"... nur noch ein Haufen kalter Asche"

Aufstieg und Zusammenbruch des Sozialismus. Was tun?

Wir Linken wollen es noch nicht so ganz glauben, aber wir müssen aufwachen und uns eingestehen: Der Sozialismus ist nur noch "ein Haufen kalter Asche". Wie konte diese Hoffnung derart zuschanden gehe

In einem Kriminalroman 1 heißt es von einem alten Marseiller Arbeiter, daß er am Stammtisch mehr und mehr verstummte: "Il fallait fermer sa geule ... parce que il avait été communiste, et le communisme nÂ’était plus aujourdÂ’hui dans le monde quÂ’un tas de cendres froides". Wir Linken wollen es noch nicht so ganz glauben, aber wir müssen aufwachen und uns eingestehen: Der Sozialismus ist nur noch "ein Haufen kalter Asche".

Auch ich muß es mir eingestehen, und es ist bitter. Der Sozialismus war - trotz aller kritischen Distanz - ein halbes Jahrhundert lang das Zentrum meines geistigen und politischen Lebens, und im letzten Jahrzehnt habe ich diese bittere Erkenntnis vor mir her geschoben: daß er zu einem Haufen kalter Asche geworden ist. Hätten wir nicht gleichwohl in diesem halben Jahrhundert einiges für die Menschen erreicht, so müßte ich mich fragen, ob nicht auch meine geistige und gesellschaftliche Arbeit zu einem Haufen kalter Asche geworden ist.

Wie hat diese größte Hoffnung und Errungenschaft des 20. Jahrhunderts derart zuschanden werden können? Wie konnte es nach einem solchen Aufstieg zu einem solchen Zusammenbruch kommen? Wie konnte es passieren, daß ein großer Teil der ausgebeuteten, abhängigen Massen jener Idee und Politik von den Fahnen lief, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zu ihrer Befreiung aufgebrochen waren? Denn dies war und ist doch das am tiefsten Erschreckende: daß der Sozialismus im Laufe dieses Jahrhunderts nicht die Glaubwürdigkeit, die Überzeugungskraft entfaltet hat, um die Mehrheit der arbeitenden Citoyens dauerhaft für sich zu gewinnen, obwohl die Ausbeutungsrate eher größer als kleiner geworden ist.

Ich werde zunächst den erstaunlichen Aufstieg beschreiben und anschließend versuchen, die Hauptgründe für die Abwendung vom Sozialismus zu benennen. Es sind dies

  • die Spaltung der sozialistischen Bewegung in die sich bekämpfenden Flügel der revolutionären und der Reformsozialisten;
  • die abschreckende Entwicklung der Sowjetunion und der dramatische Zerfall des "Realsozialismus";
  • die erfolgreiche Korrumpierung der Mehrheit - im Sinne einer antisozialistischen Verkleinbürgerlichung - durch die Indoktrination, vor allem aber durch die Wohlstandsproduktion als Abfallprodukt des Kapitalismus;
  • die schrittweise Selbstaufgabe der westlichen sozialistischen Organisationen der Arbeiterbewegung, ihre Abwendung von der sozialistischen Zielsetzung.

Der Aufstieg

Um das Ausmaß dieses weltgeschichtlichen Verlustes zu ermessen, ist vorab in groben Zügen der erstaunliche Aufstieg des Sozialismus 2 in Erinnerung zu rufen. Woher kam er? Ich kann hier nur auf seine uralten und seine neuzeitlichen Quellen verweisen, die Ernst Bloch emphatisch in Erinnerung gerufen hat.3

Vorab will ich vor allem an den nunmehr 2000 Jahre alten, von der Kirche stets eskamotierten revolutionären Ursprung des Christentums erinnern, an den vermutlich essenischen Kommunismus Jesu 4, der sich im Gebot des urchristlichen Gemeineigentums niederschlug: "Kein einziger (der Gläubigen - F. V.) nannte ein Stück seines Besitzes sein ... Eigentum, sondern sie hatten alles als Gemeingut ... Es gab auch keinen Notleidenden unter ihnen; alle nämlich, welche Ländereien oder Häuser besaßen, verkauften diese, brachten dann den Erlös ... und stellten ihn den Aposteln zur Verfügung; davon wurde dann jedem nach seiner Bedürftigkeit zugeteilt."5

Aufgebrochen ist der Sozialismus dann bereits im frühbürgerlichen Denken, also in den Zukunftsentwürfen eines Thomas Morus, und dann, seit dem 18. Jahrhundert, in alternativen Gesellschaftsmodellen (Owen, Fourier, Saint-Simon, Kropotkin, Weitling u. a.), welche die Gleichheit der Menschen und die gemeinschaftliche Verwaltung der Produktionsmittel zur Grundlage eines menschenwürdigen Zusammenlebens aller erklärten.6 Auf dieser ideengeschichtlichen Basis vollzog sich dann seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der erstaunliche Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung. Dieser hatte selbstverständlich seine soziale Grundlage im Anwachsen der Industriearbeiterschaft und, im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft, sogar auch eines Agrarproletariats.

