Die Linke und die Macht

Bei diesem Titel drängt sich der Vergleich zur bekannt liebevollen Partnerbeziehung "Die Schöne und das Biest" geradezu auf, und auch die Frage "Wie kungelt sichÂ’s denn nun?" ist nicht weit.

Bei einem Veranstaltungstitel wie diesem - "Die Linke und die Macht" - drängt sich der Vergleich zur bekannt liebevollen Partnerbeziehung "Die Schöne und das Biest" geradezu auf, und auch die Frage "Wie kungelt sichÂ’s denn nun?" ist nicht weit. Ich will in diesem Spannungsbogen mit acht Anmerkungen ein Stück der Entwicklung des Zusammenkommens von PDS und Machtkonstellation beleuchten.

Dabei gehe ich davon aus, daß die Beziehung zur Macht - also zum Anspruch, politische Verhältnisse in einer Gesellschaft so zu gestalten und umzugestalten, daß sie den Lebensalltag von Bürgerinnen und Bürgen erreichen - lange vor dem Tag beginnt, da man dieser Macht tatsächlich teilhaftig wird. Darum gilt für die PDS zunächst, sich noch einmal dessen bewußt zu werden, in welchem historischen Kontext die neue Beziehung zur Macht entstand.

Anmerkung 1: Abschied von der Macht als Ausgangspunkt

Am Anfang stand 1989 der Abschied der SED von der Macht. Wir haben den abrupten Vertrauensentzug erlebt, dem die SED ausgesetzt war, haben erlebt, wie sich in einer Gesellschaft sehr rasch solche tiefgreifenden Veränderungen vollziehen, und ich halte das und auch die Geburtsstunde der PDS für eine ungeheuer wichtige Lehre, auf die wir auch in den heutigen Auseinandersetzungen immer wieder zurückkommen müssen.

Wir sind gegenwärtig sehr häufig vor die Frage gestellt, wie die PDS es denn gewährleisten könne, daß es ihr nicht so geht wie den Grünen. Daß sie also nicht ein gesellschaftliches Reformprojekt startet und dann so sehr in die Macht eingebunden wird, daß sie alle weiteren Ansprüche Stück für Stück abbaut. Ich glaube, daß die Lehren aus dem Jahre 1989 - also das Erlebnis, wieviel Enttäuschung produziert werden kann durch eine verfehlte Politik - für uns eine sehr wichtige Botschaft sind.

Ich erinnere mich einer Begegnung in der russischen Botschaft in den frühen neunziger Jahren, als wir in der PDS über Stalinismus und Post-Stalinismus diskutiert haben. Der russische Botschafter hatte eine Reihe unserer Magdeburger Diskussionen zur Kenntnis genommen und sagte mir dann an einer entscheidenden Stelle: Weißt du, mein lieber Freund, was Stalinismus wirklich war, habt ihr in der DDR nicht erfahren. Ich habe das für mich insofern verinnerlicht, weil es trotzdem so ungeheuer wichtig war, 1989 als einen Akt geistiger Befreiung zu verstehen und dies auch nicht wieder zurück zu nehmen - auch und gerade dann nicht, wenn man wieder gesellschaftlichen Einfluß erlangt.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich mit aller Konsequenz zwei Wahrheiten einzugestehen: daß erstens die SED keine Ost-Linke war und daß sie zweitens nicht vermochte, sich aus sich selbst zu befreien. Zu dieser Befreiung bedurfte es des äußeren Anstoßes. Der allerdings ist dann in der PDS auch aufgenommen und genutzt worden. Immer wieder aber müssen wir uns eine Erkenntnis aus der Zeit des Umbruchs in Erinnerung rufen: Es war 1989 leichter, die Waffen abzugeben, als die geistigen Arsenale zu entrümpeln. (1)

Unser Anspruch, nicht davon abzulassen, den nächsten Sozialismusversuch zu wagen, aber dies eben unbedingt mit Mehrheiten zu tun, die dies wollen, ist eine der entscheidenden, prägenden Erkenntnisse, die aus diesem Umbruch erwachsen sind. Und mit dieser Erkenntnis müssen wir sorgfältig und behutsam umgehen. In einer Situation, in der wir - wie jetzt in manchen Ostberliner Stadtbezirken geschehen - deutlich über 50 Prozent der Wählerstimmen bekommen haben, dürfen wir eben mit diesem Anspruch nicht nach dem Motto ›Hoppla, da sind wir wieder‹ umgehen und etwa ungebrochen an ein avantgardistisches Parteienverständnis und ein daraus abgeleitetes Staats- und Gesellschaftsverständnis anknüpfen. Das genaue Gegenteil ist notwendig: Die immer wieder erneuerte konsequente Erinnerung an die Gründe für das Scheitern von SED und DDR.

Anmerkung 2: Opposition als einzige Möglichkeit?

