Alles "Flexi" - auch der Streik?

Die Arbeitskampfstrategie der IG Metall in der Tarifrunde 2002

Die IG Metall hat ein Tarifergebnis erzielt, das sich sehen lassen kann. Sie hat dieses Ergebnis durchgesetzt nicht allein gegen die Metallarbeitgeber, ...

... sondern auch gegen eine breite Front im politischen System und im Mediensektor, die die Forderungshöhe wie auch das Kampfmittel Streik in gleicher Weise für schädlich und unzeitgemäß erklärte.
Zugleich hatten sich bereits unmittelbar nach Streikbeginn erste Stimmen zu Wort gemeldet, die der IG Metall und ihrer Arbeitskampfstrategie die Ernsthaftigkeit und den nötigen Nachdruck absprechen wollten: "Richtig wehtun soll er nicht",[1] "Streiken mit gebremstem Schaum"[2] lauteten Überschriften in Tageszeitungen; von einem "Operettenstreik"[3] war gar die Rede.
Äußerungen aus den eigenen Reihen im Vorfeld des Arbeitskampfes waren denn auch in mehrfacher Hinsicht interpretationsfähig gewesen - so fanden sich Hinweise auf bedeutende wie auf eher geringe materielle Unterschiede zwischen IG Metall- und Arbeitgeberposition genauso wie Hinweise auf die Notwendigkeit einer konsequenten Arbeitskampfvorbereitung oder die Prognose einer lediglich kurzen Streikdauer.[4]
Und nicht zuletzt wirkte die Tarifrunde des Jahres 2000 in die Auseinandersetzung des Jahres 2002 hinein: Einerseits hatte das Erhöhungsvolumen "nachlaufende Erwartungen"[5] hervorgerufen; andererseits hatte der Tarifabschluss ohne vorherige Warnstreiks (als Element eigener Druckentfaltung) z.T. massive Kritik am Verfahren und Zweifel am ernsthaften Willen zur Durchsetzung der eigenen Forderungen nach sich gezogen.
Wenn es der IG Metall vor diesem Hintergrund gelungen ist, ein akzeptables Tarifergebnis zu erzielen, so kommt dabei - neben der Debatte um die Forderung selbst - der Arbeitskampfstrategie und der Diskussion darüber eine Schlüsselfunktion zu. An der Arbeitskampfstrategie entscheidet sich nicht allein die Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite; jede Streikkonzeption ist auch von hoher Bedeutung für das Innenverhältnis der Organisation, wenn es um Fragen von Beteiligung, Mobilisierung und Glaubwürdigkeit geht.
Im Zentrum arbeitskampfstrategischer Überlegungen standen bzw. stehen seit 1986 die Auswirkungen des geänderten § 146 SGB III - ehemals 116 AFG -, der im Falle arbeitskampfbedingter Kurzarbeit die Zahlungen von Kurzarbeitergeld weitestgehend einschränkt. So haben die Streikplanungen von 1994 in Niedersachsen und im Bayern-Streik von 1995 auf diese Anforderung konzeptionell reagiert: Die damalige arbeitskampftaktische Antwort lag in der Auswahl von so genannten "Finalproduzenten", die aufgrund ihrer Zuliefer-Abnehmer-Strukturen nur ein geringes Maß bzw. gar keine Fernwirkungen hervorrufen. Die Automobilindustrie und ihre Zulieferer oder die Elektroindustrie blieben bei diesem Ansatz außen vor - mit der Konsequenz, dass damit auf kampferprobte Belegschaften und ökonomisch bzw. politisch wichtige Betriebe verzichtet werden musste.[6]

