Die Weltlage heute zwischen Terror und Krieg

Wie hat sich die Welt 13 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation verändert? Welche Gefahren bedrohen heute die Menschheit? Und wo sind noch Chancen für eine friedliche Zukunft?

Die Weltlage heute zwischen Terror und Krieg (1)

Die strategische Konfrontation des Kalten Krieges und das Blockdenken fanden durch den Kollaps des einen Blockes ein Ende. Schon damals gab es Stimmen, die meinten, wir Menschen sehnten uns eines Tages in diese bipolar-konfrontative, aber geordnete Welt zurück... Es ist wohl schon, schneller als vermutet, soweit!

Als noch nach der "Dividende" der Block-Abrüstung gefragt wurde, als noch das "Ende der Geschichte" (Fukuyama) angekündigt wurde, als noch die "Party der 90ziger Jahre" (Joschka Fischer) gefeiert wurde, formierte sich hinter dem Horizont des Zeitgeistes schon eine neue Bedrohung; die vielleicht noch keinen strategischen Charakter hat, ihn aber durch Fehler - über die zu reden sein wird - erlangen kann.

Diese Bedrohung hat vier Säulen:

    1. Religiöser Hass
    2. Nationale Überheblichkeit und Chauvinismus
    3. Massenvernichtungswaffen
    4. (Internationaler) Terrorismus.

... einen Moment innegehalten - galoppieren da nicht die vier apokalyptischen Reiter durch die deutsche Geschichte; nicht nur die deutsche, vor allem aber die deutsche?

Es begann mit den christlichen Kreuzzügen des Hochmittelalters gegen die "Heiden", sicherlich keine ausschließlich deutsche Angelegenheit. Aber ich habe aus meiner Kindheit noch die Verse im Ohr: "Als Kaiser Rotbart Lobesam / durchs heil´ge Land gezogen kam / viele Steine gab´s und wenig Brot / die Ritter litten große Not...". Später kam es zum Dreißigjährigen Krieg - dem Religionskrieg überhaupt -, der 1648 mit dem Westfälischen Frieden endete. Diese speziell für Deutschland traumatische Erfahrung markiert den Beginn des modernen Völkerrechts, die europäischen Mächte versuchten sich in der "Hegung" des Krieges, das Kriegsgemetzel wurde Regeln unterworfen, das jus ad bellum wurde durch das bellum justum ersetzt. Wie Christian Bommarius schreibt, "stand dahinter die humane Erkenntnis, dass der Krieg total wird, wenn sich die Akteure nicht auf die Rechts-, sondern eine höhere Ordnung berufen, die ihre Durchsetzung mit allen Mitteln verlangt." (2)

Historisch kurze Zeit später fand das überkommene religiöse Motiv schon "Ersatz" - die Kriege in Mitteleuropa des 19. und 20. Jahrhunderts speisten sich aus der nationalen, der chauvinistischen Quelle. Wieder war Deutschland "führend" dabei: "Jeder Schuß ein Ruß / jeder Stoß ein Franzos" - ein Reim aus dem 1.Weltkrieg. Und es gilt den ersten Einsatz von Massenvernichtungswaffen - Giftgas - durch deutsches Militär bei Ypern, einer belgischen Stadt, zu vermelden. - Diese Kriege gipfelten letztlich im verheerendsten aller Kriege, dem 2. Weltkrieg mit der Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums, dem Bombenkrieg gegen die Bevölkerung aus der Luft - ein zivilisatorischer Bruch gleich dem des fabrikmäßigen Tötens von Menschen - und dem Abwurf zweier Atombomben, ebenfalls auf nichtkriegführende Menschen, Zivilisten. Der Luftkrieg wurde zwar in den Stäben der Militärs vieler Länder konzipiert und geplant, aber wieder ist es Deutschland, das über den Namen der spanischen Stadt Guernica für dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit quasi ein copyright darauf hat.