Zu Beginn der neunziger Jahre wurde der PDS ausschließlich die Rolle der gesellschaftlichen Opposition zugewiesen - und zwar aus der Sicht der anderen Parteien mit der festen Erwartung ihres Untergangs. Ich erinnere mich an eine ganze Reihe von Wahlauseinandersetzungen und an die stereotypen Redensarten mancher unserer Konkurrenten, die dann immer den Wählern erklärten: ›Ja, meine Damen und Herren, mit der PDS haben wir es hier noch zu tun, aber spätestens bei den nächsten Wahlen wird sich dieses Problem erledigt haben.‹ Der PDS haben diese Prophezeiungen nicht geschadet. (2)

Trotz der Feindschaft der anderen Parteien - und das blieb fast unbemerkt - gab es im Dezember 1993 einen Bundesparteitag der PDS in Berlin, der sich mit den nächsten Bundestagswahlen beschäftigt hat und bei dem eher beiläufig nachzulesen ist, daß per Beschluß festgestellt wurde, daß die Wahl eines Bundeskanzlers der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an der PDS nicht scheitern werde. Nun, das hat man damals so hingenommen. Es war ja Gregor Gysi, der das gesagt hatte, und da galt bei uns für viele ja noch: ›Der Papa wirdÂ’s schon richten.‹ Und niemand hat ernsthaft gefragt, was das denn bedeuten könnte. Es war doch eine scheinbar ganz banale Frage, die klar zu beantworten war: Natürlich war einem ein SPD-Kanzler lieber als einer von der CDU - aber was hatten wir damit wirklich zu tun? Unsere Stimmen würden nicht entscheidend sein.

In der Folge aber hat genau dieser Parteitag, bei dem wir unser Programm beschlossen, den Weg frei gemacht für gestaltungspolitische Optionen und damit auch für die Möglichkeit, in Sachsen-Anhalt etwas Neues zu denken. Dabei muß daran erinnert werden, daß Anfang der neunziger Jahre PDS-Verantwortliche in der Kommunalpolitik auch in einigen größeren Städten längst aus der Rolle der Ausgrenzung und der Verweigerung herausgetreten waren und Mitverantwortung übernommen hatten und das Leben in den Kommunen und den Gemeinden trotzdem und gerade deswegen tatsächlich weiterging und funktionieren konnte. Es war auch diese Zeit Anfang der neunziger Jahre, als sich tief im Harz - für Diskutantinnen und Diskutanten im Westen immer völlig erschütternd und verblüffend - eine Fraktionsgemeinschaft aus Christlich-Demokratischer Union und PDS gebildet hat, die bis heute von Bestand ist und zum Wohle der Gemeinde und ihrer Einwohner arbeitet.

Es war dies aber auch eine Zeit, in der wir beispielsweise - ich will das hier einmal besonders hervorheben, weil es kaum öffentlich behandelt wurde - im Landtag von Sachsen-Anhalt eine Entscheidung zu treffen hatten, die für den Fortbestand der Großchemie im Osten von größter Bedeutung war. Es ging um die Ansiedlung eines großen Kraftwerkes, das heute in Schkopau zu besichtigen ist und zum BSL-Verbund gehört, in dem auch Dow Chemical vertreten ist. Seinerzeit hatten sich die Freien Demokraten im Landtag, als sie mit den Christdemokraten zusammen regierten, geweigert, dieser Investition zuzustimmen. Damit stand das gesamte Projekt auf der Kippe. Nun kann man über diese Investition in verschiedenen Richtungen kritisch denken. Wir aber mußten uns klar machen, was wirklich auf dem Spiel stand: Erstens hätte die Ostchemie auch noch ihre letzten Chancen gegenüber der Westchemie verloren. Und zweitens hätten die ostdeutschen Braunkohleerzeuger ihren wichtigsten Großabnehmer eingebüßt. In dieser Situation haben wir uns auf Anfrage und im Ergebnis von Vermittlungsgesprächen unseres wirtschaftspolitischen Sprechers Wolfgang Süß bereit erklärt, die Pro-Investitions- Entscheidung mit zu tragen und dafür auch unsere Stimmen zu geben. Mit dieser Gewißheit ist die CDU dann an die FDP herangetreten und hat gesagt: ›Liebe Freunde, ihr könnt eure Verweigerung einpacken, weil die PDS in diesem Falle zustimmen wird.‹ Ich glaube, die CDU hätte sich das alles nicht öffentlich getraut, aber diese Androhung hat immerhin gereicht, die FDP aus ihrer Verweigerungshaltung herauszuholen.

Das waren Ansätze, die uns schon sehr zeitig in die Pflicht genommen haben.

Anmerkung 3: Magdeburg 1994 (3)

Der PDS-Vorschlag, über die Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung eine große Koalition abzuwenden, fand zunächst einigen Widerhall in den Zeitungen und auch in der PDS, und es war für mich eine etwas komplizierte Zeit in meiner Partei, weil das Freundlichste, was mir da begegnete, noch der Ausspruch war: ›Roland, da hast du dir aber einen tollen Trick ausgedacht, um komplizierte Journalistenfragen clever beantworten zu können.‹ Als ich dann aber glaubhaft versichern konnte, daß das ernst gemeint war, hatte ich durchaus mit schwierigen innerparteilichen Wahlergebnissen zu kämpfen.

Aber wie dem auch sei: Wir sind dann in diese von mir zunächst nur als Möglichkeit erwogene Situation aus verschiedenen Gründen tatsächlich gekommen. Und es war auch das nicht mit einem ›Hoppla, das ist hier so ein Modell, und hier treten wir wieder in die Gestaltungsverantwortung ein‹ zu machen. Es sind drei Bedingungen zusammen gekommen, die für den Erfolg unseres Weges Voraussetzung waren.