"Flexi-Streik" - Grundzüge des Konzepts

Für die IG Metall galt es in diesem Jahr, die Restriktionen der Beschränkung auf Finalproduzenten zu überwinden. Dabei musste das Konzept nicht nur den Bedingungen von Fernwirkung und § 146 SGB III Rechnung tragen, sondern sollte unterschiedlichen Anforderungen an die Kampfführung gerecht werden. Rasche Entfaltung von ökonomischem und politischem Druck, Verhinderung von Produktionsverlagerung und Streikbruch sowie die politische und rechtliche Bewältigung der "heißen" und "kalten" Aussperrung sind Faktoren, die in die strategische Planung des Arbeitskampfszenarios eingeflossen sind.
Im Kern beruht der gewählte Streikansatz auf tageweise befristeten Wechselstreiks, die in mehreren Wellen durchgeführt werden. Die IG Metall hat in beiden Streikgebieten - Baden-Württemberg und Berlin-Brandenburg - innerhalb von zwei Wochen tageweise 162 Betriebe bestreikt; dabei waren rund 217.000 Beschäftigte[7] beteiligt. An den einzelnen Streiktagen wurden weitgehend Betriebe einer Branche gleichzeitig in den Ausstand gerufen. Mit den zeitgleichen Aktionen in der Automobil- und Automobilzulieferindustrie, dem Maschinenbau, der Aluminium- oder der Elektrobranche wurden die Streikmaßnahmen möglichst parallel zu den Zuliefer-Abnehmer-Beziehungen durchgeführt. Damit blieb die logistische Kette intakt, so dass zeitversetzte Produktionseinschränkungen faktisch ausblieben. Auch außerhalb der beiden Streikgebiete kam es im Verlauf der neuntägigen Kampfmaßnahmen zu keinen relevanten fernwirkungsbedingten Produktionseinschränkungen und damit nicht zur "kalten" Aussperrung: sicherlich auch ein Erfolg der gewählten Arbeitskampfstrategie.