Die Giftgaseinsätze des 1. Weltkrieges - noch streng militärisch begrenzt - nehmen sich neben diesen Atomwaffenangriffen noch ausgesprochen dilettantisch aus; beides zusammen gibt jedoch auch den Nachgeborenen mehr als nur eine Ahnung von der tödlichen Gefahr, die von diesen Massenvernichtungswaffen ausgeht. Damit verglichen sind Giftgasverbrechen wie das einer Sekte auf die Tokioter U-Bahn oder auch das Saddam Husseins gegen die eigene Bevölkerung vergleichsweise "geringfügig". Die echten und auch die von "witzigen" Menschen versandten Antraxbriefe nach dem 11.September 2001 wiederum machen die tief sitzende Angst der Menschen vor derartigen Mitteln deutlich, selbst eine gewisse hysterische Überhöhung dabei unterstellt. Das 20. Jahrhundert brachte es jedenfalls bezüglich der Waffentechnik, d. h. ihrer Wirksamkeit sowie Reichweite zum s. g. "overkill" - der Anhäufung eines Massenvernichtungspotentials, um die gesamte Menschheit zigfach ausrotten zu können; sei es durch Atomwaffen, chemische oder bakteriologische Kampfstoffe.

Mit dem "11. September" - dem Wort des Jahres 2001 - hat der länderübergreifende Terror seinen Namen bekommen. In diesem Terror gehen offensichtlich zu mindestens Teile des Obigen auf - er speist sich sowohl aus religiösem Hass sowie nationalen Ressentiments und ist wohl auch "gut" dafür, sich Massenvernichtungswaffen zu bedienen. (Dass er bisher nur zivile Hochtechnologieprodukte in Gestalt von Flugzeugen missbrauchte, indem er sie zu hochwirksamen Bomben umfunktionierte, widerspricht dem nicht). Jedenfalls brach dieser Terror so brachial in die Idylle der - wenn auch schon durch den Kollaps der "new economy" geschwächten - "Spaßgesellschaft" ein, dass es zwangsläufig zu einer gewissen Verwirrung über das was ihn eigentlich ausmache, kommen musste.

So verwundert es selbst im Nachhinein nur mäßig, dass seinerzeit Teile der bundesdeutschen Intelligenzija, der Schriftsteller (Sloterdijk, Grass u.a.) unter dem (wohlfeilen) Beifall eines nicht geringen Bevölkerungsteiles meinten, die "Verantwortung", ja die "Schuld" für den 11. September primär in unserer, der westlichen Zivilisation suchen zu sollen. Wirklich? In der Logik eines jeden Verbrechens liegt es, dass zuförderst die Verantwortung des Täters aufgeklärt wird; er wird verurteilt (sowohl im juristischen als auch alltäglichen Sinne) und erst danach wird auch eine mögliche Mitverantwortung der Gesellschaft - schlimme Kindheit, Versagen der Erziehungseinrichtungen usw. usf. - namhaft gemacht. Es kam also zu der mehr als paradoxen Situation - nicht etwa die islamische Welt fragte sich, oder wurde befragt, warum sie diese Verbrecher hervorgebracht hat; nein, Europa und namentlich Deutschland fragte sich: Was haben wir bloß falsch gemacht, wir konnten wir die armen Islamanhänger auch nur so reizen? Eine mehr als verkehrte Welt! Und da war es dann auch mehr als naheliegend, gleich zu behaupten - wie geschehen: "So was kommt von so was".

Auch nach einem Jahr war die Wahrnehmung vom gegenseitigen Einwirken des "Westens" auf den "Islam" respektive "Terrorismus" immer noch zu kurzschlüssig und so bedenklich. Beispielsweise schreibt Karl Homann im Kontext des ersten Jahrestages des 11. September, dass "wir nicht Personen analysieren müssen, sondern Strukturen, die wir gestalten können" und "wichtiger als ihr Geisteszustand (der der Terroristen - St.W.) aber ist die Frage, warum sie so viel Zustimmung erfahren". (3)

Die Zustimmung, die Terroristen weltweit und insbesondere von den Armen in der islamischen Welt erfahren, hat mittelbar schon einiges mit "Strukturen" zu tun, mit anderen Worten - mit der eignen wirtschaftlichen Misere, dem ökonomischen Zu-Kurz-Kommen in einer globalisierten, vorrangig am share-holder-value orientierten Weltwirtschaft, mehr noch - auch mit dem diffusen Gefühl einer zivilisatorischen Unterlegenheit. Was die wirtschaftliche Benachteiligung angeht, so steht diese in einem relativ einfachen, "greifbaren" Zusammenhang mit diesem Bejahen des Terrorismus; was die Zivilisationsfrage angeht - da sind die Konnotationen komplexer dergestalt, dass die Unterlegenheit erst einmal "gefühlt" ist, von interessierter eigner, aber auch westlicher Seite lanciert wird und erst über diesen Umweg ebenfalls für die breite Masse real wird...