Erstens hatten wir zuvor dreieinhalb kaputte Landesregierungen aus CDU und FDP in Sachsen-Anhalt. Ich erinnere mich noch, daß ich am Wahlabend im Oktober 1990 dem Ministerpräsidenten - Gies hieß der Mann, Tierarzt aus Stendal, und wir haben ihn später auch dann, als er von seiner Partei weggemobbt wurde, nicht mit Häme, sondern mit Respekt verabschiedet und uns dadurch von den anderen unterschieden - im Fernsehen gesagt habe: "Herr Gies, lassen sie es sein, es fehlt Ihnen an der Kompetenz zum Ministerpräsidenten; das geht schief." Da haben mir meine Leute in der Partei dann wieder gesagt: ›Roland, du mußt jetzt aber auch mal Demokrat sein, der ist nun mal gewählt von der CDU, da muß man so was nicht sagen.‹ Ich habe darauf geantwortet: "Ihr werdet es noch merken, daß das nicht klappt." Ich will das nur in Erinnerung rufen, weil das dazu gehörte - die Leute sagten einfach: ›So kann es nicht weiter gehen.‹

Die zweite Voraussetzung war, daß in der Tat eingetreten ist, was viele für unmöglich hielten: daß wir nämlich als PDS ein Ergebnis in der Nähe von 20 Prozent erreicht haben, und daß es keine andere Partei gab, die über Mehrheiten verfügte, mit denen sich eine Regierung ohne unseren Einfluß hätte bilden lassen.

Und die dritte Voraussetzung bestand darin, daß Bedingungen entstanden waren, unter denen Sozialdemokraten, Grüne und PDS wirklich miteinander konnten und wollten. Auch das ist ja nicht unwichtig, und die Grünen, die in der Legislaturperiode 1994 bis 1998 in der Regierung dabei waren, spielten insbesondere durch die Person von Jochen Tschiche eine ganz wichtige Scharnierfunktion. Sie waren für längere Zeit der Puffer in dieser Beziehung und für die SPD auch immer die öffentliche Legitimation, daß man mit diesen Schmuddelkindern von der PDS so etwas machen darf. Und die SPD hat in dieser Zeit immer gesagt: "Na dann, seht doch mal, wenn selbst diejenigen, die hier die Bürgerrechtsbewegung vertreten, bereit sind, mit den Nachfolgern der SED so etwas in Gang zu setzen, dann kann es doch so schlimm nicht sein." (4)

Wir haben uns dann ziemlich theoretisch überlegt, wie wir unter so einer Bedingung, die dann Tolerierung genannt wurde, selbst Politik würden gestalten können. Unsere Sicht auf die Dinge läßt sich in fünf Felder einteilen:
Erstens: Zustimmung zu den Vorschlägen von SPD und Grünen, auch wenn wir mit denen nicht vollständig einverstanden sind. Denn wenn man sich schon mal auf eine solche Tolerierung einläßt, dann kann man sich nicht ernsthaft vornehmen, an jeder Stelle, wo etwas im Lande zu entscheiden ist, nur dann einverstanden zu sein, wenn die PDS ihre eigene Soße dazu gegeben hat. Wir haben also gesagt, wenn es in die richtige Richtung geht, aber noch nicht weit genug ist, dann können wir dem auch zustimmen. Wir müssen nur aufpassen, daß man nicht in die falsche Richtung marschiert.
Zweitens: bei den uns wesentlichen Fragen werden wir nur dann zustimmen, wenn auch PDS-Forderungen Eingang gefunden haben. Wir haben in dieser Situation tatsächlich sehr viel verhandelt; zum Beispiel über die Haushaltspläne. Die sind - inzwischen ist das auch schwieriger geworden, wie ich weiß, aber ich habe mich ja in die sichere Opposition im Bundestag abgesetzt und kann also munter darüber reden - in viel größeren Dimensionen umgestaltet worden, als das in anderen Bundesländern der Fall ist. Und das hatte durchaus damit zu tun, daß das Parlament einen größeren Entscheidungsspielraum hatte.
Drittens kommt es in dieser Konstellation darauf an aufzupassen, daß wir nicht nur kritische Begleiter sind, sondern daß wir immer dort, wo sich Spielraum bietet, auch eigene Positionen einbringen, daß wir also Lücken und Themen besetzen, die von anderen nicht besetzt sind. Das ist schwierig zu machen, wenn man mit einer 20-Mitglieder-Fraktion, die dann nicht mehr als auch noch mal 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, so einen ganzen Regierungsapparat überblicken soll und den ganzen Sinn und Unsinn, der da raus kommt. Da ist es schwer, auch noch den Raum zu finden, wo eigene Themen zu setzen sind. Aber es war unser Anspruch.
Viertens haben wir vereinbart: Wir werden auch eine ganze Reihe von Dingen nicht mitmachen und dann für Alternativen werben. Da werden wir sagen, hier macht es keinen Sinn, den Kompromiß zu suchen, auch wenn wir einzelne Veränderungen erreichen könnten. Wir werden versuchen, mit gestaltungspolitischen Alternativen auf andere Felder zu setzen. So etwas sind dann meistens Themen, bei denen man erst einmal lange vorarbeiten muß, bei denen man lange wie gegen eine Gummiwand rennt und man nichts bewegen kann, man nach Jahren aber merkt: Hier hat man tatsächlich gesellschaftlich etwas geprägt, auf das man zurückkommen kann.
Fünftens haben wir uns vorgenommen, daß wir bei dieser Konstellation radikaldemokratisch anders sein wollen. Wir wollen also auch das tun, was gegen den mainstream zu tun notwendig ist, und wir wollen dem Kampf gegen den Rechtsextremismus und gegen neofaschistische Tendenzen große Aufmerksamkeit widmen. Wir haben das auch durchgehalten. Wir sind also nicht den Demonstrationen fern geblieben. (5)