Im Grundsatz ging das Konzept auf

Auch wenn die Auseinandersetzung mit der drohenden "kalten" Aussperrung wesentliches Motiv für Streikplanung und -führung war, liegen der Strategie des "Flexi-Streiks" noch andere Überlegungen zugrunde, die zwar auch mit den Fragen der Aussperrung in all ihren Formen - "heiß" wie "kalt" - verbunden sind, aber nicht darauf reduziert werden dürfen. Mit dem gewählten Ansatz konnten mehrere strategische Herausforderungen für eine den aktuellen Handlungsbedingungen angepasste Strategie eingelöst werden:
1. Neben einer möglichst raschen Entfaltung von ökonomischem Druck auf die Unternehmen hat in den vergangenen Jahrzehnten auch die Bedeutung der politischen Druckentfaltung für die gewerkschaftliche Arbeitskampfführung ständig zugenommen.[8] Um beide Elemente entsprechend zur Entfaltung bringen zu können, ist eine möglichst breite Einbeziehung von Betrieben und Beschäftigten ebenso notwendig wie die effektive Verhinderung von Streikbruch und Produktionsverlagerung. Voraussetzung dafür ist es, dass die bislang gesetzten Grenzen eines eher statischen Streikverständnisses überwunden werden und ein größeres Überraschungsmoment sowie mehr Beweglichkeit in die Kampfführung einfließen.
Das ist der IG Metall mit ihrem "Flexi-Streik" weitgehend gelungen: Einmal konnten weit mehr Betriebe und Belegschaften in den Kampf einbezogen werden als dies bei traditionellen Schwerpunktstreiks der Fall gewesen ist. Die klassische Trennung zwischen "Zuschauern" und "Aktiven" konnte stärker als in vorangegangenen Arbeitskämpfen durchbrochen werden; die Zahl der einbezogenen Betriebe spricht für sich. Während etwa in Bayern 33 Betriebe in den elf Tagen im Ausstand waren, haben sich in diesem Jahr bereits in der ersten Streikwoche 96 verschiedene Betriebe und damit auch unterschiedliche Belegschaften beteiligt. Zweitens hat der flexible Wechsel den Unternehmen wenig bzw. keine Möglichkeit gelassen, Produktionsverlagerungen und Streikbruch zu organisieren - obgleich die Einbeziehung der Betriebe keine vollkommen "geheime Kommandosache" sein konnte. Sicherlich waren Management und auch die Öffentlichkeit in der Lage, eine Abschätzung vorzunehmen, wie wahrscheinlich das Bestreiken des einen oder anderen Betriebes sein würde. Zudem bedeutet gerade in Großbetrieben die Durchführung von Streiks einen ungeheuren organisatorischen Aufwand, der auch der Unternehmensleitung nicht unentdeckt bleiben kann. Aber die kurzfristige Festlegung des genauen Zeitpunktes der Streikmaßnahme im jeweiligen Betrieb hat zweifelsfrei dem Management Gegenmaßnahmen erschwert.
2. Mit der Entscheidung für Berlin-Brandenburg als zweitem Streikgebiet neben Baden-Württemberg hat die IG Metall ihren Anspruch deutlich gemacht, eine langfristige tarifpolitische Abkopplung der neuen Bundesländer nicht hinzunehmen. Die Übernahme des Böblinger Ergebnisses war nur auf der Grundlage eines Streiks im Osten möglich. Damit hat die IG Metall ihre Handlungsspielräume für zukünftige Arbeitskämpfe erweitert und ihre Kampffähigkeit auch im Osten deutlich unterstrichen. Das zeigen auch die hohe Streikbeteiligung, die ausgezeichnete Stimmung unter den Streikenden und der verschwindend geringe Streikbruch.
Anknüpfend an der Wahl der Kampfgebiete (Niedersachsen und Bayern Â’94 und Â’95) hat die IG Metall damit ihre grundsätzliche Kampffähigkeit in allen Tarifgebieten unterstrichen. Diese "geographische Flexibilität" erweitert die Handlungsspielräume und wirkt als zusätzliche Druckmöglichkeit auf regionale Arbeitgeberverbände.
3. Neben der effektiven Entfaltung von wirtschaftlichem und politischem Druck hat der Kampf gegen die "heiße" Aussperrung aktuell einen besonderen Stellenwert bei der Planung von Streikstrategien. Letztlich gilt es die Strategie so zuzuschneiden, dass der Arbeitgeberseite ein Aussperrungsbeschluss wegen hoher "politischer Kosten" als nicht realisierbar erscheint. Bereits im Bayern-Streik hat wohl der gewählte Streikansatz der IG Metall - neben wichtigen verbandsinternen Faktoren im VBM9 - dazu beigetragen, dass eine Entscheidung für Aussperrung nicht zustande kam. Durch die Begrenzung der Streikmaßnahmen auf Finalproduzenten wären bei einer "heißen" Aussperrung gerade auch die Automobil- und Automobilzulieferindustrie betroffen gewesen - mit der Folge, dass bundesweit "kalte" Aussperrung ausgelöst worden wäre. In diesem Fall hätte die IG Metall in der öffentlichen Auseinandersetzung leicht die politische Verantwortung für die Eskalation des Arbeitskampfes deutlich machen können.
Bei den befristeten Wechselstreiks ergibt sich eine ähnliche politische Konstellation - ohne die taktischen Restriktionen der Begrenzung auf Finalproduzenten. Da die tageweisen Streikmaßnahmen eben nur so lange dauern, dass Fernfolgen auf andere Betriebe nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang auftreten, wird die politische Hürde für einen Aussperrungsbeschluss im Arbeitgeberlager sicherlich erhöht. Denn auch in diesem Fall kann die Verantwortung der Arbeitgeber für die Eskalation in der Öffentlichkeit genau nachgewiesen werden.
Gleichwohl darf diese Konstellation in der IG Metall nicht zu der Illusion führen, dass zukünftig die Arbeitgeberseite ihre Fähigkeit zur Aussperrung gänzlich eingebüßt hätte. Dagegen sprechen beispielsweise folgende Gründe: So wurde drei Monate nach dem Arbeitskampf in Bayern im "Handelsblatt" eine Entscheidung des Präsidiums der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände bekannt.[10] Nach Auffassung des BDA-Präsidiums sollten bei zukünftigen Arbeitskämpfen im jeweiligen Kampfgebiet gezielt diejenigen Betreibe "heiß" ausgesperrt werden, die enge Zulieferbeziehungen aufweisen, um damit bundesweit "kalte" Aussperrungsmaßnahmen zu provozieren. Zudem hat Gesamtmetall gerade in dieser Tarifrunde unverhohlen die eigene Bereitschaft zur Aussperrung zum Ausdruck gebracht. So schloss der Gesamtmetallpräsident Kannegiesser in einem Interview nicht aus, dass man durch gezielte Aussperrung im Kampfgebiet maximale Produktionsstillegungen in anderen Tarifbezirken herbeiführen werde.[11] Es muss also auch zukünftig davon ausgegangen werden, dass eine klug gewählte Streikanlage der IG Metall zwar die politische Hemmschwelle für einen Aussperrungsbeschluss höher legen kann, ihn aber auf keinen Fall ausschließt.
4. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen wird sicherlich gerade auch die Auseinandersetzung mit der "kalten" Aussperrung zu einem der kampfentscheidenden Momente für die Strategiebildung der IG Metall. Letztlich hat die Befristung der Streikmaßnahmen der "kalten" Aussperrung in der Öffentlichkeit ihre legitimatorische Basis entzogen, da auch in diesem Fall - ähnlich wie bei der "heißen" Aussperrung - die IG Metall jederzeit hätte deutlich machen können, dass Produktionseinschränkungen nicht Folge des Streiks sind, sondern gezielt von der Arbeitgeberseite herbeigeführt wurden. Trotz dieser positiven Bilanz dürfen folgende Umstände nicht unerwähnt bleiben: Einmal sind die Unternehmer jederzeit in der Lage, unabhängig von Ort, Zeitpunkt und Dauer gewerkschaftlicher Streiks, "kalte" Aussperrung durch entsprechende Lagerhaltungs- und Lieferpolitik[12] sowie den gezielten Einsatz der "heißen" Aussperrung selbst zu provozieren. Damit bleibt auch die "kalte" Aussperrung letztlich eine politische Kosten-Nutzen-Rechnung der Arbeitgeberseite, deren "Kosten" durch die Strategie der streikführenden Gewerkschaft beeinflusst werden, während die Entscheidung aber nach wie vor in den Händen des Managements liegt.
Zweitens hat letztlich jede wie auch immer geartete Streikstrategie angesichts der engen inner- und zwischenbetrieblichen Verflechtungen Fernwirkungen auf andere Produktionsbereiche oder Betriebe. Das galt schon bei dem Ansatz, nur Finalproduzenten zu bestreiken. Selbst diese können arbeitskampfbedingte Fernwirkungen hervorrufen. Auch hier sind insbesondere Zulieferbeziehungen so strukturiert, dass Fernfolgen (wenn auch in anderen Größenordnungen und zeitlicher Dimension als im Bereich der Automobilzulieferindustrie) möglich sind. Zudem haben einige der Finalproduzenten innerhalb der konzerninternen Arbeitsteilung auch die Aufgabe, Komponenten zu fertigen. Auch die Wechselstreikstrategie ist kein völlig fernwirkungsfreies Streikkonzept - und das selbst dann, wenn es die Möglichkeit eröffnet, durch die Begrenzung der Dauer der Arbeitsniederlegung Fernfolgen zu reduzieren. Bereits Streikmaßnahmen von einem Tag erzeugen im engen Lieferverbund der Automobilindustrie Rückwirkungen in andere Produktionsbereiche. So waren zwar in diesem Jahr keine nennenswerten Produktionseinschränkungen außerhalb der Streikbetriebe zu verzeichnen, da nicht mehr als zwei Streiktage pro Betrieb stattgefunden haben. Aber bereits bei einem dritten Tag des Ausstandes hätten einige Automobilbetriebe wegen eines Rückstaus bei den Komponenten keine Waren ihrer Zulieferer mehr angenommen. Die Folgen wären begrenzte und wohl auch zeitlich befristete Produktionseinstellungen bei den Zulieferern gewesen.Dass das Arbeitskampfkonzept der IG Metall im Frühjahr 2002 aufgegangen ist, sollte nicht zu dem gedanklichen Kurzschluss verleiten, es könnte beim nächsten Mal unverändert angewendet werden und hätte einen vergleichbaren Verlauf der Ereignisse zur Folge. Denn eine Reihe spezifischer Faktoren sollte nicht unterschätzt werden:

