Kriegsdiktatur

Die Begründungen für den Irak-Krieg des Jahres 2003 durchliefen noch schnellere Wandlungen als die für bisherige Kriege. Sie sind vorgeschoben und konstruiert. Sie sollen die wahren Ziele verschlei

Da diese Zeilen in Druck gehen, ist Kriegsopfern in unbekannter Zahl zu gedenken. Irakischer Frauen und Männer, Kinder und Greise, Soldaten und Milizionäre. Amerikanischer und britischer Soldatinnen und Soldaten unterschiedlicher Hautfarbe, meist aus den Reihen der Armen und Ärmsten in ihren Ländern stammend, nun gegen die noch Ärmeren im Irak in Marsch gesetzt. Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt.

Es ist unklar, ob wir die wirklichen Zahlen der Getöteten und Verwundeten je erfahren werden. Die Zahlen des Golfkrieges von 1991 sind bis heute vage, exakte Angaben werden uns vorenthalten. Wo, wie damals und heute von Seiten der USA und Großbritanniens im Irak massenhaft geschehen, die Durchschlagskraft der Waffen mit abgereichertem Uran verstärkt wird, kann man auch zehn Jahre nach der überstandenen Schlacht noch an dieser zugrunde gehen. Weil das "Abgereicherte" nach dem Auftreffen dennoch radioaktive Strahlung aussendet. In Basra, wird berichtet, nahmen nach 1991 die Krebserkrankungen dramatisch zu. In den USA werden Zehntausende solcherart leidtragender Soldaten mit ihrem Schicksal allein gelassen. Im Irak sind seit 1991 im Ergebnis von Krieg und Sanktionen Hunderttausende Kinder verhungert oder durch verseuchtes Wasser zu Tode gekommen. Sie alle sind Kriegsopfer, zu denen nun viele neue gekommen sind und weitere kommen werden.

Wird es helfen, wenn wir die Zahlen kennen? Die, die Kriege wollen, bauen wesentlich auf Geschichtsvergessenheit. Und darauf, daß Zahlen ohne Gesichter bleiben.

Die Sprache des Krieges verschleiert, lügt, lenkt fehl. Das Bedauern um den Tod von Zivilisten bei direkten Kampfhandlungen, die in dieser Sprache immer "unschuldige Zivilisten" sind, suggeriert, daß es am Tode von Schuldigen nichts zu bedauern gäbe. Wer aber sind im überfallenen Irak die toten Schuldigen? Die Soldaten? Wenn es so ist, daß der Diktator Saddam Hussein so abgrundtief gefährlich ist, daß ihm nicht anders beizukommen ist als durch Krieg, dann erst recht sind die Soldaten des Landes nicht Freiwillige, sondern durch eben diesen Saddam Hussein in die Armee gepreßt worden, und dann hatten sie bei Strafe ihres Untergangs keine Chance, sich diesem Schicksal zu entziehen. Nun sind sie tot, umgebracht auf eigener Erde, "schuldig" nur des zufälligen Ortes ihrer Geburt. Und auch die, die dem Diktator willig dienten, haben sich nicht der Teilnahme an einem Angriffskrieg schuldig gemacht, sondern lediglich des Widerstands. Kein Mitleid? Nichts zu bedauern?

Der Krieg, von dem die Rede ist, ist der Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak, angekündigt und in aller Offenheit vorbereitet seit über einem Jahr, begonnen am 20. März 2003. Es ist ein Aggressionskrieg, ein Angriffskrieg, ein Überfall. Das Völkerrecht verbietet nicht nur ihn selbst, sondern schon seine Androhung.

Am 9. April verkünden die Agenturen und Fernsehsender, daß die irakische Hauptstadt Bagdad fast vollständig in der Hand der US-Truppen ist. Die Erleichterung ist allgemein. Auch bei den europäischen Gegnern dieses Krieges. Denn wer könnte hier eine Fortsetzung der ununterbrochenen Bombardements wünschen? Wer eine Fortsetzung der Kämpfe der Bodentruppen? Wer also eine noch größere Zahl von Opfern? Und wer sollte nicht erleichtert sein über den an diesem Tag verkündeten Sturz Saddam Husseins?