Diese fünf Optionen - sie mögen alle im Rückblick schön theoretisch klingen, aber sie waren ein Konzept, ein gedankliches Gerüst, an dem entlang wir unsere Tolerierungspolitik entwickelt haben.

Anmerkung 4: Die ›Sündenfälle im Ausland‹

1998 kam es dann zu den ›Sündenfällen im Ausland‹, also zur Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und der Fortsetzung der Tolerierungskonstellation in Sachsen-Anhalt.

Die Vorgänge in Mecklenburg-Vorpommern gingen relativ streßarm über die Bühne, weil sie vor der Kulisse des Bundestagswahlkampfes abliefen - die Wahlen fanden gleichzeitig am 27. September 1998 statt - und die Sozialdemokratie wenig Interesse hatte, das Thema in der Öffentlichkeit zu behandeln. (6) Viel schwieriger war, und das ist unterschätzt worden, die Fortsetzung der Tolerierung in Magdeburg, denn das war nun eben wieder im April, also ein paar Monate vor der Bundestagswahl, und Gerhard Schröder saß ziemlich fest im Sattel als Bundeskanzlerkandidat, hatte in seiner Partei quasi unumschränktes Weisungsrecht, hat davon auch Gebrauch gemacht und hatte ganz ausdrücklich der sachsen-anhaltischen SPD diesen Schritt verboten. Aber seinerzeit hat Reinhard Höppner eine Courage an den Tag gelegt, die man ihm heute wieder wünscht, und hat sich zusammen mit einigen wenigen politischen Freunden dieser Weisung widersetzt und die Geschichte fortgesetzt.

Das Problem ist freilich, daß eigentlich auch Sachsen-Anhalt schon 1998 reif gewesen wäre für eine Koalition zwischen SPD und PDS und wir damit in einer Reihe von jetzt beklagten und kritisierten Positionen wohl ein Stück weiter gekommen wären. Wir hätten jetzt nicht diese vertrackte Situation, daß SPD und PDS gleichermaßen erklären müssen, daß die Tolerierung ausgereizt ist und man etwas Neues beginnen muß. Aber, wie gesagt, die Dinge sind 1998 an der bundespolitischen Konstellation gescheitert - und auch daran, daß die Sozialdemokratie nie ganz die Courage hat an den Tag legen können, die sie eigentlich an den Tag hätte legen müssen.

Anmerkung 5: Warum Regierungsverantwortung?

Ich habe etliche Parteitage der PDS miterlebt, und immer wieder beschäftigte uns die viel diskutierte theoretische Frage: Sollen wir denn diese machtpolitische Konstellation annehmen? Sollen wir uns in diese Regierungsverantwortung begeben? Ich habe oft dagegen angeredet - ›natürlich gibt es Spielraum auch für andere Optionen, aber der ist längst nicht so groß, wie wir uns einbilden‹. (7)

Wir können uns die Rolle in der Gesellschaft auf Dauer nicht aussuchen. Sie wird uns, wenn man einen bestimmten Weg einmal eingeschlagen hat - und wir haben diesen Weg Anfang der neunziger Jahre eingeschlagen -, von den Wählerinnen und Wählern zugewiesen. Natürlich sind dann die Chancen nicht ohne die Risiken zu haben, oder anders gesagt: ›Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.‹ Und darum sage ich: Wir können nicht umhin, diese Verantwortung anzunehmen. Genauso deutlich will ich aber auch sagen: Es gibt selbstverständlich keinen Zwang zur Koalition. Man ist immer in einer mißlichen Situation, wenn man die ersten Schritte tut, und ziemlich folgerichtig war die PDS in Sachsen-Anhalt immer in einer Situation des Fast-erpreßt-Werdens. Wir haben wirklich eine Reihe von Entscheidungen mittragen müssen, die uns sehr schwer gefallen sind. Und die Erpressungssituation war die, daß die Sozialdemokraten uns immer sagen konnten: ›Ihr könnt doch diesen Versuch jetzt nicht beerdigen! Wenn ihr diesen Versuch jetzt kaputt macht, dann kommt ihr doch nirgends mehr auf die Beine in dieser Frage!‹ Und so ein bißchen haben wir das auch immer gewußt.