Die Arbeitgeberseite hatte vor dem Hintergrund einer absehbaren positiven Konjunkturentwicklung wenig Interesse an einer Eskalation des Konfliktes. n Auch auf Arbeitgeberseite war angekommen, dass Reallohnverluste, Gewinnentwicklung und Arbeitsplatzvernichtung in den Belegschaften eine hohe Identifikation mit der 6,5%-Forderung und eine entsprechende Kampfbereitschaft hervorgerufen hatten.
Schon unmittelbar nach Streikbeginn waren die ersten Stimmen vor den bestreikten Betrieben zu vernehmen, dass Eintagesstreiks nicht beliebig oft zu wiederholen sein würden - und dass die Streikenden beim Ausbleiben eines akzeptablen Arbeitgeberangebotes die Begrenzung der Streikdauer selbsttätig überwinden könnten.[13] Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung hat die Arbeitgeberseite denn auch bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Böblinger Verhandlungsergebnisses angedeutet.
Nach Arbeitskampfbeginn waren auch Medienberichterstattung und öffentliche Debatte über Streik und Streikziele deutlich positiver für die IG Metall geworden.
Auch die Diskussionen und Tarifauseinandersetzungen anderer Einzelgewerkschaften machten deutlich, dass es für die IG Metall und ihren Arbeitskampf einen positiven "Resonanzboden" in der Bevölkerung gab.
Und vermutlich hatte die Arbeitgeberseite mit zweierlei auch nicht gerechnet: damit, dass die IG Metall im Jahr der Bundestagswahl einen Arbeitskampf überhaupt beginnen würde; und mit der Auswahl von Berlin-Brandenburg als zweites Streikgebiet. Im Jahr 2004 werden andere Konstellationen gegeben sein - mit oder ohne Rücknahme der Bestimmungen des § 146 SGB III! Wegen der Komplexität der Materie muss frühzeitig damit begonnen werden, über eine Weiterentwicklung der Arbeitskampfstrategie der IG Metall nachzudenken.