Die Medienkommentare am Abend dieses Tages machen die Größe der Verlockung deutlich, aus der Erleichterung schnell nachträgliche Rechtfertigung zu machen. Hat er nicht doch einen Sinn bekommen, der Tod der Vielen, durch diesen raschen Sieg? Der zwar nicht ganz so rasch und "chirurgisch präzise" ging wie einst angekündigt, aber doch viel schneller, als zwischendurch zu denken war? Und sprechen die Bilder jubelnder Menschen nicht von Hoffnung und Chance? In der Rechtfertigung dieses Krieges liegt die Vorbereitung des nächsten.

Als am 20. März, dem Tag des Kriegsbeginns, die Fernsehanstalten in einen grotesken Wettbewerb um das hautnaheste, wahrhaftigste, ununterbrochenste "Dabeisein" traten, leistete sich der Privatsender "Vox" in der Hauptsendezeit einen seltsamen Alleingang: Er beließ den Spielfilm im Programm - einen Hollywood-Streifen mit dem Titel "Dave". Darin zu sehen: Ein fröhlicher und sinnenfroher, den Dingen des Lebens zugewandter, sozial engagierter, ganz normal mit den Menschen über Arbeit, Sozialprojekte, Kultur und Liebe redender US-Präsident. Auch im Film kein echter, freilich. Sondern einer, der Vertretung spielt für den ins Koma gefallenen wirklichen. Was für ein utopisches Bild: Eine US-Administration, die sich ganz einfach um ihr eigenes Land kümmert, um die 250 Millionen Menschen darin, und die sich dessen bewußt ist, daß sie mit diesen 250 Millionen nicht die ganze Menschheit repräsentiert und auch nicht die Hälfte oder ein Zehntel oder ein Zwanzigstel, sondern ein Fünfundzwanzigstel - und zwar ein von außen so gut wie unbedrohtes.

Denn das ja ist die Hauptlüge dieses Krieges: Daß die USA von irgendwo außen bedroht seien. Sie wird nicht wahrer durch ständige Wiederholung. Mochte Ronald Reagan 1980 noch in der Konfrontation der Blöcke einen plausiblen Grund für sein Aufrüstungsprogramm gesehen haben: mit der Implosion der Supermacht Sowjetunion war diese Art Bedrohung ein für allemal in sich zusammengestürzt, und eine andere war nicht entstanden. Das Tor stand sperrangelweit offen für eine Welt der Abrüstung und des friedlichen Ausgleichs. Es stand weit offen dafür, den weltweit angehäuften Reichtum an Wissen, Können und Geld endlich für die Bekämpfung der wirklichen Bedrohungen der Menschheit einzusetzen, als da sind: Hunger und Durst, Armut, alte, neue und noch unbekannte Krankheiten, Zerstörung der Umwelt, Zerstörung der Energie-, Wasser- und Ernährungsressourcen. Die USA haben diese Tür zugeschlagen.

Und der Terrorismus? Gehört er nicht zu diesen Bedrohungen? Doch, das tut er. Auch der Terrorismus ist eine Bedrohung für die ganze Menschheit. Aber eben genau das - und nicht eine etwa nur den USA geltende. Und so kann dieser Terrorismus eben auch nicht durch Krieg bekämpft werden, sondern nur durch ein ganzes Bündel abgestimmter nicht-kriegerischer Maßnahmen. Zu denen gehört ein demokratisches System internationaler Beziehungen, in dem Gleichberechtigung und gegenseitige Achtung der unterschiedlichen Zivilisationen Selbstverständlichkeiten sind, und es gehört dazu ein weltweit abgestimmtes, ausnahmslos alle Staaten einbeziehendes Instrumentarium polizeilicher und gerichtlicher Strafverfolgung. Und der 11. September 2001? War er keine Bedrohung der USA von außen? Zu viele Fragen sind offen, um diese Frage beantworten zu können. Noch immer haben die USA keine gerichtsfesten Beweise für ihre seit der Stunde der Anschläge kolportierte These präsentiert, die Verantwortung läge bei Al-Qaida oder irgendeiner anderen arabischen Organisation. Der Ermittlungsstand scheint immer noch der gleiche zu sein wie am Tage nach den Anschlägen. Nicht nur, daß die mit rechtsstaatlichen Methoden geführten Untersuchungen bisher keine Ergebnisse brachten - was an sich schon ein höchst fragwürdiger Vorgang ist angesichts der Dimension und Komplexität der Terrorakte und der vielen unbeantworteten Fragen zu selbst einfachsten Sachverhalten in ihrem Umfeld1 -: Auch die mit diesen Terrorakten begründeten Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte im eigenen Land, auch der mit ihnen begründete völkerrechtswidrige Krieg gegen Afghanistan und auch der in dessen Gefolge vollzogene vielfache Bruch der Menschenrechte bei der Behandlung der Gefangenen im für niemand zugänglichen Guantanamo haben die Wahrheitsfindung nicht einen einzigen Schritt weiter gebracht.