Inzwischen sind wir aber in einer anderen Situation. Wir sagen mit Blick auf die Landtagswahlen (im April 2002 - d. Red.) mit aller Deutlichkeit: Wir können beides. Wir können uns an einer SPD-Regierung beteiligen, was wir auch anstreben, weil wir auf bestimmte Veränderungen in diesem Lande hinzielen, aber wir können auch eine muntere Opposition abgeben, und das muß auch jeder potentielle Koalitionspartner wissen. Auf dem Weg dahin hat uns natürlich auch die CDU immer ein bißchen geholfen und auch die bundespolitische Sicht auf unsere Art der Gestaltungspolitik, denn mit dem von der CDU heftig gepflegten - von mir aber nie benutzten! - Bild vom Nasenring, an dem die PDS angeblich die SPD durchs Land führen soll, ist eine permanente Überbewertung unseres Einflusses entstanden, die uns hier und da durchaus zustatten kommt.

Anmerkung 6: Zäsur Cottbusser Parteitag

Der Cottbuser Parteitag im Oktober 2000 war für die PDS eine Zäsur. Ich weiß nicht, ob die Geschichte dies bestätigen wird, aber ich habe die Frechheit, diese historische Erwartung zum Zeitpunkt des Eintretens des Ereignisses zu äußern, und so etwas geht in der Regel zwar schief, aber man kann ja mal schauen.

Zäsur meint, daß wir uns verabschiedet haben von der ›Phänomen- Partei‹ PDS und die Verantwortung annehmen als politische ›Gebrauchswert- Partei‹. Das ist, ich weiß es, eine enorme Verkürzung der Zusammenhänge, und ich weiß selbstverständlich auch, daß alle Kommunalpolitiker die Frage, ob und wie sie für die Leute da zu sein haben und so weiter, längst durchdekliniert haben. Aber in der bundespolitischen Wahrnehmung waren wir doch bis dato eine Partei, die immer noch vor allem mit dem Satz ›Die sind ja immer noch da‹ charakterisiert wurde. Wir waren die in der Gesellschaft Ausgegrenzten, die man eigentlich überwinden müsse - und das wird auch nicht auf einen Schlag aufhören. Und nun müssen wir für uns selbst die Veränderung begreifen und annehmen, müssen uns mit politischen Alternativen einbringen in dieser gesellschaftlichen Diskussion, und der Zielpunkt dieser Partei muß, wenn es um Gestaltungsperspektiven geht, der Lebensalltag von Bürgerinnen und Bürgern sein.

Anmerkung 7: Das Neue in Berlin

Wenn man keine Beziehung zu Ossis hat, kann einen das, was in ›reinen‹ Ostländern geschieht, nur mäßig erschüttern; darauf hatte ich im Zusammenhang mit Schwerin schon hingewiesen. Etwas ganz anderes ist deshalb die Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin - und auch die Widerspiegelung dieses Ereignisses in der öffentlichen Diskussion. (8)

Wir konnten unsererseits den Schritt in die Koalition wagen, weil die Berliner PDS beispielhaft den Einigungsprozeß vollzogen hat. Wo immer man in Deutschland ein lebendiges und gutes Beispiel dafür sucht, wie man Vereinigung vernünftig machen kann, kann man von der Berliner PDS lernen. Und sie ist auch im Abgeordnetenhaus für ihre Kompetenz unbestritten geachtet. Schaut man sich jetzt aber die Regierungserklärung von Klaus Wowereit an, merkt man: Wir haben es künftig mit Schwierigkeiten zu tun, die sich daraus ergeben, daß unser Koalitionspartner längst nicht so konsequent auf neue Schritte vorbereitet ist, wie wir uns das wünschen.

Das hat damit zu tun, daß die SPD als damaliger Juniorpartner der CDU am Berliner Filz nicht schuldlos ist. Da wir nun wollten, daß das rauskommt, was jetzt rauskommt, haben wir unsere Kritik natürlich völlig gerechtfertigterweise stärker an die Adresse der CDU gerichtet. Aber die Berliner SPD ist eben auch nicht sündenfrei durch dieses ganze Elend gegangen. Ich will nur noch mal in Erinnerung rufen: 40 Milliarden Euro Schulden allein in einem Bundesland - das ist völlig unvorstellbar! Ich will darum noch einmal eine Vergleichszahl bemühen: Als die DDR unterging und danach ihr Untergang in allen Farben illustriert wurde, hatte sie Auslandsschulden in Höhe von knapp 20 Milliarden DM. Nun sind das nur Auslandsschulden, und man kann es nicht direkt vergleichen, aber klar ist doch: Wir haben es mit einer ungeheuer schwierigen Situation zu tun.

Und diese dürfen wir bei der Beurteilung unserer politischen Kraft nicht vergessen. Wir sind bundespolitisch die kleinste Partei und die kleinste Bundestagsfraktion, haben aber den größten gesellschaftspolitischen Veränderungsanspruch. Die Crux wird jetzt darin bestehen - und die PDS-Landesvorsitzenden klagen es entsprechend ein -, jetzt auch mit konsequenten, kühnen und dann auch beharrlich durchgeführten Reformansätzen für Veränderungen einzutreten, und das heißt dann also auch, die SPD Reformveränderungen zu bewegen, die sie selbst eigentlich nicht will.