Grenzen und Perspektiven

Auch wenn sich die Arbeitskampfkonzeption in diesem Jahr insgesamt als tragfähig erwiesen hat, bleibt es natürlich für die Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Strategie von Bedeutung, gerade auch auf Grenzen, Schwächen oder ungeklärte Fragen hinzuweisen:
1. Bereits im Vorfeld der Arbeitskampfplanung und während des Streiks stand die Frage, ob mit den lediglich auf einen Tag begrenzten Ausständen ausreichend ökonomischer Druck auf die einzelnen Betriebe ausgeübt werden könne. Sicherlich ist es müßig, darüber zu spekulieren, wann der wirtschaftliche Druck auf einzelne Betriebe ausreichend ist und wann nicht. Denn letztlich kann der gewählte Streikansatz für sich reklamieren, dass es gelungen ist, die Arbeitgeberseite wieder an den Verhandlungstisch zu bekommen und einen guten Tarifvertrag abzuschließen - also letztlich auch das Streikziel erreicht wurde. Deshalb sollte für die zukünftigen Strategiedebatten weniger der Aspekt "Verstärkung des ökonomischen Drucks von Tagesstreiks", sondern die Frage nach weiteren Eskalationsmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Welche Potenziale zur Steigerung des wirtschaftlichen Drucks sind im Rahmen befristeter Wechselstreiks vorhanden? Systematisch bieten sich folgende unterschiedliche Wege an:

Der naheliegende Ansatz ist, die absolute Orientierung auf Tagesstreiks zu durchbrechen und Betriebe mit geringer Fernwirkung in einen unbefristeten oder auch länger befristeten Streik zu führen. Eine Option, die bereits seit einigen Jahren in der IG Metall zur Diskussion steht, wäre die so genannte "Kombi-Streik-Strategie" oder "Doppel-Streikstrategie". Dabei werden die Finalproduzenten in einen unbefristeten Streik geführt, während die Zulieferbetriebe und die Automobilindustrie in ein Wechselstreikkonzept einbezogen werden.
Ein anderes zur Diskussion stehendes Konzept löst sich von der Logik des Tagesstreiks dadurch, dass für alle Betriebe zwar der befristete Charakter der Maßnahme gilt, aber hoch flexibel über die Länge in jedem Betrieb nach den jeweiligen Gegebenheiten entschieden wird. Beide Konzepte könnten jedenfalls das Repertoire einer flexiblen Kampfführung erweitern.
n Aber auch innerhalb der "Tagesstreikstrategie" sind weitere Steigerungen des ökonomischen Drucks denkbar. So kann in einem gewissen Umfang sicherlich die Zahl der betroffenen Betriebe und/oder der einbezogenen Beschäftigten erweitert werden.
Eine weitere Option besteht in der Erhöhung der Frequenz zwischen Streik und Wiederaufnahmen der Produktion.
Ein weiterer Ansatz wäre die "Zerschlagung der logistischen Ketten". Hier würden dann die Kampfmaßnahmen nicht mehr parallel bei Zulieferern und Endfertigern stattfinden, sondern sie würden entkoppelt, also zeitversetzt durchgeführt.
Beide Eskalationsstufen hätten allerdings zur Folge, dass Produktionseinschränkungen außerhalb der unmittelbaren Streikbetriebe eintreten, die dann von der IG Metall, den Betriebsräten und den Belegschaften politisch und rechtlich bewältigt werden müssen.