So ungeklärt die Vorgänge vom 11. September, so klar liegt heute auf der Hand, in welch zielstrebiger und lange vorbereiteter Weise die Ereignisse dieses Tages instrumentalisiert worden sind und weiter instrumentalisiert werden. Es "missverstehe", schrieb Golo Mann 1958 mit Bezug auf den Reichstagsbrand, "die politische Geschichte", wer sie "mit Argumenten aus der Pyrologie schreiben will. Der Brand wurde politisch benutzt und noch ehe er gelöscht war von einem Hexenkreis politischer Lügen umgeben."2

Indem die USA den Schleier, der über dem 11. September liegt, nicht zerreißen, erhalten sie sich die Ereignisse dieses Tages als eine allgemeine Kriegs- und Strategiebegründung, in die sprunghaft und nie mehr nach Ergebnissen geprüft andere Begründungen unberechenbar eingefügt werden können. Der Krieg gegen Afghanistan wurde als Krieg gegen den Terrorismus und zur Ergreifung Osama bin Ladens verkündet und geführt, obwohl die Beweise für eine Verbindung zwischen Taliban und 11. September immer äußerst dünn blieben. Käme man auf die Idee, in der Logik der Kriegsbegründung weiter zu denken, müßte man nach dem "Sieg" der USA - den sie erklärten, ohne Osama bin Laden gefaßt zu haben - schlußfolgern, nun sei die Gefahr des Terrorismus geringer geworden. Aber das war icht der Fall. Im Gegenteil: US-Präsident Bush verkündete, daß die Bedrohung weiter zugenommen habe.

Wenn ein Krieg also trotz "Sieges" die Bedrohung nicht verringert, sondern verstärkt hat - welchen Grund sollen dann neue Kriege haben? Um solche Fragen zu vermeiden, haben die USA im Afghanistan- Krieg immer mal wieder neue Kriegsziele formuliert. Die Kriegsdiktatur in Sachen Meinungsbildung sorgt heute dafür, daß auch nach der Erreichung dieser Ziele nicht gründlicher nachgefragt wird. Wer fragt nach der angekündigten Entwicklung demokratischer Strukturen, nach der Befreiung der Frauen, und wer fragt nach dem wirtschaftlichen Aufbau? Einzige Nachricht der großen Agenturen in den letzten Wochen: Angriffe von B-52-Bombern auf Stellungen regierungsfeindlicher Gruppierungen im Süden des Landes. Und um wen handelt es sich dabei? Um Gruppierungen jenes Hektmatjar, dessen Mudjaheddin seinerzeit ebenso wie Osama bin Ladens Gefolgsleute mit offener und verdeckter USA-Hilfe für den Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht mobilisiert worden waren.

Die Begründungen für den Irak-Krieg des Jahres 2003 durchliefen noch schnellere Wandlungen als die für den Afghanistan-Krieg. Es waren je nach Lage der Dinge versteckte Chemie-, Bio- oder Atomwaffen - ohne daß je plausibel erklärt wurde, wie es dem Irak seit seiner vernichtenden militärischen Niederlage von 1991 und angesichts der nachfolgenden Sanktionen, Flugverbotszonen und Inspektionen eine Herstellung derselben gelungen sein könnte -; dann sollte die 1998 durch Saddam Hussein begonnene Inspektionsverweigerung ein Kriegsgrund sein; dann, 2002, als die Inspektoren wieder im Land waren, ein Mangel an Kooperation mit ihnen; schließlich, als noch immer keine Massenvernichtungsmittel gefunden waren, reichte die um 25 Kilometer zu große Reichweite von 100 Raketen als Kriegsgrund aus. Nun, da die USA die "Sieger" sind, sind sie in der angeblichen Hauptkriegsfrage der Chemie-, Bio- oder Atomwaffen nicht ein Deut erfolgreicher gewesen als die Inspektoren: Sie haben nichts gefunden.

