹ Jetzt verstehe ich besser, was Schröder meinte, als er sagte, es gehe in diesem Krieg nicht um einen Kampf verschiedener Kulturen, sondern viel grundlegender um einen Kampf um die Zivilisation."
Der Publizist Eike Stedefeldt ("Kreuzberger Notizen", Redaktion Gigi) notierte: "Tja, was fällt mir spontan dazu ein: Wodka Gorbatschow, IG Farben AG Nachf., Danish Butter Cookies, Guinness is good for you, CNN, Royal Dutch, British Petrol, Belgian Wafles, Javier Solana, Elf Aquitaine, An der schönen braunen Donau, Schwedische Gardinen, Bank of Switzerland, Radio Luxemburg, Aristoteles Onassis, Casino Monte Carlo, Nokia, Urbi et Orbi, Telecom Italia, Norsk Hydro. Habe ich was vergessen?"
Wir fragten auch Dr. Arnold Schölzel, Chefredakteur der Berliner Tageszeitung junge Welt. Seine Antwort: "Werte werden ins Spiel gebracht, wenn es im Gesellschaftsgefüge knirscht, also fast immer seitdem es Klassen, Staat und Kriege gibt. Auch in der Antike galt z. B. die Formel ›Je weniger zu essen (wohnen, kleiden, bilden, Freiheit, Demokratie etc.), desto wichtiger die Werte‹. Weil Sokrates über sie etwas Genaueres wissen wollte, wurde er demokratisch legitimiert umgebracht. Auf die Idee, das im Namen der Menschenrechte zu tun, kam damals allerdings niemand. Das hat sich durch die westliche Wertegemeinschaft geändert. Bei ihr handelt es sich um ein Weltimperium, in dem ein Fünftel der Bevölkerung am Verhungern ist und Milliarden Menschen keine Arbeit, keine Bildung und keine medizinische Versorgung haben. Folgerichtig erhalten sie stattdessen die Menschenrechte, die von der westlichen Wertegemeinschaft weltweit verteilt werden. Ausbeutung, Kolonisation, Not und Elend im modernen Ausmaß waren in der vorchristlichen Antike unvorstellbar, daher nun auch die Menschenrechte. Deren Ausbreitung schreitet voran. Die USA-Gründerväter behielten, als sie die Menschenrechte proklamierten, für ihre Sklaven selbstverständlich andere Werte bei. Heute verfügt jeder Verhungernde über Menschenrechte. Die Idee, im Namen der Menschenrechte Menschen das Recht auf Leben zu nehmen, mußte allerdings bis zum NATO-Krieg der westlichen Wertegemeinschaft gegen Jugoslawien 1999 auf ihre Erfindung und Realisierung warten. Weitere Fortschritte sind denkbar. Bei einer Umfrage von Spiegel-TV im Jet-Set von St. Moritz, was man gegen Arbeitslosigkeit tun könne, antwortete einer: ›Man muß einen Teil auf sanfte Weise beseitigen.‹ Das ist nicht nur eine Idee, die von Malthus über deutsche Nazis bis zu den Angebotstheoretikern der Gegenwart an Wirkung gewann; die Minimierung des Wertes, den ein Menschenleben hat, liegt der Evolution der westlichen Wertegemeinschaft zugrunde. Je weiter sie dabei vorankommt, desto wichtiger werden ihr die Werte."
Die letzte Antwort kam von Prof. Martin Kutscha, Vorsitzender der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen: "Westliche Wertegemeinschaft - da taucht vor meinem geistigen Auge folgende Szenerie auf: Eine Villa in Oggersheim - der Alte hat gerade Besuch. Aus der Küche bringt Angela Merkel Bier für Edmund Stoiber und Helmut Kohl. Sie stellt die Gläser mit devoter Geste auf den Tisch und überreicht den beiden einen Spendenaufruf für die hungernden Kinder in Afghanistan. Auch Scharping und Joschka Fischer hätten schon gespendet, berichtet sie. Kohl und Stoiber nicken anerkennend, zücken ihre Börsen und überreichen jeweils einen 20-Euro-Schein. Ein paar handsignierte Porträtfotos von sich legen sie dazu. Merkel schluchzt leise vor Rührung. Stoiber zieht unvermutet eine Grundgesetzbroschüre aus der Tasche und liest mit kokettem Augenaufschlag aus Art. 21 vor. Es geht darin um die Parteien. ›Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.‹ Der Rest des Satzes geht im dröhnenden Gelächter des großen Alten unter."
In den Antworten fällt uns die starke Neigung zum Sarkasmus auf, die in der Fragestellung mit keinem Wort vorgegeben war, also allein von dem fraglichen Begriff selber ausgelöst worden sein kann. Wie repräsentativ das Ergebnis unserer Umfrage ist, wissen wir nicht. Wir laden dazu ein, den Diskurs fortzusetzen. Aber als geistiges Fundament ist uns "die westliche Wertegemeinschaft" zunehmend verdächtig geworden. Wir wollen uns weiterhin an Carl von Ossietzky und die anderen von Walter Jens Genannten halten - lesend, nachdenkend, weiterdenkend.