1875 war in Deutschland knapp die Hälfte der Erwerbstätigen - 3,5 Millionen - Arbeiter,
1907 bereits 9,4 Millionen,
1925 über 14 Millionen.7

In Ländern mit einer sich schrittweise in Richtung des allgemeinen Wahlrechts entwickelnden bürgerlichen Demokratie haben Arbeiterparteien und Gewerkschaften schon vor dem Ersten Weltkrieg, trotz Zensur und polizeistaatlicher Behinderungen, einen steilen Aufstieg genommen. Ohne schon an der Regierungsmacht beteiligt zu sein, haben sie, als mächtigste pressure group im bürgerlichen Staat, die schrittweise Verabschiedung wichtiger Sozialgesetze erzwungen und - entgegen den Unheilspropheten des "Ehernen Lohngesetzes " - Erfolge hinsichtlich der Löhne und Arbeitszeiten erkämpfen können. Bekannt ist Bismarcks Wort, man müsse diese Sozialgesetze verabschieden, "um der Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen". Oft ist argumentiert worden, es habe Bismarck und den Bürgerlichen nichts genützt: die Sozialdemokratie sei dennoch von Reichstagswahl zu Reichstagswahl gewachsen.

Dieses Argument ist nur halb richtig. Zwar hat sich eine wachsende Zahl der Arbeiter durch die Sozialgesetzgebung durchaus nicht von der Treue zur Sozialdemokratie abbringen lassen - im Gegenteil: ihr Siegesbewußtsein wuchs von Jahr zu Jahr; ihre Stimmanteile im Reichstag wuchsen von 3 Prozent (1871) auf 20 Prozent (1890) und 35 Prozent (1912).8

Aber: Niemals im 20. Jahrhundert entschied sich eine große und stabile Mehrheit des Volkes für den Sozialismus - weder durch Wahlen noch durch Revolution!

Keine der beiden großen Visionen haben sich erfüllt: weder die von Karl Marx, daß der Sozialismus zum Sieg gelangen würde durch die revolutionäre Machtergreifung, die Diktatur des Proletariats, noch die von Ferdinand Lassalle, daß er nach der Erkämpfung des Allgemeinen Wahlrechts eintreten müsse, weil natürlich die Mehrheit des Volkes sozialistisch wählen würde.

Die von Marx prophezeite revolutionäre Zuspitzung der Klassenauseinandersetzung relativierte sich durch die allmählichen Erfolge der Arbeiterbewegung: Die organisierte Arbeiterschaft Europas blieb zwar zunächst bei ihrem marxistisch-revolutionären Endzeitglauben, erlebte aber zwischen 1890 und 1914, daß sich trotz der Klassenherrschaft des Kapitals nicht jene erwartete Zuspitzung ereignete, die schließlich "mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes " zur Revolution führen sollte: Es kam also nicht zu jener berühmten dialektischen Negation der Negation, nicht zur revolutionären Expropriation der Expropriateurs.

Vielmehr eröffneten schrittweise lohn- und sozialpolitische Verbesserungen 9 durchaus die Perspektive auf eine reformpolitische Veränderung der Machtverhältnisse.

Hier aber zeigte sich bereits am Beginn des Jahrhunderts eine schwerwiegendes Barriere des sozialistischen Aufstiegs. Die Arbeiterschaft und vor allem die sozialdemokratischen Parteien verharrten weithin in einer Haltung des Abwartens, des dann so genannten "revolutionären Attentismus"10.

Exkurs über kommunistische und christliche Naherwartung

Es gibt dazu eine lehrreiche religionsgeschichtliche Parallele: Die Sozialisten verhielten sich wie die frühen Christengemeinden, bloß daß der "revolutionäre Attentismus" hier "eschatologische Naherwartung " heißt. Die Christen lebten, gemäß der eschatologischen Prophezeiung Jesu, in der Erwartung des großen Umsturzes, des Tausendjährigen Reiches Gottes (Basileia tou Theou). Dieselbe Utopie hieß bei den Sozialisten freilich nicht "Reich Gottes", sondern "Reich der Freiheit", Kommunismus. Für die Sozialisten war es wie 2000 Jahre zuvor für die Christen sehr schwer, diese eschatologische Naherwartung aufzugeben und sich auf die schrittweisen Erfolge im Hier und Jetzt einzustellen. Sich aktiv in die bestehende Gesellschaft einzubringen, galt lange als Verrat an der revolutionären Erwartung. Wer, wie Eduard Bernstein schon 1899 11, auf das Ausbleiben der endzeitlichen revolutionären Zuspitzung hinwies und die sozialistische Bewegung auf eine Reformpolitik umzustimmen versuchte, wurde als Häretiker, als Zweifler am Heiligen Geist der Marxschen revolutionären Nahherwartung in Acht und Bann getan 12.