Was also ist am Ende zu all diesen Kriegsgründen zu sagen? Sie sind vorgeschoben und konstruiert. Ihre Funktion ist eine doppelte: Sie sollen die wahren Ziele der USA verschleiern, und sie sollen die Suche nach Alternativen verhindern.

Die klarsten Alternativen drücken sich in Zahlen aus. 74 Milliarden US-Dollar hat Bush während des Krieges zu seiner Bezahlung angefordert. Niemand weiß, wieviel Prozent der tatsächlichen Kriegskosten das sind. Aber mit 100 Milliarden US-Dollar könnte man: reichliche drei Jahre lang alle Kinder dieser Welt mit ausreichend Nahrung, einer medizinischen Grundversorgung, Grundschulbildung und sauberem Wasser versorgen; oder 13 Jahre lang den gesamten Haushalt der UNO einschließlich Friedenssicherung und Sonderorganisationen bestreiten; oder 540 Jahre lang die Arbeit der OSZE bezahlen.3

Überfallen haben die USA den Irak. Aufdiktiert haben sie diesen Krieg der ganzen Welt. Sie haben den Beweis erbracht, daß sie bereit und willens sind, auf nichts anderes in der Welt Rücksicht zu nehmen als auf das, was sie als ihre "nationale Sicherheit" und ihre "nationalen Interessen" bezeichnen. Es interessieren sie in diesem Zusammenhang weder drohende weltwirtschaftliche Zusammenbrüche noch andere Kulturkreise und Lebensformen, weder Völkerrecht noch Grundprinzipien der Demokratie. Diese Kriegsdiktatur ist die Diktatur der Willkür und Unberechenbarkeit. So, wie Kriegsgründe beliebig herbeizitiert werden, werden potentielle Kriegsgegner beliebig benannt, Kriegstermine und Kriegsszenarien beliebig entwickelt, Nachkriegsordnungen beliebig bestimmt. "Die Ambivalenz ", kommentierte Dietmar Ostermann in der Frankfurter Rundschau im Juni 2002, "hat Methode; Washington will unberechenbar sein. Das ist die neue Grundlage der Abschreckung."4

Wenn den USA wirklich an der Beseitigung der Diktatur im Irak gelegen gewesen wäre, hätten sie natürlich 1991 schon den ganzen Irak besetzen und Saddam Hussein stürzen können. Damit wären dem Irak 12 Jahre Diktatur und der Welt - folgt man der Bush- Logik - 12 Jahre Bedrohung erspart geblieben. Warum aber haben die USA anders entschieden? H. Norman Schwarzkopf, damaliger Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, gibt darauf die folgende Antwort: "Hätten sich die Vereinigten Staaten und Großbritannien entschlossen, Bagdad ... zu besetzen, hätte man uns als Besatzungsmächte angesehen, und wir hätten daher alle Kosten tragen müssen, die eine Wiedereinsetzung einer irakischen Regierung und anderer Dienstleistungen für die Bevölkerung des Irak verursachten. Aus den Erfahrungen, die ich in der kurzen Zeit gesammelt habe, die wir nach dem Krieg im besetzten irakischen Gebiet geblieben sind, habe ich die Überzeugung gewonnen, daß wir nach einer Besetzung des ganzen Irak das Land nicht einfach hätten wieder verlassen können, und daß wir, und nicht die Vereinten Nationen, die Besatzungskosten hätten tragen müssen. Und ich bin überzeugt, daß der ohnedies stark beanspruchte amerikanische Steuerzahler diese Last nicht gerne auf sich genommen hätte."5

Damals war es ein Krieg mit UN-Mandat, heute, da die USA wirtschaftlich keineswegs besser dastehen als damals, ist es ein Alleingang, und nun soll auch die Nachkriegsordnung im Alleingang diktiert werden? Dies folgt scheinbar keiner Logik - mit Ausnahme der einen: der der weltherrschaftlichen Hybris, der weltherrschaftlichen Anmaßung.6