Wie macht man so etwas? Das wird nie dadurch gehen, daß man sich in Kungelrunden - und seien sie auch noch so ausgefeilt - hinsetzt und die SPD zu überreden versucht. Da darf man einfach seine Konkurrenten in deren Beharrungsvermögen nicht unterschätzen. Ich habe da auch im Bundestag manche Illusion gehabt. Wenn ich mir mal meinen Amtskollegen Peter Struck betrachtet und gesagt habe: "Na, da werden wir euch aber Ärger machen, wir werden euch nämlich mit all euren Anträgen aus der vorigen Legislaturperiode, mit denen ihr den Kohl geärgert habt, konfrontieren - und was habt ihr da nicht alles versprochen!" Der hat dann geantwortet: "Können sie machen, ist alles Schnee von gestern und stört uns nicht!" Und so mußte ich einsehen: Wo keine Scham ist, kann man keinen in der Schamfalle fangen.

Es gab eine Ausnahme. Es hat ihnen ungeheuer weh getan, als wir beim Schuldrechtsanpassungsgesetz - also beim Datschenschutz - uns vehement für die Forderungen des zuständigen Verbandes (VDGN) eingesetzt und die SPD damit konfrontiert haben, daß sie genau diese Forderungen bis 1997/98 auch unterstützt hat. Aber wir sind damit letztendlich nicht erfolgreich gewesen, und damit ist bestätigt, daß man es nicht durch irgendwelche Überredungskunst schaffen wird, Druck auf einen politischen Partner - egal, ob er Koalitionspartner ist oder nicht - auszuüben. Druck entwickelt man nur dadurch, daß man mit anderen als den regierenden Konzepten in der Öffentlichkeit für sich wirbt. Daß also andere als man selbst sagen: Aber nun hört doch mal, da gibt es doch ein anderes Konzept.

Ich will ein Beispiel nennen, das die SPD seinerzeit selbst erfunden hat: die sogenannte Wertschöpfungsabgabe. Also die Bestimmung der Abgaben der Unternehmen an die Sozialsysteme nach Gewinn vor Steuern. Wir werden es nie erreichen, in Abstimmung mit der SPD dieses Konzept wieder zu beleben. Wir brauchen deshalb eine öffentliche Diskussion - und zwar auch in den Wirtschaftsverbänden, auch beim Bund Deutscher Industrieller - darüber, daß und wie eine solche Entscheidung sowohl unternehmensfreundlich als auch sozial verträglich wäre. Und wir müssen etwas dafür tun, daß wir mit einer solchen öffentlichen Diskussion Druck entfalten. Das ist der Kernpunkt von Politikgestaltung, auf den wir hin müssen.

Anmerkung 8: Die Bundestagswahlen im Herbst 2002

Da ist es nun so, daß alle, die da sagen, wir sind noch nicht wieder drin und also entsprechende Warnungen verbreiten, in der PDS immer viel Zuspruch finden, wie überhaupt bei der Linken Bedenkenträger meist eher Konjunktur haben als Hoffnungsträger. Es stimmt natürlich trotzdem, aber das eigentlich Spannende sind nicht die sechs bis acht Prozent, die uns prognostiziert werden, sondern das eigentlich Spannende ist das Problem, daß es sich dabei um exakt jene sechs bis acht Prozent handeln könnte, die den anderen an den 50 Prozent - also an Regierungsmehrheiten - fehlen. In dieser Situation muß sich die PDS natürlich entscheiden. Bislang haben wir immer der Öffentlichkeit jede politische Konstellation durchdekliniert. Wir haben immer alles, was je eintreten könnte und was wir gewollt haben, der Öffentlichkeit auch gesagt.

Die andere Methode ist bekanntlich der Spruch ›Über Konstellationen und Koalitionen wird am Wahlabend entschieden - das entscheiden die Wähler und nicht Parteitage‹. Was also tun? Wollen wir vor den Bundestagswahlen den Wählerinnen und Wählern klaren Wein einschenken, indem wir ihnen sagen, unser Platz in dieser Gesellschaft ist ganz ausdrücklich auch nach dem 22. September die sozialistische Opposition im Bundestag? Oder wollen wir mehr oder weniger verschämt mit solchen Sätzen wie ›Es könnte ja doch sein, daß wir in der Regierung landen‹ umgehen? Ich glaube also, daß es in der jetzigen Situation richtig ist, mit ziemlicher Klarheit anzusagen, daß unser Platz nicht in dieser Bundesregierung ist. Und das heißt auch, nichts irgendwie Verschämtes andersherum anzuspielen. Ich erlebe das gerade im Westen der Republik, daß genau das eine große Erwartung an uns ist. (9)

Soweit meine acht Anmerkungen. Weitere Überlegungen zum Thema will ich nur noch überschriftenartig anreißen.