Ich ziehe diese verblüffenden, bisher leider nie gründlich ausgearbeitete Parallelen des Endzeit- und Umschlagsglaubens in der frühen Christenheit und in der Arbeiterbewegung nicht als bloß geistreich sein wollende Gedankenspielerei heran, sondern weil diese große Selbsttäuschung der revolutionären Naherwartung im Sozialismus neben einem anfangs ermutigenden Zukunftsglauben bald eine außerordentlich folgenreiche, in einem doppelten Sinn verhängnisvolle falsche Selbsteinschätzung und eine Glaubensspaltung produzierte, die zum Mißerfolg, ja zur partiellen Selbstzerstörung des Sozialismus wesentlich beitrug: Sein marxistischer Flügel immunisierte sich, in striktem Gegensatz zu seiner stets behaupteten Wissenschaftlichkeit, aber zugleich mit der ständigen Berufung auf den Besitz eben jener objektiven wissenschaftlichen Wahrheit, gegen jeden Zweifel an der revolutionären Selbstgewißheit ("wissenschaftlicher Sozialismus") und diffamierte jahrzehntelang Andersdenkende. Diese Haltung entwickelte sich zu einem schweren Hindernis für eine konstruktive Weiterentwicklung sozialistischer Theorie und Praxis: Andersdenkende wurden als Häretiker verketzert, statt sie als politische Diskussionspartner zu achten.

Diese falsche Selbstgewißheit spaltete die internationale Arbeiterbewegung und behinderte insbesondere die von den Reformsozialisten (Braun, Bernstein, Jaures, die Fabier) geforderte entschiedene aktive Integration in die reformpolitische - vor allem: parlamentarische - Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. In Deutschland wurde diese daher erst im Godesberger Programm der SPD von 1952 voll bejaht.

Die Aufstiegslinie des Sozialismus wurde im 20. Jahrhundert zunächst unterbrochen (1914-1945) durch fast ein halbes Jahrhundert der Stagnation und der schweren Rückschläge, veranlaßt durch Kriegs-, Elends- und Diktaturkatastrophen. Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, um zu klären, wieso die beiden Diktaturen, die Stalinsche wie die Hitlersche, die sich beide zerstörerisch auf den Sozialismus auswirkten, als (national-) sozialistische aufgetreten sind - und damit übrigens beide, in pervertierender Weise, dem Sozialismus als der beherrschenden Idee des 20. Jahrhunderts ihren Tribut gezollt haben.

Aber nach dem Zweiten Weltkrieg (in den USA schon früher) folgte eine etwa 30jährige Periode wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung, die in England, in Skandinavien, aber zeitweilig auch in Frankreich und in Westdeutschland Welfare Economy, Mitbestimmung der Gewerkschaften, antiautoritäre und sozialistische Studenten- und Bürgerbewegungen, Mitte-Links-Regierungen, Bildung für alle und zeitweilig sogar Vollbeschäftigung mit sich brachte.

Eine neue reform- und ökosozialistische Theorie- und Strategiedebatte entfaltete sich auf sehr viel breiterer Basis: Es ging nicht mehr um die Kontrolle oder gar Sozialisierung der Produktionsmittel, sondern umfassender um eine humanere Lebensqualität: Gesamtgesellschaftliche Demokratisierung, Rettung der Umwelt, Humanisierung der Arbeit, Befreiung der Frau 13. Es ist bezeichnend für diese "ökosozialistische" Theorie und Praxis, daß sie nicht mehr primär von der Arbeiterbewegung getragen wurde, sondern von den "Neuen Sozialen Bewegungen" und der Partei der Grünen.14

Aber natürlich ging es nicht zuletzt auch um einen reformsozialistischen Prozeß der demokratischen Umgestaltung der Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie wurde eine Zielvorstellung in ganz Europa.15

Wie gut ginge es uns, wenn wir noch - wie vor einem Vierteljahrhundert - in dem damaligen "wohlfahrtsstaatlich sozial aufpolierten Kapitalismus"16 leben könnten und, ohne uns als hoffnungslose Narren vorkommen zu müssen, über die Notwendigkeit eines härteren oder die Chance eines weicheren Reformkurses in Richtung Klassenlose Gesellschaft streiten könnten. Natürlich zweifle ich nicht an der Ernsthaftigkeit dieses langen reformsozialistischen Disputs über die Notwendigkeit, die Formen und das Ausmaß der Sozialisierung. Aber heute erscheint mir jener reformsozialistische Streit doch fast wie ein Märchen aus uralten Tagen. Oder, zu meinem Thema zurückkehrend: als ein Beleg dafür, wie weit wir in den 70'er Jahren im Voranschreiten zu einer schrittweisen sozialistischen Transformation waren - und auf welche triumphale, unangefochtenen Kapitalherrschaft wir seitdem zurückgeworfen sind.