Wie sehr das Vorgehen der USA als Kriegsdiktatur empfunden wird, verdeutlicht der weltweite Protest gegen den Krieg. Er hat - natürlich - viele unterschiedliche Ausdrucksformen.7 In den USA selbst hat sich eine wiedererstarkte Friedensbewegung mit Demonstrationen, Unterschriftenaktionen und öffentlichen Erklärungen von Intellektuellen und Künstlern zu Wort gemeldet. Einige der schärfsten und klarsten Analysen kommen von dort. Der Papst sieht sich zu entschiedenstem Widerspruch herausgefordert. Die zum Teil von Gewalttätigkeit begleiteten massenhaften Proteste in der arabischen und muslimischen Welt machen die Dimension der Demütigung sichtbar, die diesen beiden Zivilisationen von den USA zugefügt wird. Indem Frankreich, Deutschland und viele andere europäische Staaten den USA die Gefolgschaft verweigert haben, offenbart sich die Kluft, die in den Interessenlagen diesseits und jenseits des Atlantik entstanden ist. Rußland, Japan und China sehen sich durch die USA getrieben, sich zu zeitweiligen Allianzen zusammenzufinden. Aber all das hat diesen Irak-Krieg nicht zu verhindern vermocht.

Die Kriegsdiktatur hat sich die UNO zum Opfer gemacht. Unendlich schwerer als noch Ende der neunziger Jahre scheint es derzeit, daß die UNO in anderen schon lodernden Konflikten wie dem israelisch- palästinensischen oder schwärenden wie dem indisch-pakistanischen friedensstiftend einzugreifen in der Lage wäre.

Und doch liegt in dieser tiefen Krise auch Hoffnung. Das Buhlen der USA um Stimmen für eine zweite Resolution im UN-Sicherheitsrat, mit der sie sich ihren Krieg gar zu gern hätten absegnen lassen, selbst bei sonst von ihnen gar nicht beachteten afrikanischen Ländern - war es nicht ein Zeichen dafür, daß man sich sehr wohl der Gefahr der vollständigen Isolierung bewußt ist? Das Hoffen der Weltwirtschaft auf einen nach den Monaten der Androhung des Krieges möglichst kurzen Krieg - ist es nicht ein Zeichen dafür, daß diese Weltwirtschaft viel zu global, viel zu vernetzt ist, als daß sie in Kriegen tatsächlich gewinnen könnte? "Im 20. Jahrhundert ist es keinem Land gelungen, seine Macht durch Krieg oder auch nur durch Aufrüstung zu vergrößern."7

Aber wird es gelingen, die USA mit diesen Beispielen zu einer Umkehr zu bewegen? Wenn Europa den Fehler machen sollte, seine Militärmacht zu vergrößern, um auf diese Weise den USA zwar nicht Paroli bieten zu können - das ist angesichts der amerikanischen Überlegenheit ganz und gar undenkbar -, ihnen aber vielleicht doch mehr Respekt abnötigen oder sich als dienstbare Helfer in einem erneuerten "Krieg gegen den Terror" zur Verfügung stellen zu wollen, ganz zweifellos nicht. Nein, was von Europa gefordert ist, ist tatsächlich eine ganz andere Strategie: die der endgültigen Orientierung auf friedliche Konfliktbewältigung. Für die gilt es Verbündete in der ganzen Welt zu finden, für die gilt es Geld und Kraft bereit zu stellen. "Wagen wir es, stark zu sein, indem wir den Militarismus ablehnen und bereit sind, uns auf die inneren und wirtschaftlichen Probleme unserer Gesellschaften zu konzentrieren", sagt Todd in diesem Zusammenhang.8

Ja, wagen wir es. Und scheuen wir uns um der Klarheit der Auseinandersetzung willen auch nicht, die Dinge deutlich beim Namen zu nennen. In der Annahme, sich einem sie bedrohenden Islamismus ausgesetzt zu sehen, hat die Bush-Regierung etwas entwickelt, was treffend mit "Amerikanismus" bezeichnet werden kann. In der Tat - wir stehen, wie Michael Brie kürzlich treffend im Freitag formulierte, einem "imperialen Amerikanismus" gegenüber, "der sich vor allem auf direkte Gewalt und unilaterales Handeln unter Aussetzung des Völkerrechts stützt."9

Anti-Amerikanismus ist das Sich-zur-Wehr-Setzen gegen diese Kriegsdiktatur. Er hat nichts mit, wie immer wieder geargwöhnt wird, einer Feindschaft gegenüber der Bevölkerung der USA zu tun, nichts mit einer Leugnung von Kultur, feindseliger Ablehnung von Lebensweise oder Geringschätzung historischer Leistung.