Ich denke, daß es ausdrücklich wichtig ist, politische Gestaltungsansätze der PDS in Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit zu sehen. Ich denke, daß die Gesellschaft reif und auch reich genug ist, sich von dem Grundkonflikt zu verabschieden, den wir das gesamte 20. Jahrhundert über zwischen Konservativen und Linken hatten. Daß also die einen gesagt hatten: ›Du kriegst von mir soziale Gerechtigkeit, und der Preis dafür ist die Inkaufnahme der Einschränkung von Freiheitsrechten.‹ Und die anderen, die siegreich waren in der Auseinandersetzung, mir jetzt sagen: ›Hier hast du jetzt die Freiheit, und nun mußt du in Kauf nehmen, daß soziale Ungerechtigkeit die Gesellschaft bestimmt.‹

Daß wir diese Vision anstreben, ist gewiß kein Thema für die jetzigen Bundestagswahlen, weil man Wahlen konservativ gewinnt - also mit den Erkennungsmelodien, die in der Gesellschaft schon klar einer politischen Partei zugeordnet werden. Und da nimmt man uns halt die Bürgerrechtspartei noch nicht richtig ab. Aber wir lassen natürlich dennoch von unseren Visionen nicht ab. Es geht uns darum, staatliche Verantwortung auch im Regierungshandeln neu zu denken und zu definieren. Wir wollen den Staat wirklich auf Kernbereiche seiner gesellschaftlichen Verantwortung bringen, und das heißt auch, einer Rückgabe von Macht an Individuen und Gruppen das Wort zu reden, und das heißt, sich vom sozialistischen Etatismus zu verabschieden. Also von einer Vorstellung, wo Sozialisten meinen, man müsse erst einmal bei der Zentrale möglichst viel Macht und Geld anhäufen, um es hernach wieder als Wohltat an die Unteren zu verschütten. Das ist Feudalsozialismus, der hatte auch seinen Platz in der Geschichte, das kann aber kein moderner sein.

Das also wird eine Schwierigkeit sein genauso wie die Frage, ob die tradierte Linke in Westeuropa den Schritt zu einer modernen Linken schafft, denn das hängt mit der Verabschiedung vom sozialistischen Etatismus eng zusammen. Und es hat den großen Mut zur Voraussetzung, zu sagen, daß ich mir Sozialismus mit den Menschen vorstellen kann. Also: Wenn ich Macht und Geld nach unten abgebe, dann muß ich denen, die dann da unten über Macht und Geld verfügen, auch zutrauen, daß sie richtig darüber verfügen. Und ich kann nicht mit Mißtrauen daran gehen und sagen, vielleicht machen die das falsch, und darum muß ich es ihnen eben von oben regeln. Das ist doch die Gretchenfrage: ob Sozialismus mit Menschen funktionieren kann - oder vielleicht doch nur mit Ameisen.

Ganz zum Schluß will ich mein Augenmerk noch darauf richten, daß wir in der PDS ein anderes öffentliches Image im Umgang mit neuen Technologien brauchen. Leider steht die PDS hier in dem Ruf, sie könne mit diesem ganzen Themenkomplex nicht so richtig etwas anfangen oder wäre gar technologiefeindlich. Wir müssen uns also endlich schlüssig darüber Gedanken machen, wie moderne Technologien und modernes - auch sozialistisches - Gesellschaftsverständnis zusammen kommen können. Es mehren sich die Zeichen, daß wir in der Lage wären, mit der gesellschaftlichen Nutzung vorhandener neuer Technologien umwälzende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg zu bringen, wenn denn nicht die Beherrscher der jetzigen Wirtschaftsstrukturen genau dies verhindern wollten.

Roland Claus - Jg. 1954; Dipl.-Ing.-Ökonom, seit Oktober 2000 Vorsitzender der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag, nach Tätigkeit im FDJ-Zentralrat im November 1989 an die Spitze der SED-Bezirksleitung Halle gewählt, von 1990 bis 1998 Landesvorsitzender der PDS in Sachsen-Anhalt, ›Vater‹ des "Magdeburger Modells" der Tolerierung einer Minderheitsregierung zunächst aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dann der SPD allein durch die PDS.

Der Text folgt einem Vortrag, den Roland Claus am 23. Februar 2002 auf der Konferenz "Die Linke und die Macht" in Magdeburg gehalten hat. Veranstalter der Konferenz waren die Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, der Bildungsverein Elbe-Saale, Magdeburg, und die Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag. Inzwischen haben am 21. April 2002 in Sachsen- Anhalt Landtagswahlen stattgefunden, und entgegen manchen Voraussagen und Hoffnungen ist es nicht zu einer SPD-PDS-, sondern zu einer CDU-FDP-Regierung gekommen. Der Rückblick auf die Zusammenarbeit zwischen SPD und PDS in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 hat dennoch an Nützlichkeit nichts eingebüßt.

(1) In Diskussionen mit konservativen oder sozialdemokratischen Politikern oder Theoretikern zur Frage, wie man sich zu bestimmten demokratischen Errungenschaften verhält, versuche ich dies immer wieder verständlich zu machen: daß für uns wichtige Erkenntnisse in sehr bitteren Auseinandersetzungen errungen worden sind und daß sich solche durch schmerzhafte und bittere Auseinandersetzungen gewonnenen Erkenntnisse möglicherweise tiefer einprägen als solche, die man in einer Art gesellschaftlicher Zugabe quasi nebenher und ganz selbstverständlich mitbekommen hat.

(2) Die PDS mag sich auf ihren Anfangswegen viel geirrt und eine ganze Reihe von Fehlern zu beklagen haben, aber übertroffen wurden wir dabei ganz sicher von unseren politischen Konkurrenten in der Bewertung der Zukunftschancen der PDS.