Ich mache diese Trennung der "Strukturen" in ein "Ökonomisches" und ein "Zivilisatorisches" bewusst. Bezüglich der eigentlichen Terroristen - also Bin Laden, Atta und Konsorten (die Differenz, dass der eine Inspirator und Finanzier ist, der andere sich selbsttötend "einbringt" ist in diesem Kontext ohne Bedeutung) - kann in keiner Weise von einer wirtschaftlichen Zurücksetzung die Rede sein kann! Das wird auch nicht dadurch anders, dass das von den Terroristen zur eigentlichen Tat missbrauchte Fußvolk wahrscheinlich zum großen Teil aus der ökonomisch benachteiligten Masse rekrutiert wurde; "missbraucht" deshalb, weil bekannt ist, dass diese "Kämpfer" nicht oder nur unzureichend in die mörderischen Pläne eingeweiht waren - und das aus gutem Grund, denn wie Indizien zeigen, waren sie nicht in jedem Falle bereit, sich ebenfalls selbst zu opfern...

Was die erwähnten wirklichen Terroristen angeht, so greift - neben abgrundtiefer Verachtung ihrer eigenen "schlappen" Glaubensbrüder - einzig und allein der Hass auf die westliche Zivilisation. Hass ist etwas sehr Persönliches, wir müssen - entgegen Homann - gerade und in erster Linie "Personen analysieren", um dem Problem des Terrorismus auf die Spur zu kommen! Und um ein Beispiel eines "Geisteszustandes" zu geben - Folgendes gibt Hassan al-Turabi, ein führender Intellektueller des Islams zu Protokoll: "Diese Gottlosigkeit in Europa, der Rassismus in der Metro, die Kommerzialisierung der Erotik, die den Frauen die Kontrolle über ihre Körper raubt, all das hat mir meine eigenen Werte gezeigt. Und dann, als ich im Gefängnis saß, habe ich gelesen. Tausend Bücher. Alles: Geschichte, Religion, Politik, Kunst. Unsere und Ihre. Sehen Sie, da steckt das Problem. Wir kennen Ihre Sprache, Sie unsere nicht. Wir kennen Ihre Geschichte und Ihre Geografie; Sie wissen nichts über uns... Säkular, säkular... das ist eure fixe Idee. Ihr wollt Gott in die Kirche einsperren. Ist er nicht der Allgegenwärtige, Allmächtige? Ist das nicht die Idee der Christen und Juden auch? Und ihr wollt ihn aus den Straßen, den Märkten, den Parlamenten heraushalten? Wie kann das gehen? ..."(4) . Mit anderen Worten - hier geht es deutlich um eine zivilisatorische Auseinandersetzung, wie Huntington sagt, um den "clash of civilisations"(5). Konkret spricht al-Turabi von der im Christentum und Judentum weitgehend - dass es da und dort schon wieder "Rückfälle" gibt, hebt die Sache nicht auf - abgeschlossene Säkularisierung, also die Emanzipation der Gesellschaft von der Kirche, die der Islam (noch) nicht vollzogen hat. Die Alternative zur Säkularisierung ist die Scharia, ist der islamische Dominanzanspruch gegenüber Andersgläubigen, ist die - gelinde gesagt - sehr spezifische Sicht auf das Geschlechterverhältnis, auf die Menschenrechte usw.. Da lob ich mir doch meine Welt...

Bin Laden höchst persönlich blieb es vorbehalten, den chauvinistischen, den den Hass gegen andere Völker schürenden "Bestandteil" des Terrors einzubringen, als er dazu aufrief: "Es ist die Pflicht jedes Muslim, Amerikaner und ihre Alliierten, wo auch immer, zu töten".

Alles in allem - der hier in Rede stehende Terror hängt also sehr wohl primär von ganz bestimmten Personen, Einpeitschern, ihren hasserfüllten Ausbrüchen gegen die "Gottlosigkeit in Europa", gegen andere Völker ab und nicht von "Strukturen"; dass es zu gewissen Verquickungen zwischen beiden kommt, ist oben schon gesagt.