Wolfram Adolphi - Jg. 1951; Dr. sc. phil., Diplomstaatswissenschaftler, Mitglied der Redaktion von UTOPIE kreativ. Veröffentlichungen zu Themen der internationalen Beziehungen und der chinesischen Außenpolitik. Zuletzt zu diesem Thema in UTOPIE kreativ: Zäsur 11. September, in: Heft 133, November 2001, S. 977- 989; und: 16. November 2001 Zum Bundestagsbeschluß über die deutsche Beteiligung am "Krieg gegen den Terrorismus", in: Heft 136, Februar 2002.

1 Zu verweisen ist an dieser Stelle nachdrücklich auf die detaillierte Untersuchung der Vorgänge um den 11. September bei: Bröckers, Mathias: Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11. 9., Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2002.

2 Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1958, 20. Auflage 1989, S. 838. - Und auch dies schrieb Golo Mann zum Reichstagsbrand: "Wenn die Führer der Opposition diesen, jedem Kinde offenbaren Schwindel (wonach die Kommunisten den Reichstag angezündet hätten - W. A.) nicht hinnahmen, wenn sie den wahren Brandstifter, H. und seine Leute, stark und einstimmig beim Namen nannten, dann mußten Präsident und Armee und Konservative, ob sie wollten oder nicht, den Entschluß vom 30. Januar rückgängig machen. Was dann gekommen wäre, kann niemand sagen. Wenn umgekehrt Adel und Bürgertum die Untat hinnahmen, den Feuerzauber zu glauben vorgaben, dann mußten sie von nun an schlucken, was ihnen geboten wurde, selbst noch viel tollere Dinge, und waren ihre politischen Besitztümer, Parlamentarismus, Parteien, Rechte der Länder, Rechte der Beamtenschaft, Rechtssicherheit überhaupt, Geistesfreiheit und Handlungsfreiheit verloren. Sie nahmen hin." - Ebenda, S. 818.

3 Die Angaben siehe www.bessereweltlinks.de/ iraqwar.htm; die Berechnungen basieren lt. dortigen Angaben auf Zahlen aus dem US Congressional Budget Office (CBO) 9/02 sowie auf Darstellungen der American Academy of Arts & Sciences (AAAS) 12/02 und von Prof. William D. Nordhaus, Yale University 12/02.

4 Dietmar Ostermann: Unberechenbare USA. In: Frankfurter Rundschau, Frankfurt a. M., 17.06.2002. In diesem Kommentar heißt es außerdem u. a.: In der neuen Bush-Doktrin "werden zwei neue Begriffe auftauchen. Die alten Pfeiler Abschreckung und Eindämmung sollen ergänzt werden durch ›Prävention‹ und ›defensive Intervention‹. ... Offenkundig glaubt Washington, sich nicht erst irgendwo ein Mandat für Erstschläge holen zu müssen. Weil ›defensive Interventionen‹ dem Schutz der eigenen Bevölkerung dienen, ist die eigene Verfassung der Regierung Vollmacht genug. ... Und um Irak geht es ja wohl, wenn die neue Bush-Doktrin irgendwann in der Praxis erprobt werden wird. ... Was ist, wenn andere Staaten das Recht auf ›defensive Intervention‹ für sich beanspruchen? Wer quali- fiziert sich alles als künftige Bedrohung? Wem wird hier gedroht und wem nicht? Muß sich China angesprochen fühlen, der ›strategische Konkurrent‹ und wahrscheinlichste Gegner der USA in einem hypothetischen Kalten Krieg des 21. Jahrhunderts?"