(3) Zu Magdeburg 1994 ist es auch wichtig, das richtige Datum sagen, denn alle Angaben, die ich bislang in Büchern gelesen habe, sind falsch - aber Geschichte ist bekanntlich ohnehin die, wie sie von den Historikern interpretiert wird, und da kommen zuweilen genaue Daten unter die Räder -, also: Es war exakt der 17. Januar 1994, als ich hier in der Landespressekonferenz das erste Mal öffentlich von der Möglichkeit gesprochen habe, hier in Magdeburg eine große Koalition durch eine - wie wir es damals genannt haben - ›kritische Begleitung einer Minderheitsregierung durch die PDS‹ zu verhindern.

(4) Allerdings war vor 1994 schon zu merken, daß die Grünen in punkto realer gesellschaftspolitischer Entscheidungen mehr und mehr an Einfluß verloren - und zwar wohl auch deshalb, weil sie in dieser kleinen Fraktion, die sie im Landtag hatten, kaum in der Lage waren, die gesellschaftlichen Probleme des Landes überhaupt zu bündeln. Dann fragt man sich aber natürlich: Wieso war denn dann nicht schon eine Koalition möglich? Ich glaube, alle, die sich an diese Zeit erinnern, wissen, daß das völlig unmöglich war - besonders vor dem Hintergrund der bundespolitischen Machtkonstellation. Wir waren in Sachsen-Anhalt (wie immer) in der - glücklich oder unglücklich zu nennenden - Lage, kurz vor den Bundestagswahlen entscheiden zu müssen, und da schied eine Koalition völlig aus.

(5) Ich hatte kürzlich ein Treffen mit dem Vize-Chef des Simon-Wiesenthal-Zentrums aus Los Angeles, in dem bekanntlich schon über Jahrzehnte hinweg rechtsextremistische Tendenzen weltweit beobachtet und analysiert werden. Ich habe ihm gedankt und ihm gesagt, daß ich mich noch gut an eine Zeit erinnere, da es in deutschen Parlamenten ausdrücklich diskriminiert und zum Teil kriminalisiert wurde, wenn man sich gegen Neofaschismus auf die Straße begeben hat und dabei auch noch mit jungen Leuten zusammen gegangen ist, die etwas anders sind als die Mehrheit derer, die in diesem Lande geprägt worden sind.

(6) Ich habe mich allerdings wiederholt gefragt, warum die CDU in Mecklenburg- Vorpommern das eigentlich so gelassen hingenommen hat. Das hat aber eben wohl eine Menge damit zu tun, daß das Verhältnis zu den neuen Bundesländern von großer Fremdheit geprägt ist. Ich habe jetzt bei den Auseinandersetzungen um die rot-rote Koalition in Berlin gemerkt, daß man offensichtlich nach dem Motto vorgegangen ist: Wenn die Ossis so einen Mist machen, dann müssen sie halt die Folgen selber tragen, aber es berührt ja nicht wirklich unsere Republik. Darum spreche ich von den ›Sündenfällen im Ausland‹.

(7) Mit welcher Leidenschaft haben wir unsere Zwei- Lager-Debatten geführt! Die einen riefen: ›Ja, wir müssen das jetzt, und die Leute erwarten das von uns, anders geht das doch nicht.‹ Und die anderen haben mit der gleichen Vehemenz dagegen gehalten, es sei davor zu warnen, weil ein solcher Schritt in die Macht unsere Partei und viele einzelne verbeult und demontiert und deformiert. Und wir hatten immer so etwas wie ein Unentschieden zwischen zwei Lagern, während laut den Umfragen die Bevölkerung - und nicht einmal nur die uns zugeneigte - schon wie selbstverständlich davon ausging, daß die PDS auf dem Wege zu einer Volkspartei im Osten ist.

(8) In Berlin selbst ist der Regierungswechsel noch relativ ruhig akzeptiert worden. Das lag wohl auch daran, daß sich auch alle Wahlforscher und die meisten Journalisten - mit Ausnahme vielleicht von Herrn Gafron und seinen Truppenteilen - ziemlich einig waren: Es gibt einen Wählerauftrag zur Bildung eine SPD-PDSKoalition. Aber in der Bundes-CDU beispielsweise, wo der Berliner Landesverband immer ein exotischer und etwas kritisch beäugter war, hat das schon zu erheblichen Erschütterungen geführt, und so wird eben nicht nur im fernen Allgäu ganz erschrocken gefragt, was denn nun mit der Republik geschehen sei. Deshalb war es auch unerläßlich, daß Gregor Gysi den Schritt in die Berliner Landespolitik gegangen ist, den er eigentlich nicht vorhatte zu gehen, und jetzt auch noch diese spannende Funktion als Wirtschaftssenator angenommen hat.

(9) Denn wir werden es damit zu tun bekommen, daß die anderen natürlich Strategien und Wahltaktiken entfalten werden, die dann alle mit solchen Begriffen laufen wie ›PDS-Stimmen sind eigentlich Stimmen für Stoiber‹ und ›Wer Rot-Grün wirklich eine Chance geben will, darf nicht PDS wählen‹. Und in einer solchen Situation müssen wir dann schon auch eine Entscheidung treffen, die für die Bürgerinnen und Bürger klar erkennbar ist.

in: UTOPIE kreativ, H. 141/142 (Juli/August 2002), S. 583-592