Auch unterliegt der zitierte Autor m. E. einem logischen Fehlschluss, wenn er schreibt, dass die terroristischen Täter und ihre Hintermänner "aber die stillschweigende Duldung, vielleicht sogar die implizite Anerkennung großer Gruppen für ihre allgemeinen Ziele haben. Das ist das eigentliche Problem". Ich denke dagegen, dass das Problem doch eher der Terrorismus ist, denn die latent immer präsente "Duldung" respektive "Anerkennung" wird jedoch erst durch den konkreten Terrorakt öffentlich, sozusagen "abgerufen". "Stillschweigendes" und "Implizites" ist kein "Problem"; da wird wohl das Pferd am Schwanze aufgezäumt... Und noch etwas: Die Menschen "sehen nicht mehr ein, warum sie sich den Regeln eines Systems unterwerfen sollen, das für sie keinen Vorteil bringt. So werden Gewaltausbrüche unvermeidlich", schreibt der Autor weiter. - Sicherlich, derartige Ausbrüche sind aus vielen armen "südlichen" Ländern wie Algerien, Pakistan, Indonesien, Indien usw. bekannt. Jedoch - was hat das mit dem 11. September zu tun? Ganz wenig, bestimmt grenzen diese Proteste manchmal ans "Terroristische", finden aber im eigenen Land statt und wenden sich gegen konkrete korrupte Personen, deren Netzwerke - Stichwort Suharto oder auch gegen anonyme wirtschaftliche Strukturen, die die Menschen vor Ort ausplündern. Jedoch sind derartige Proteste keine exklusiven Veranstaltungen nur der Benachteiligten des "Südens"; auch im "Norden" kommt es zu (gewalttätigen) Protesten gegen die "Regeln" in Gestalt der WTO, der Weltbank usw.

Das Verbrechen vom 11. September wurde dagegen ohne äußeren Anlass bewusst "wo ganz anders hin" getragen. Es ist vielmehr eine Attacke auf unsere Zivilisation und dient damit keiner "Sache"; schon gar nicht "den zwei Dritteln der Menschheit, die aus dem produktiven Spiel der Weltwirtschaft ausgeschlossen sind" (ebenfalls Homann). Auf diesem Hintergrund sind grundlegende Unterschiede beispielsweise zu den nordirischen Terroristen festzumachen. Sie kämpften respektive kämpfen mit Terror - der unbedingt verwerflich ist, der nicht im Geringsten zu legitimieren, sondern zu verurteilen ist - jedenfalls um eine "Sache": Die Religions- respektive Territorialzugehörigkeit ihres Landes. Gleiches gilt für die palästinensischen Selbstmordattentäter; auch sie meinen, für ihr Land zu kämpfen. (Ihnen steht notabene momentan in der Person von Sharon ebenfalls ein Terrorist, nämlich ein Staatsterrorist gegenüber.) So verdammenswert - ich wiederhole mich - auch dieser Terror ist, dazu untauglich, so hat er jedenfalls einen nachvollziehbaren Gegenstand; deshalb auch bekennen sich die Täter zu ihren Un(taten). Die arabisch-islamistischen Terroristen um Bin Laden haben in diesem Sinne kein Ziel, sie frönen letztlich nur ihrem Ego und missbrauchen lediglich die islamischen Armen dieser Welt. Deshalb geben sie sich auch kaum öffentlich zu erkennen, obwohl es inzwischen keine Zweifel an ihrer Täterschaft gibt.

Apropos des obigen Lobes "meiner Welt"... Tendenziell vermisse ich eine - für mich selbstverständliche - Identifizierung mit der uns eigenen Lebensweise, zu der an hervorragender Stelle die "Strukturen", die Wirtschaft zählt, deren Vorzüge und Freiheiten man ebenso genießt wie man deren Missstände tadelt. Nur eine derartige kulturelle Souveränität kann die Grundlage für ein gleichberechtigtes Koexistieren der Religionen respektive der darauf basierenden Zivilisationen sein, d.h. für einen Dialog auf gleicher Augenhöhe! Das Gegenteil, dieses sich bewusst "klein" respektive "schuldig" machen zeugt entweder von Schwäche und Minderwertigkeitskomplexen oder - perfider - von grandioser Heuchelei und versteckter Arroganz: Der Kleine und Schuldige ist der moralisch Große, wenn nicht gar Größte!