Die Frage nach der weiteren Eskalationsfähigkeit hängt aber auch von der Anlage der ersten Phase eines Streiks selbst ab. Sicherlich erleichtert ein - auch im "Flexi-Streik" - eher konfliktorisch durchgeführter erster Streiktag die Steigerung der Kampfformen. So kann die Verdeutlichung und Realisierung des Prinzips "Hier kommt heute keiner rein!" möglichen Einschätzungen entgegenwirken, es handele sich beim "Flexi-Streik" eher um eine Art "bezahlten Warnstreik".
2. Für die weitere Strategiedebatte ist ein Aspekt von besonderer Bedeutung: Auch wenn die Arbeitskampfkonzeption die Vermeidung von Fernwirkungen in den Vordergrund stellt, darf diese Anforderung nicht zur unüberwindbaren Restriktion für notwendige Kampfmaßnahmen werden. Gerade die Eskalationsstufen im Rahmen der Wechselstreikstrategie verlangen von den Belegschaften, den betrieblichen Interessenvertretungen und auch der IG Metall am anderen Ende der logistischen Kette, dass nicht die Streikaktionen der Kolleginnen und Kollegen in den Fokus der Kritik geraten, sondern "vor Ort" um Alternativen zur Aufrechterhaltung der Produktion bzw. zur Sicherung des Entgeltanspruches gerungen wird. Da mögliche Produktionsausfälle in den Zulieferbetrieben - wenn sie überhaupt auftreten - begrenzt und befristet sind, ergeben sich vielfältige rechtliche und politische Möglichkeiten, die genutzt werden können.
3. Eine organisationspolitische Herausforderung besonderer Art entsteht durch die notwendige "Begleitmusik" in den nicht bestreikten Tarifgebieten. Längere Protest- und Solidaritätsaktionen werden dort selbstredend nicht aus der Streikkasse bezahlt. Dies kann im Zweifel dazu führen, dass Belegschaften in "Nicht-Kampfgebieten" am Ende der Tarifauseinandersetzung (inklusive der Warnstreiks) mehr Stunden drangegeben haben als die Streikenden. Aus dieser Konstellation heraus können die begleitenden Aktionen in den anderen Bezirken unter legitimatorischen Druck geraten. Auch wenn sich dieser begrenzende Effekt der Tagesstreiks bei einer weiteren Eskalation im Verlauf eines Arbeitskampfes relativiert, muss die IG Metall für künftige Kämpfe das Problem mit ihren Mitgliedern und Funktionären diskutieren.
4. Grundsätzlich stellt die flexible Streikstrategien neue Anforderungen an Koordination und Kommunikation zwischen allen Ebenen der Organisation. Während im traditionellen Schwerpunktstreik die Logik des politischen und ökonomischen Drucks "vor Ort" weitgehend mit der gesamten Streikanlage identisch war, kann dies heute und auch zukünftig auseinanderfallen. In flexiblen Streikansätzen werden der Wechsel von Streikmaßnahme und Produktion nach einer Vielzahl komplexer Kriterien, wie etwa mögliche Fernwirkungen usw., entschieden. Damit das ständige "Rein" und "Raus" von Belegschaften nicht als chaotisches "Hin und Her" empfunden wird, müssen die Beschäftigten es selbst für gut und richtig halten.
Eine solche Einsicht ergibt sich nicht von selbst, sondern muss in ausführlichen Kommunikationsprozessen entwickelt werden.
5. Fragt man nach dem Potenzial der Tagesstreiks für eine Politisierung des Kampfes, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Politisierung gewerkschaftlicher Kämpfe bedeutet immer auch die Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Umfeldes zur Unterstützung der Kämpfenden. In diesem Sinne erleichtert die flexible Kampfführung einerseits die Bildung vieler "Kampfplätze", sie erschwert aber die Formierung von stabilen Kristallisationskernen des Konflikts. Im klassischen Schwerpunktstreik haben die Streikbetriebe immer auch die Funktion von "Fixpunkten" für Solidaritätsaktionen übernommen.
Insgesamt hat die IG Metall mit dem "Flexi-Streik" einen bedeutenden Schritt hin zu neuen Arbeitskampfstrategien getan. So ist es ihr gelungen, zwei höchst unterschiedliche Anforderungen mit einander zu verbinden: Sie hat über die effektive Stillegung der Produktion in ausgewählten Kampfbetrieben hinaus auch der Aufrechterhaltung der Produktion in anderen Betrieben mit der strategischen Anlage der Arbeitskampfführung Rechnung getragen. Auch wenn dieser Widerspruch unter den aktuellen Bedingungen der diesjährigen Tarifrunde gelöst wurde, ist unbedingt eine ausführliche innerorganisatorische Debatte notwendig, die die Entwicklung der Konzepte weiter vorantreibt.
Dabei ist darauf zu achten, dass die strategischen Optionen nicht auf die "neuen" Ansätze "verengt" werden. Ein Zugewinn an Flexibilität in der Kampfführung ergibt sich erst durch die Möglichkeit, über eine Vielzahl von Arbeitskampfansätzen als Organisation verfügen zu können. In diesem Zusammenhang muss sowohl in der innerorganisatorischen als auch in der gesellschaftlichen Debatte herausgearbeitet werden, dass der § 146 SGB III auch weiterhin eine Restriktion für die Kampffähigkeit der IG Metall darstellt, deren Wirkung durch die Entwicklung neuer Strategien zwar teilweise kompensiert werden kann, dass letztlich aber dem Arbeitgeberlager mit der "kalten" Aussperrung ein rechtlich und politisch unzulässiges Eskalationspotenzial zu Verfügung steht, mit dem die Kräfteverhältnisse in einem Arbeitskampf massiv zu Ungunsten der Gewerkschaft verschoben werden können. Eine Änderung des § 146 SGB III bleibt nach wie vor unerlässlich.