Der Zusammenbruch

Ich hatte bereits eine der sehr früh unheilvoll wirksam gewordenen Ursachen für den späteren Zusammenbruch genannt: die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen reformsozialistischen (als "reformistisch " und "revisionistisch" abqualifizierten) und einen revolutionären Flügel. Der reformpolitische Flügel hatte seit den 20er Jahren und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutende sozialpolitische, wirtschaftliche und bildungspolitische Erfolge, errang in etlichen Staaten Regierungsmacht und schien, nach Dahrendorfs Votum, zeitweilig das 20. Jahrhundert sogar als ein "sozialdemokratisches Jahrhundert" zu gestalten. Der revolutionäre Flügel dagegen blieb international erfolglos, trug aber durch seine nicht immanente, konkrete, sondern fundamentalistisch-prinzipielle Kritik seit dem Ersten Weltkrieg permanent zur Diskreditierung der sozialistischen Idee und Praxis bei und schwächte dadurch die Linke auf allen Ebenen.

Vor allem aber hat die angsterzeugende revolutionäre Ideologie, nicht zuletzt aufgrund der mächtigen Unterstützung seitens der Sowjetunion einer weltweiten antisozialistischen Einstellung und Propaganda siebzig Jahre lang Nahrung geliefert. Potenziert durch kapitalistische und kirchliche Horror-Szenarien, war diese kontraproduktive revolutionäre Agitation einer der wichtigsten Gründe für die Entscheidung auch nicht-bürgerlicher Wähler gegen die sozialistische oder auch nur die sozialdemokratische Option.

Damit komme ich zu einem zweiten Erklärungsansatz: Die Sowjetunion, von einer erschreckenden Anzahl westlicher Intellektueller jahrzehntelang (immer mit dem entschuldigenden Zusatz "trotz allem") als welthistorisches sozialistisches Experiment verteidigt und idealisiert, ist in Wahrheit auch ohne die antikommunistische Greuelpropaganda der konservativen Medien zu einem abschreckenden Negativ-Bild einer sozialistischen Gesellschaft verkommen. Ich verweise hier nur

  • auf die zunehmend scheiternde zentralistisch-planwirtschaftliche Organisation (die agrarwirtschaftlich sogar eine absolute Katastrophe, mit Millionen Hungertoten, darstellte)
  • auf die politische, bis zum Tode Stalins den faschistischen Regimes an totaler Repression in nichts nachstehende Zwangsordnung und die imperiale Herrschaft sowohl über die nicht-russischen Völker der Sowjetunion wie über die Satellitenstaaten nach 1945 und
  • auf die ideologisch-kulturelle Verkommenheit in Gestalt eines pseudo-religiösen marxistisch-leninistischen Dogmatismus.

Aus dieser Fehlentwicklung, die zweifellos durch die antisowjetische Politik des Westens mitverursacht worden war, konnte Gorbatschow die Sowjetunion nicht mehr herausführen.

Insgesamt ist also auch die Sowjetunion ein Beleg dafür, daß der Sozialismus im 20. Jahrhundert nicht etwa nur an der Übermacht der konservativen und kapitalistischen Politik gescheitert ist, sondern mindestens in gleichem Maße an seinen eigenen Strukturfehlern.

Nun zu den antisozialistischen "Erfolgen" der anderen Seite: Selbstverständlich haben die herrschenden gesellschaftlichen Schichten in der Welt, die Kirche, das Erziehungssystem, vor allem aber das kapitalistische Weltwirtschaftssystem alles in ihrer Macht Stehende getan, um zu verhindern, daß Lassalles so logisch klingende Vision wahr wurde: daß die nicht-besitzenden Massen den Sozialismus wählen werden, sobald das allgemeine Wahlrecht erkämpft ist. Ich nenne die fünf wichtigsten konservativen Bremskräfte:

  1. Natürlich kommt zuerst, wenn von konservativ-kapitalistischer Übermacht die Rede ist, zur Sprache, was schon in der klassischen Arbeiterbewegung vulgär, aber treffend "Volksverdummung" genannt wurde, wobei die antisozialistische Agitation der (katholischen) Kirche, dokumentiert in den Sozialenzykliken (Rerum novarum, 1891, und Quadragesimo anno, 1931) als Verteuflung des "gottlosen " Sozialismus eine besondere Rolle spielte.
  2. Im Zuge der Pseudo-Modernisierung wurde dann die klassisch-obrigkeitliche und speziell die kirchliche Opiatisierung zunehmend durch eine weniger greifbare ergänzt, die konsumistische. Massenkonsum und direkt konservative oder durch Desinformation konservativ wirkende Massenunterhaltung und das Sterben der Arbeiterpresse und sonstiger Formen einer sozialdemokratischen, nicht zuletzt auch genossenschaftlichen Alltagskultur, trugen wesentlich zum Verlust eines politischen Selbstbewußtseins bei. Diese Form der Verdummung, insbesondere durch das private Fernsehen 17, bewirkt eine Entpolitisierung und Hinnahme des Status quo wahrscheinlich weniger durch ihre antigewerkschaftlichen und wirtschaftsliberalen Untertöne als durch pure Desinformation und den Verzicht auf alle sozialkritischen Einwände, die wahlpolitisch relevant werden könnten.
  3. Was der Kapitalismus aber jenseits aller antisozialistischen Ideologieproduktion und konsumistischer Entpolitisierung als wahrscheinlich stärkste antisozialistische Bewußtseinsbildung produziert, ist ein oberflächlicher Wohlstand, wodurch der Ausbeutungsprozeß für die Mehrheit immer weniger protest- und wahlwirksam fühlbar wird. Der mittlerweile erzeugte Reichtum erlaubt es, trotz Ausbeutung, die Mehrheit der Massen mit Einkommen zu versorgen, die bei vielen die Illusion einer quasi-klassenlosen Gesellschaft erzeugen und jedenfalls nicht länger den Impetus, eine sozialistische Alternative wählen zu sollen, zumal wenn diese sich in "realsozialistischen" Negativbildern darstellt. Der Kapitalismus hat nicht etwa die Klassengesellschaft abgeschafft, aber er hat ihre Kanten abgeschliffen, er hat das Klassenbewußtsein der arbeitenden Massen in ein orientierungsloses Kleinbürgerbewußtsein umgeformt, das inzwischen auch die Mitte- Links-Parteien prägt. Deren Funktionäre sind von kleinbürgerlich angepaßten, aufstiegsillusionären Einstellungen geprägt und mangels autonomer sozialistischer Bildung unvermögend, als demokratische Avantgarde eine überzeugende antikapitalistische Reformkonzeption zu entwickeln.
  4. Gleichzeitig vollzog sich ein Prozeß der Entproletarisierung: die allmähliche, schließlich aber weitreichende "Entleerung" der Fabriken, die Transformation der Industriegesellschaft in eine vorwiegend Dienste leistende. Gab es 1895 in Deutschland 58 Prozent Arbeiter, aber nur 8 Prozent Angestellte und Beamte, so sind heute nur noch gut die Hälfte davon (33 Prozent) Arbeiter, aber über 55 Prozent Angestellte und Beamte.18 Während marxistische Klassenanalysen noch in den 70er Jahren nicht müde wurden, vorzurechnen, daß die Lohnabhängigkeit der erwerbstätigen Massen zunehme 19, trat nicht nur in der Ideologie, sondern zunehmend auch in der Arbeitssituation, in der arbeitsrechtlichen und Einkommensstruktur immer größerer Teile der Arbeitenden ein tiefgreifender Wandel ein: weg vom proletarischen und hin zum kleinbürgerlich-mittelständischen Lebensstil 20. Dem Sozialismus wurde dadurch sein soziales und soziologisches Substrat faktisch entzogen.
  5. Hinzu kommt die gewerkschaftspolitisch, aber auch reformpolitisch und nicht zuletzt reformsozialistisch lähmende Wirkung der weltwirtschaftlichen relativen Stagnation seit Mitte der 70er Jahre mit Wachstumsraten von 1 bis 3 Prozent, daraus folgender neuer Massenarbeitslosigkeit, jener industriellen Reservearmee, die schon immer die Gewerkschaftskraft vermindert hat und illusionär, aber durchaus wirksam den Neoliberalismus wieder in Mode gebracht hat.

Ich komme zum Fazit: Aufgrund der skizzierten Fehlleistungen sozialistischer Theorie und Praxis, im Zuge des neoliberalen Rollback und infolge der konservativen Indoktrination, Sozialstrukturveränderungen und politischen Machtwechsel vollzog sich seit Mitte der 70er Jahre eine Erosion vieler sozialstaatlicher und speziell auch wirtschaftsdemokratischer Einrichtungen und Zukunftsentwürfe. In den 90er Jahren kam es zum finalen Absturz der sozialistischen Programmatik, zu einer weitgehenden Implosion der Arbeiterbewegung: Abgesehen von einigen noch funktionierenden Strukturen einer weithin geschwächten Gewerkschaftsbewegung und einigen wichtigen, aber zunehmend von Privatisierung bedrohten sozialstaatlichen Errungenschaften vollendet sich nun die Selbstaufgabe und damit der endgültige Zusammenbruch des Sozialismus. Ich resümiere den "Haufen kalter Asche":

Die programmatisch führenden Kräfte der Linken verloren die intellektuelle Kraft und den anti-populistischen Mut, wirtschaftsdemokratische oder auch nur keynesianische und sozialstaatliche Alternativen aufrecht zu erhalten bzw. zu einem Gesamtkonzept weiterzuentwickeln. Beispiele dafür sind:

  • die Aufgabe des Programms der französischen "union gauche";
  • die Aufgabe des wirtschaftsdemokratischen Grundsatzprogramms des DGB 21 und der SPD 22;
  • die Selbstaufgabe der Labour Party durch den Übergang zum Sozialliberalismus;
  • die Marginalisierung der kommunistischen Parteien in Europa, deren seit den 70er Jahren unternommene, zaghafte Versuche der Demokratisierung und Emanzipation von der Sowjetunion ("Eurokommunismus "23) zu spät kamen und denen nach jahrzehntelanger anti-reformistischer Feindbildproduktion die Wende zu einer glaubwürdigen links-sozialdemokratischen Reformpartei nicht gelungen ist.
  • das Scheitern rot-grüner theoretischer Regenerationsversuche im Zeichen des "Ökosozialismus".24
  • das Scheitern der französischen Politik der "gauche pluriel", die Ende der 90er Jahre noch über bloße sozialliberale Positionen hinaus zu sozialstaatlicher Steuerung tendierte und die erfolgreichste Wirtschaftspolitik in Europa zustande brachte.25