Abschließend: Gesetzt den Fall, wir kämen zu dem Schluss, dass wir unsere Zivilisation zusammen mit der dazu gehörigen Wirtschaft doch "verbessern" oder gar abschaffen sollten? (Dass ihre Verbesserung eine immerwährende Aufgabe ist, ist klar - nur wer entscheidet, worin die "Verbesserung" läge? Die Armen dieser Welt, die Reichen, der Norden, der Süden...?) Grundsätzlich ist - so denke ich - jedwede Kritik an der eigenen Zivilisation überaus schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Warum? Diese Zivilisation befindet sich möglicherweise zwar in einem - aus subjektiver Sicht - bedauerlichen, aber stets in einem sozusagen "historisch adäquaten" Zustand. Alles was wir Menschen tun, konstituiert das soziale Sein in der Zeit - unsere Geschichte also und damit ebendiese Zivilisation und auch deren Wirtschaft. Im Ergebnisse dessen ist sie deshalb auch nicht einfach "schlecht", genau so wenig wie andere Zivilisationen wie die islamische beispielsweise "gut" sind. Zivilisationen sind gegenwärtig so, wie sie sind. - Wir Menschen sind in letzter Instanz Beobachter dessen, was uns durch unser eignes Handeln "zustößt". Die dadurch entstandene und permanent neu entstehende Lage ist das Ergebnis einer urwüchsigen, von uns Menschen nicht "verantwortbaren", jedoch von unserem Handeln getragenen Entwicklung, die mit der Vertreibung aus dem biblischen Paradies (streng genommen noch im Paradies, aber das führte hier zu weit) begann. Damals wurden die Menschheit zwar in die "Freiheit" entlassen, ja erlangten Bewusstsein über sich selbst, um dennoch nicht autonome Schöpfer des eigenen Seins zu sein. Diesem Progress ist kein objektives Ziel eigen, er ist selbstorganisatorisch, er ist das Ergebnis der Geschichte einer Geschichte einer Geschichte; mit anderen Worten - unsere Geschichte und so auch unsere Zivilisation "passiert" uns immerwährend! Woher kann sich also, um oben schon gestellte Frage noch einmal anders aufzugreifen, das Kriterium hernehmen für Beurteilungen von Zivilisationen? Doch nur aus dieser selbst...

So eindeutig ich der Meinung bin, dass Sloterdijk unrecht hat, wenn er - Obiges so zu sagen zusammenfassend - sagt, "daß die westliche Demokratie jene Lebensform ist, in der man für seine Feinde verantwortlich ist" (6), sosehr denke ich aber auch, dass - wie eingangs gesagt - jetzt keine Fehler gemacht werden dürfen, die den internationalen Terrorismus zu der strategischen Bedrohung des 21. Jahrhunderts für ebendiese westliche Demokratie machen: Die USA und ihre "Allianz der Willigen" sind gerade dabei, diese Fehler zu machen!

Diese Fehler gruppieren sich quasi alle um den drohenden und sehr wahrscheinlich nicht mehr abwendbaren Krieg der USA und ihrer Verbündeden gegen den Irak. Man kann sie knapp so fassen: Die potentiellen Risiken, die vom Regime Saddam Husseins ausgehen, sind geringer als die, die ein Krieg gegen dieses Regime in sich birgt. Eine Stärkung des internationalen Terrorismus ist dann quasi vorgezeichnet. Doch nun im Einzelnen dazu...