5 H. Norman Schwarzkopf: Man muß kein Held sein. Die Autobiographie, München 1992, S. 640. Zu dem, was Saddam Hussein nach dem Krieg von 1991 an militärischer Stärke übrig geblieben war, sagt Schwarzkopf an anderer Stelle: Saddam war "gezwungen, sich hinter die Grenzen seines Landes zurückzuziehen. Seine Anlagen zur Erzeugung nuklearer, bilogischer und chemischer Waffen sind zerstört, und das wird auch so bleiben, wenn es uns gelingt, zu verhindern, daß er sie künftig auf gleiche Weise einrichten kann wie bisher - mit Hilfe skrupelloser westlicher und östlicher Firmen, die sich mehr für den materiellen Gewinn als für den Weltfrieden interessieren. Saddams Streitkräfte haben eine vernichtende Niederlage hinnehmen müssen und stellen keine Bedrohung mehr für irgendeine Nation dar." - Ebenda, S. 642.

6 Den Begriff "weltherrschaftliche Hybris" habe ich in einem Kommentar von Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau vom 14. 03. 2002 gefunden. Grobe stellt dort unter dem Titel "Panik und Bombenpläne" fest: "Es gibt eine Vorgeschichte; und die macht die Entwicklung einer Weltstrategie sichtbar. ... Die erste Phase war der Aufruf, die Urheber der Verbrechen vom 11. September zu fassen, tot oder lebendig; was bisher fehlgeschlagen ist. Die zweite Phase war die Vernichtung des Taliban- Regimes, Kollateralschäden inbegriffen, doch das Stabilitäts- Ziel für Afghanistan ist bisher verfehlt worden. Die dritte Phase ist die mit Nummer eins und zwei begründete, aber weiter reichende Etablierung von Militärstützpunkten, von Jemen bis Usbekistan, von den Philippinnen bis Georgien. Die vierte ist die Erfindung der ›Achse des Bösen‹, Kriegsvorbereitung gegen den Irak inbegriffen. Die fünfte Etappe erklärt den Atomkrieg für führbar. Das Denken enthält nicht nur die Verquickung von Öl- und Pipeline-Interessen mit dem Kampf gegen den Terrorismus ... Es enthält - als wahrscheinlich stärkstes Element - weltherrschaftliche Hybris."

7 Kaum etwas spricht so sehr vom allgemeinen Bedrohungsgefühl, das die Kriegsdiktatur erzeugt, wie die spontanen Schülerdemonstrationen. Zehntausende, die am 11. September 2001 mit den USA trauerten, sind jetzt entsetzt darüber, was aus und mit diesem Ereignis für eine Politik entwickelt worden ist.

8 Emmanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München/Zürich 2003, S. 252.

9 Ebenda.

10 Wer jedoch, so Brie weiter, "sich auf Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und freie Märkte beruft, aber dann zu Mitteln greift, die im konkreten Fall jeweils Unterordnung unter die USA, Verletzung aller Rechtsnormen und monopolistischen Zugriff auf wesentliche globale Ressourcen beinhalten, gerät zwangsläufig in eine Legitimationsfalle. " (Michael Brie: Amerikanismus. Fünf Thesen zur Ideologie der Willigen und zur Realität des Imperiums, in Freitag, Berlin, Nr. 14 vom 28. 03. 2003, S. 6.)

11 Die USA-Bevölkerung bildet - ich komme auf einen der Ausgangspunkte meiner Betrachtungen zurück - ein Fünfundzwanzigstel der Weltbevölkerung. Kriegsdiktatur gefährdet nicht nur andere Fünfundzwanzigstel - sie gefährdet auch das Fünfundzwanzigstel USA.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 151 (Mai 2003), S. 389-394

aus dem Inhalt:

Gesellschaft: Analysen & Alternativen
CHRISTOPH BUTTERWEGGE Migrant(inn)en, multikulturelle Gesellschaft und Rechtsextremismus in den Massenmedien 395
RONALD LÖTZSCH Widersprüche in der bundesdeutschen Minderheitenpolitik 406
Geschichte & Politik

FRITZ VILMAR "... nur noch ein Haufen kalter Asche". Aufstieg und Zusammenbruch des Sozialismus. Was tun? 415
STEPHEN ERIC BRONNER "Was tun?" und Stalinismus 425 FRANK RICHTER Für eine Rekonstruktion des historischen Materialismus 435
STEPHAN WOHANKA Ist die Vergangenheit für die Gegenwart verantwortlich? Geschichte als Interpretation 446
Standorte

ANDREAS HEYER Politische Utopien der europäischen Neuzeit 456
ULRICH BUSCH Vergessene Utopien: Friedrich Nietzsches Vision vom Übermenschen 460