Der Tragödie folgte Ende der neunziger Jahre das Satyrspiel: Der Sozialliberalismus eines Blair und Schröder wie auch der Grünen, aber auch der meisten Gewerkschaften verabschiedet sich kaltlächelnd von der demokratisch-sozialistischen Tradition und reduziert sich auf minimale sozialstaatliche Zusagen und beschäftigungspolitische ad-hoc-Programme, verbunden mit liberalen Privatisierungskonzepten 26 in dem Bemühen, den Kapitalismus eher noch besser als die Konservativen zu verwalten, ihn "innovativ" zu fördern und seine Profitchancen zu verbessern.27

Wir sind mit einem doppelten, doppelt verheerenden politisch-ökonomischen Scheitern an der Schwelle zu einer globalisierten Menschheitsgeschichte konfrontiert. Das besonders Verheerende angesichts der globalen politisch-ökonomischen Verelendung und der akuten Weltwirtschaftskrise ist die Tatsache, daß die Selbstaufgabe des Sozialismus sich in einer gesellschaftlichen Situation vollzieht, die nicht etwa durch eine Blüte, sondern durch das gleichzeitige hochgradige Scheitern der Marktwirtschaft, also des Kapitalismus, dieses angeblichen "Siegers der Geschichte", gekennzeichnet ist: Wir haben also in der Tat vor uns die zugespitzte Situation eines doppelt katastrophalen Scheiterns. Nur daß der sozialistische Zusammenbruch offenkundig ist, der kapitalistische dagegen noch kaschiert wird mit allen Mitteln liberaler Meinungsmanipulation, Symptombehandlung, Krisenverschiebung und Lobpreisung der noch vorhandenen Wohlstandsinseln.

Was tun?

Es stellen sich in dieser geistig-gesellschaftlichen Sonnenfinsternis für alle, die von der sozialistischen Idee einer Gesellschaft der Gleichen und Freien sich nicht verabschieden wollen, einige zentrale Aufgaben. Vorab aber müssen wir wirklich Ernst machen mit der Einsicht, daß der Sozialismus, von einigen wenigen gewerkschaftlichen und sozialpolitischen Errungenschaften abgesehen, am Ende des 20. Jahrhunderts gescheitert ist. Und zwar - als GESAMTkonzept und GESAMTbewegung.

Das heißt: Die Idee einer sozialen, menschenwürdigen Gesellschaft muß aufgegeben oder aber grundlegend neu gedacht, neu konzipiert werden. Ich will versuchen, Ansätze dafür in fünf Thesen zur Sprache zu bringen:

  1. Der Sozialismus ist nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch tot. Er muß daher als "Ziel" für eine mehrheitsfähige Politik der sozioökonomischen Erneuerung aufgegeben werden. Sozialismus ist in einer Weise konnotiert mit (a) Politik für die Arbeiter und (b) teilweise verheerenden politischen Fehlleistungen der Linken, daß er nicht mehr mehrheitsfähig ist, zumal die Arbeiterschaft nur noch ca. 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht.
  2. Mehrheitsfähig wäre dagegen ein politisches Programm, das den heute für die meisten Menschen existentiellen Sorgen und Wünschen Rechnung trägt - als da sind wirtschaftliche Stabilität, Abbau der Arbeitslosigkeit, soziale Gerechtigkeit, Rettung vor Umweltzerstörung. Zur Zeit gibt es keinen weithin anerkannten Begriff für ein Alternativkonzept zum globalisierten Neoliberalismus wie auch zum etatistischen Sozialismus - das Scheitern beider ist aber weithin erkannt.
  3. Ich schlage vor, die emphatische gesellschaftliche Substanzerweiterung des Demokratiebegriffs 28 aufzunehmen, die sich schrittweise herausgebildet hat. Leitbegriffe dafür sind: Soziale Demokratie, gesamtgesellschaftliche Demokratisierung und Wirtschaftsdemokratie. Linke (Menschen, denen es um eine überlebensfähige Gesellschaft der Gleichen und Freien geht) werden viel Kraft und Zeit darauf verwenden müssen, sich auf einen oder zwei dieser Leitbegriffe zu einigen, die dann mit außerordentlichem Engagement und als führende Orientierungsprinzipien durchzusetzen sind. Denn eine neue linke Koalition, national und international, ist unabdingbar.
  4. Mit dem Sozialismusbegriff werden auch die dogmatischen, als destruktiv erwiesenen Theoreme obsolet, wie das der Revolution, des historischen Materialismus oder des Wissenschaftlichen Sozialismus. Nicht obsolet aber wird, neben den Prinzipien sozialistischer Ethik, die Marxsche Kritik des Kapitalismus. Die Kritik des (selbst-) zerstörerischen und umweltfeindlichen Neoliberalismus ist daher als konstitutives Element in eine Theorie/Strategie der Wirtschaftsdemokratie aufzunehmen. In ihr wird auch der dogmatische Gegensatz von Markt- und Planwirtschaft aufgehoben 29, wie die produktiven marktwirtschaftlichen Elemente in ein System der Globalsteuerung auf nationaler, bzw. weltwirtschaftlicher Ebene integriert werden.
  5. Die Theorie und Strategie einer Neuen Gesellschaft, einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung verhält sich kritisch zur traditionell-sozialistischen Vorstellung der Gesellschaftstransformation: Es kann sein, daß der Zusammenbruch des Sozialismus auch daraus folgte, daß dessen Sieg viel zu sehr als ein großer Durchmarsch - Revolution, Wahlsieg, Massendemonstration - gedacht und versucht wurde. Eine klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft der Gleichen und Freien kann wahrscheinlich auf diesem Weg nicht erreicht werden, weil er die Menschen zu wenig in Richtung auf solidarische Koexistenz verändert. Sinnvoller erscheint es, ein radikal reformiertes, reformuliertes Konzept zur Gesellschaftstransformation ins Auge zu fassen, das an sehr frühe kommunitäre Sozialismuskonzepte anknüpft.30 Es müßte der Idee der Graswurzelrevolution folgen: Aufbau, Ausbreitung und Kooperation Tausender, Zehntausender von Kleinen Netzen 31, in teilautonomen Nachbarschaften 32, vor allem aber: in selbstorganisierten kommunitären Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die nach dem Kropotkinschen Prinzip der Mutualität funktionieren und nach dem Grundsatz: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinem Bedürfnis". In denen sich Sozialismus nicht ausbreitet durch Agitation und Massenbewegungen, sondern durch beispielgebendes Vorleben dessen, was attac sich auf die Fahnen geschrieben hat: Eine andere Welt ist möglich.