Wiederholt war zwar Saddam Hussein als "Terroristen-Herbergsvater" im Gespräch, jedoch konnte ein wirklicher Nachweis dafür nie erbracht werden. Desgleichen konnte auch eine Weitergabe von Massenvernichtungswaffen aus dem Irak an Terroristen, ihre Netzwerke nicht bewiesen werden. Andererseits befindet sich der Irak nach übereinstimmenden Meinungen in einem wirtschaftlichen, militärischen und mentalen Zustand, der mehr als prekär ist. Deshalb ist wohl eine von ihm ausgehende Kriegsgefahr als mehr als gering einzuschätzen, selbst beim Vorhandensein von Resten von Massenvernichtungswaffen. Ein ehemaliger Berater der US-Army, Daniel Ellsberg, schreibt sogar: "Saddam ist erst eine Gefahr, wenn er attackiert wird."(7) Die Kriegsgründe der USA sind so letztlich bis heute nicht deutlich bzw. dienen schlicht der Verneblung der wirklichen Intensionen... Dass dieser Krieg weltweit und auch in den dann beteiligten Ländern auf massive Ablehnung stößt, hat deshalb nur wenig mit einem fundamentalen Pazifismus zu tun - auch wenn sich Leute wie Biermann in der Schelte, ja der Verunglimpfung der (deutschen) Friedensbewegung gefallen. Oder auch die Losung "Kein Blut für Öl" madig machen, den angeblichen Antiamerikanismus bemühen usw. (8). Darum geht es auch, aber nicht nur.

Die Frage ist doch vielmehr, aus welchem tiefen Grunde sich gerade die britische Bevölkerung - wohl namentlich über das letztgenannte Phänomen, das des Antiamerikanismus, vollkommen erhaben - zur größten Demonstration in der Geschichte des Landes (!) versammelte, gegen diesen Krieg. Und es waren nicht nur die üblichen Verdächtigen in selbst gestrickten Pullovern und ungewaschenen Haaren, sondern Lords and Ladies, Investmentbanker, Farmer, ganze Familien usw. Oder aber das ebenso massenhafte "No a la guerra" in Spanien, auch wieder bei starker Beteiligung der bürgerlichen Schichten, der Aznar-Wähler. Und nicht zuletzt die wachsende Kriegsopposition in den USA selbst. Diese Beispiele stehen für Millionen von Menschen weltweit... Ist da möglicherweise über die "brachiale Friedensliebe" hinaus noch mehr im Spiel als eben nur die pazifistisch-naive Vorstellung, einen konkreten Krieg verhindern zu sollen? Manifestiert sich da nicht zunehmend stärker ein weltweites Unbehagen nicht nur von "Nationalpazifisten" - und eben kein platter, "paranoiden" Antiamerikanismus - über Vorstellungen, Pläne und Taten respektive Unterlassungen der Washingtoner Administration? - Die entscheidende Frage jedoch in diesem Kontext ist dann die - wie kommt, wie muss dieser Krieg über Europa hinaus nicht nur in der arabisch-islamischen Welt ankommen? Welches werden seine Reperkussionen auf den internationalen Terrorismus sein? Ich überlasse die Antwort der Vorstellungskraft des Lesers...

Was namentlich die "alten" Europäer darüber hinaus umtreibt, was sie irritiert aufhorchen ließ, war die von Bush geäußerte Meinung, dass "die USA in der Lage sein müssten, einen Feind bereits dann vorbeugend auszuschalten, wenn Zeit und Ort eines möglichen Angriffes auf die USA noch unklar (!) seien". Damit ist nicht nur einem Präventivkrieg, sondern gar einem Präemptivkrieg - also einem Krieg, der auch nur das Aufkommen einer künftigen Gefahr verhindern will - das Wort geredet. Dazu passt, dass "(militärische) Aufgaben die Koalitionen bestimmen und nicht umgekehrt" (Stellvertretender US-Verteidigungsminister Paul Dundes Wolfowitz)(9) - wer stellt internationale Bündnisse wie die NATO infrage, von wem geht ein gefährlicher Unilateralismus aus? (10)