Christoph Ehlscheid, Richard Rohnert und Manfred Scherbaum sind Gewerkschaftssekretäre im IG Metall-Bildungszentrum Sprockhövel.


Anmerkungen:

[1]Überschrift in der Frankfurter Rundschau vom 7.5.2002.
[2]Überschrift im Tagesspiegel vom 10.5.2002.
[3]Frankfurter Rundschau vom 7.5.2002.
[4]Vgl. hierzu den Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21.4.2002 über ein Gespräch mit Jürgen Peters oder das FAZ-Interview mit Peter Gasse in der Ausgabe vom 24.4.2002.
[5]Berthold Huber in der Frankfurter Rundschau vom 6.4.2002.
[6]Vgl. zu der Arbeitskampfstrategie 1994 und 1995 C. Ehlscheid/R. Rohnert, Arbeitskampf in der Krise, in: Sozialismus 6/94, S.62ff. und H. Meine, Strategie und Taktik des Arbeitskampfes in der Metallindustrie, in: 3. Salzgitter-Forum 1995. Bereits 1994 war von der Bezirksleitung ein flexibles Kombi-Streik-Konzept entwickelt worden. Der Vorstand beschloss jedoch, zunächst den Streik nur bei Finalproduzenten durchzuführen.
[7]Will man die Zahlen mit der Beteiligung bei vorangegangen Streiks vergleichen, so muss berücksichtigt werden, dass im Wechselstreik Betriebe und Beschäftigte mehrfach gezählt werden.
[8]Vor dem Hintergrund eingeschränkter Möglichkeiten der Entfaltung ökonomischen Drucks unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit, technologisch bedingten Streikbruchmöglichkeiten sowie der wachsenden Aussperrungsmilitanz des Kapitals wird es immer wichtiger, die bewusste Politisierung gewerkschaftlicher Kämpfe als zusätzliches Druck- und Kampfmittel einzusetzen.
[9]Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie e.V.
[10]Handelsblatt vom 28.6.1995.
[11]Saarbrücker Zeitung vom 26.4.2002.
[12]Im Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche haben die Arbeitgeber die "kalte" Aussperrung systematisch als Kampfmittel eingesetzt. Vgl. dazu IG Metall (Hrsg.): Arbeitskampf in der Metallindustrie 1984 - Kalte Aussperrung. Dokumentation, Frankfurt/M. 1985.
[13]Vgl. z.B. die Berichterstattung über den ersten Streiktag in der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung vom 7.5.2002.