Wenn der Sozialismus heute "ein Haufen kalter Asche" ist, so haben wir doch auch von einem mythischen Vogel gehört, von Phönix, der sich aus einem Haufen Asche zu neuem Leben erhoben hat. Was müßte das für ein Vogel sein?

Fritz Vilmar - Jg. 1929; Prof. em. für Politikwissenschaft an der FU Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftsdemokratie und Humanisierung der Arbeit, Theorie der Demokratisierung. Publikationen: F. Vilmar/K. O. Sattler: Wirtschaftsdemokratie und Humanisierung der Arbeit (1978); K. J. Scherer/F. Vilmar: Ökosozialismus (1986); (Hrsg.): Zehn Jahre Vereinigungspolitik (2000; 2002); S. Bollinger/F. Vilmar (Hrsg.): Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen (2002). Zuletzt in UTOPIE kreativ: Nichts dazugelernt, Heft 75 (Januar 1997).

1 Jean-Claude Izzo: Chourmo, Gallimard, Paris 1996: "Er mußte seine Schnauze halten, Â… denn er war Kommunist gewesen, und der Kommunismus ist heute in der Welt nur noch ein Haufen kalter Asche." (S. 31)

2 Eine umfassende Dokumentation der Entwicklungen, Strömungen, Theorien und Gestalten des Sozialismus findet sich im Lexikon des Sozialismus, hrsg. von Thomas Meyer, Karl-Heinz Klär, Susanne Miller, Klaus Novy und Heinz Timmermann (Köln 1986).

3 Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. II, Berlin 1955, S. 32-512. Erwähnt zu werden verdient aber auch eine heute fast vergessene, großartige historische Studie von Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 1893 (3. Aufl. 1925).

4 Vgl. dazu Martin Leutzsch: Erinnerung an die Gütergemeinschaft. Über Sozialismus und Bibel, in: Richard Faber (Hg.): Sozialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994, S. 77-94. Über den historisch primär links-christlichen Kommunismus-Begriff schreibt der Autor: "Noch bevor die Begriffe ›Kommunismus‹ und ›Sozialismus‹ im 19. Jh. ihren festen Platz im politischen Diskurs finden, waren zwei christliche Gruppen, die mit Bezug auf die Urgemeinde Gütergemeinschaft praktizierten, als ›kommunistisch‹ etikettiert worden: die als Häretiker verfolgte Bewegung der communelli ... und ... die als communistae bezeichneten Hutterer des 16. Jahrhunderts ", a. a. O., S. 78.

5 Zitiert nach der Übersetzung von H. Menge, Stuttgart 1946, S. 186.

6 Vgl. Richard Saage: Utopische Profile, Band 1-4, Münster 2001ff. Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Heyer in diesem Heft.

7 Vgl. Fritz Sternberg: Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Köln 1951, S.25; 87.

8 Vgl. R. Leinert: Die preußischen Landtagswahlen, Berlin 1913, S. 10 ff. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder erhöhte sich von 280 000 (1891) auf 2 490 000 (1914).