Weiter: Erst nach Intervention einiger Abgeordneter enthält das amerikanische Budget für 2004 sage und schreibe 300 Millionen Dollar für den Aufbau, das "nation building" in Afghanistan. Die USA wiederholen den schon einmal in diesem Land gemachten Fehler, das Land sich nach einer gelungenen Militäroperation (damals Herauswurf der Sowjetarmee mit CIA-Unterstützung) selbst zu überlassen. Die Spezialtruppen der USA werden jetzt aus Afghanistan in Richtung Golf abgezogen - wie ernst ist es Washington mit der einst so heftig beschworenen Terrorismusbekämpfung überhaupt noch? Bin Laden nicht gefasst, al-Qaida nicht endgültig zerschlagen - über diese Misserfolge kann auch die letzten Verhaftungen von nachgeordneten Führern der al-Qaida wie Khalid Sheikh Mohammed nicht hinweg täuschen; da muss ein Sieg für die US Heimatfront her! Das führt zur nächsten Frage: Was ist da in Sachen Irak von den USA zu erwarten? Wahrscheinlich der schnelle Sieg - aber was dann? Gemessen an den stringenten Kriegsvorbereitungen sind die Pläne für das Danach und damit das Kriegsziel - zu mindestens nach außen, für die (internationale) Öffentlichkeit - noch ziemlich widersprüchlich; nur Entwaffnung des Landes, ein Regimewechsel, ein US-General als Protektor? Die Befürchtung, dass das Afghanistan-Muster sich wiederholt, dass also ein nächstes Zielland auf der "Achse des Bösen" ins Visier genommen wird und der Irak sich selbst respektive der Weltgemeinschaft überlassen bleiben wird, ist sehr real. Wieder käme es dazu, dass der internationale Terrorismus aus diesem Zustand eher Zulauf denn Schwäche zöge.

An der Entschlossenheit der USA, diesen Krieg auch notfalls ganz allein zu führen, gibt es nicht den geringsten Zweifel! Dass sie in diesem - und nicht nur in diesem - Zusammenhang die UNO für eine "irrelevante Quasselbude" halten, ist ebenfalls bekannt; in diesen Dingen ist die US Administration von entwaffnender Offenheit. - Wie die Welt aussähe ohne einen funktionierenden UN-Sicherheitsrat, wurde unlängst der deutsche Außenminister gefragt. Sie sähe finster aus, sagte Fischer; das Ausbalancieren ungleicher Machtpotentiale würde unendlich erschwert; Amerikas Macht, um die es mittlerweile nur noch geht, hätte sich der institutionellen Fesseln entledigt, die sie im Moment noch binden. Der Ausübung der US-amerikanischen Macht wären fortan keine formalen Grenzen mehr gesetzt, die multilaterale Ordnung der Welt wäre zu mindestens geschwächt (11) - ein Zustand, der den Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht unbedingt voranbrächte.

Es ist bekannt, dass die USA sich ihre Allianzen und Koalitionen etwas kosten lassen. Um nicht falsch verstanden zu werden; ich meine nicht, dass Politik eine überaus moralische Sache wäre und andere nicht auch mit Geld Politik machten, das Feilschen um die Stimmen der "Unabhängigen" im UN-Weltsicherheitsrat demonstriert das momentan überaus eindrücklich. Es erschreckt aber schon, wie tief dieser Glaube an die Allmacht des Geldes selbst bei gewöhnlichen US Amerikanern sitzt und zu welcher - dann doch moralischen - Entrüstung sie fähig sind: Don Jordan, ein freier Journalist aus den USA versteht nicht, wieso die USA öffentlich angegriffen werden in Ägypten, wo sie doch jährlich 2 Milliarden Dollar an das Land geben. Davon würden Zeitungen publiziert, die gegen die USA Front machten...(12). Mit Geld alles kaufen, alles "richten" können? Wird nicht gerade durch eine derartige Denkart das Geringschätzige gegenüber der arabisch-muslimischen Welt überaus deutlich, das sich "Zivilisatorisch-benachteiligt-Fühlen" dieser Menschen regelrecht domestiziert? Terroristen können sich nichts Hilfreicheres wünschen...

