Der Gelegenheitssozialdemokrat

in (26.06.2002)

Die SPD-Führung müsse, da waren sich alle kanzlerfreundlichen Medien einig, die Treuesten der Treuen in der eigenen Partei in Wahlkampfstimmung versetzen, wenn es am 22. September doch noch ...

... laufen soll für Gerhard Schröder. An der Basis der Sozialdemokratie habe sich Unlust an der sozialdemokratisch geführten Regierung verbreitet. Viele ehrenamtlichen Funktionäre und kleinen Mandatare wüßten nicht mehr so recht, was denn an des jetzigen Kanzlers Politik sozialdemokratisch sei.
Also fand ein Wahlparteitag statt, angeblich zu dem Zwecke, die Delegierten Willensbildung über das Wahlprogramm betreiben zu lassen. Dazu war dann aber keine Zeit übrig; das Programm wurde zum Schluß der Veranstaltung in höchster Eile runterbeschlossen, der Vorsitzende der Antragskommission konnte die einzelnen Abschnitte des 54-Seiten-Textes gar nicht so schnell aufrufen, wie die Delegierten abzustimmen hatten. Ein paar RednerInnen lieferten Alibibeiträge; eine Debatte, die diesen Namen hätte verdienen können, fand nicht statt. Innerparteiliche Demokratie in postmoderner Form eben. Die tatsächliche Aufgabe des Wahlparteitags bestand darin, dem Parteivolk den Eindruck zu vermitteln, daß der amtierende Kanzler und Parteivorsitzende seine sozialdemokratische Herkunft nicht vergessen habe. Seelenmassage war zu leisten.
Gerhard Schröder unterzog sich dieser Übung offenbar nicht ohne Verlegenheit, was man ihm nicht vorwerfen sollte; nicht jeder Darsteller mag jede Rolle mit Freude übernehmen. Selten waren in einer Schröderrede so viele Versprecher zu hören, passagenweise schien es so, als parodiere der Kanzler die Sprechweise seines Rivalen aus Bayern. Aber die Begriffe, dafür hatten die Text- und Drehbuchschreiber gesorgt, waren richtig gewählt, das altvertraute und in den letzten Jahren so wenig gepflegte Vokabular einer "Partei der sozialen Gerechtigkeit" wurde hinreichend rekapituliert.
Als Gerhard Schröder sein rhetorisches Werk getan hatte, jubelte der sozialphilosophische Wunschdenker Oskar Negt: Der Chef der deutschen Sozialdemokratie habe sich nun endlich "von Tony Blair emanzipiert". Die Emanzipation beschränkte sich freilich auf die Semantik und diese auf die innerparteiliche Seelsorge. "Das ist der beste Schröder, den es je gab", meinte der Fraktionsvorsitzende Peter Struck, und Andrea Nahles, Wortführerin der "Linken" in der Partei, bestätigte dem Redner eine Glanzleistung: "Er greift auch sozialdemokratische Themen wieder auf." Selbstverständlich verbietet sich im Wahlkampf jedem Sozialdemokraten die Vermutung, daß diese sozialdemokratischen Themen für den Gebrauch im Politikgeschäft bald wieder abgegriffen sein werden - nach dem 22. September, für den Fall, daß sie zu einem Wahlerfolg und damit zur erneuten Kanzlerschaft des Vorsitzenden der SPD beigetragen haben.