"Amerika muss den Nahen Osten demokratisieren" und: "Wir erleben einen in seinem Umfang... geradezu atemberaubenden Paradigmenwechsel" (13). Wie recht der Autor Ronald D. Asmus hat, welchen tiefen Bruch dieses neue Paradigma zur bisherigen Denktradition auch der USA darstellt, wie groß und gefährlich das Sendungsbewusstsein der gegenwärtigen Administration ist, zeigt auch Folgendes: In "The National Security Strategy of the United States of America" ist unter dem Begriff des Freihandels zu lesen: "Wer etwas herstellt, das andere schätzen, sollte es ihnen verkaufen können. Wenn andere herstellen, was man selber schätzt, sollte man es erwerben können. Das ist wirkliche Freiheit, die Freiheit einer Person - oder einer Nation - ihr Leben zu bestreiten."(14) Beide Male wird Freiheit positiv - also als Norm - gefasst, eben als Vermögen, als Freiheit zur Demokratie respektive zur Lebenssicherung. Damit verabschieden sich die USA Bushs aus der großen europäischen und in Sonderheit auch angloamerikanischen Denktradition! Denker wie Isaiah Berlin oder Karl Popper haben die Tugend der "offenen Gesellschaften" - also der westlichen Demokratien - im Gegenteil gerade darin erkannt, dass diese Gesellschaften keine "Freiheits-Normen" aufstellen! Bürgern oder Staaten soll danach keine "Freiheit z u etwas" vorgeschrieben werden, sondern Bürger und Staaten sind durch "Freiheit v o n etwas", also durch Freiheit von Zwang, von staatlicher Bevormundung usw. geprägt. Auch die Frankfurter Schule (Adorno, Horckheimer, Marcuse) setzt auf diese Denkhaltung; ein leitendes Motiv ihrer "Kritischen Theorie" lautet: "Jedes Menschenbild ist Ideologie außer dem negativen". Man kann folglich bestenfalls danach fragen, was der Mensch - und in Analogie die Gesellschaft - nicht sein soll. Wenn man sagt, was er oder sie sein soll, macht man ihm oder ihr schon "Vorschriften", macht sie also unfrei. Das "Alte Europa" verdankt diese Erkenntnis nicht zuletzt dem verhängnisvollen Wüten zweier "normativer" Ideologien im 20. Jahrhundert - dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus.

Diese fundamentale ideelle Differenz in der Wahrnehmung von Freiheit - der sich die Protagonisten sicherlich nicht in jedem Falle bewusst sind - liegt dann auch den aktuellen Irritationen, den gegenseitigen Vorhaltungen und der Sprachlosigkeit zwischen dem alten Europa und der neuen, US-amerikanischen Welt zugrunde. Sie hat zwar keine unmittelbare Auswirkung auf den Kampf gegen den Terror, schwächt aber allemal die westliche Welt.

Ist das alles in allem eine verlässliche Politik, die der Weltlage, der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus gerecht wird? - wohl kaum; da kann man den USA nur vorher in den Arm fallen! Einen Bruchteil des politischen und finanziellen Einsatzes der USA für den Irakkrieg beispielsweise zur Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes eingesetzt, hätte mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Lösung des Konfliktes geführt und Biermann müsste für Israel nicht die "panarabische Endlösung der Judenfrage" befürchten. Dem Terrorismus wäre nicht nur in der Region ein gutes Stück der Nährboden entzogen und die USA hätten Freunde gewonnen. Sie tun das Gegenteil... und vertiefen mit einem aus Sicht des Völkerrechts ungesetzlichen und aus Sicht der Weltprobleme widersinnigen Krieg letztlich den oben zitierten clash of civilisations.

(1) Motto: Tapferkeit vor dem Freund - Ingeborg Bachmann
(2) Berliner Zeitung vom 10.03.03, S. 4.
(3) Berliner Zeitung vom 07./08.09.02, S.36
(4) Nach Berliner Zeitung....
(5) Ich will das Wort "clash" ausdrücklich in seiner Bedeutung von "Zusammenstoß", "Zusammenprall" verstanden wissen und nicht in der auch vorzufindenden Version "Krieg".
(6) Peter Sloterdijk im FOCUS vom 24.09.01; zitiert nach: Henryk M. Broder: Kein Krieg, nirgends: Die Deutschen und der Terror. S. 185.
(7) Berliner Zeitung vom 12.02.02, S. 14.
(8) Siehe: SPIEGEL 9 vom 24.02.03, S. 144.
(9) Zitiert nach: J. Bölsche: Der Krieg, der aus dem Think Tank kam. In: SPIEGEL ONLINE 2003.
(10) Die Auseinandersetzung mit dem Irakkrieg war nur der Katalysator, der das fehlende Ziel der NATO nach dem Ende der Blockkonfrontation deutlich machte. Die östliche Welt explodierte nach Aufhebung des Blockzwanges - warum sollte es der westlichen anders gehen?
(11) Siehe: FAZ vom 07.03.03, S. 10.
(12) ARD-Presseclub vom 23.09.01.
(13) ZEIT Nr. 11 vom 06.03.03, S. 11.
(14) Berliner Zeitung vom 05.02.03. S.9.