9 Die jährlichen Realeinkommen der Arbeiter stiegen in Deutschland von 464 Mark (1855) auf 1083 Mark 1913. (Von 1810 bis 1855 "Verelendung" von 618 auf 464 Mark!)

10 Vgl. Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus, Berlin 1973.

11 Vgl. Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Rolle der Sozialdemokratie, Berlin 1899.

12 In dem Werk ist eine Verteidigungsschrift von ihm als "Zuschrift an den Stuttgarter Parteitag der SPD von 1898" abgedruckt, worin er die Quadratur des Kreises versucht, sich als nicht im Widerspruch zu Marx stehend darzustellen und gleichzeitig auf seiner Kritik an dessen revolutionären Erwartungen zu bestehen: "Ich bin der Anschauung entgegengetreten, daß wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und daß die Sozialdemokratie ihre Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen beziehungsweise von ihr abhängig machen soll. Das halte ich in vollem Umfang aufrecht ... Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das ›Manifest‹ schildert (!). Es ist nicht nur nutzlos, es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter. Politisch sehen wir das Privilegium der kapitalistischen Bourgeoisie in allen vorgeschrittenen Ländern Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen weichen ... Je mehr aber die politischen Einrichtungen der modernen Nationen demokratisiert werden, umso mehr verringern sich die Notwendigkeiten und Gelegenheiten großer politischer Katastrophen."

13 Auch die Frauen glaubten nicht mehr an das marxistische Dogma, daß mit der Abschaffung der ökonomischen Klassenherrschaft zugleich auch das Patriarchat abgeschafft würde, - nein: die studentischen Genossinnen vollzogen den Exodus aus dem SDS und gründeten den "Sozialistischen Weiberrat", mit dem berühmten, fast amazonenhaften Schlachtruf: "Man befreie die sozialistischen Eminenzen von ihren autoritären Schwänzen!"

14 Zusammenfassend dargestellt auf der Basis mehrerer Projektseminare in: Klaus-Jürgen Scherer, Fritz Vilmar (Hg): Ein alternatives Sozialismuskonzept: Perspektiven des Ökosozialismus, 3. Aufl. Berlin 1984, und Dies.: Ökosozialismus? Rot-grüne Bündnispolitik, Berlin 1986.

15 Fritz Vilmar, Karl-Otto Sattler: Wirtschaftsdemokratie und Humanisierung der Arbeit, Frankfurt-Köln 1978.

16 Vgl. Arnold Künzli: Der Demokratische Sozialismus auf der Suche nach seiner Identität, in: U. Gärtner, J. Kosta (Hsg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Kritik und Alternativen. Festschrift für Ota Sik, Berlin 1979, S. 285 ff.

17 In einer empirischen Fallstudie haben wir festgestellt, daß das Verhältnis von Kultur- und Nachrichtensendungen einer öffentlich- rechtlichen Anstalt (ARD) zu einem Privatsender (RTL) 50:19 war, umgekehrt das Verhältnis anspruchsloser Unterhaltungssendungen 15:44. Vgl. Fritz Vilmar: Das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, Skript der FU Berlin, 2002, S. 45.

18 Vgl. Datenreport 1997, S. 87.

19 Die Berechnungen schwanken zwischen 52% und 72,8 % Anteil der Arbeiterklasse unter den Erwerbstätigen. Vgl. B. Jahny, L. Wallmuth: Arbeit und Gesellschaft, Weinheim 1978, S. 210-230.

20 Die empirische Wahlforschung unterscheidet inzwischen 1) die Arbeiterklasse, 2) die Klasse der Beschäftigten mit ausführenden nicht-manuellen (Routine-)Tätigkeiten, 3) das Kleinbürgertum (kleine Selbständige mit und ohne Beschäftigte) sowie die "Dienstklasse" ("Service class"), die im Interesse ihrer Organisationen Macht hat oder Expertenwissen einsetzt. Nur die Kernklientel des Konflikts von Kapital und Arbeit, die Arbeiter, wählen noch überproportional SPD, aber der Anteil der Arbeiter an der Wahlbevölkerung sinkt, und die partielle Hinwendung von Teilen der "Dienstklasse" zur SPD geht einher mit deren Wendung zur "neuen Mitte". S. Frank Brettschneider u. a. (Hrsg.): Das Ende der politischen Sozialstruktur? Opladen 2002.

21 Die deutschen Gewerkschaften, die in der Nachkriegszeit das gründlichste wirtschaftsdemokratische Programm erarbeitet und bis in die achtziger Jahre lediglich aktualisiert hatten, haben, von begrenzten Mitbestimmungsforderungen abgesehen, drei Jahrzehnte lang fast nichts getan, um ihren wirtschaftsdemokratischen Forderungen öffentlich Geltung zu verschaffen. 1996 haben sie daraus sozusagen die Konsequenz gezogen, indem sie ihr neues Grundsatzprogramm von sämtlichen wirtschaftsdemokratischen Forderungen - außer einem pauschalen Gemeinplatz über "Ausbau der Mitbestimmung" (Abs. II.5) "reinigten". Vgl. Fritz Vilmar: Konservatismus der Gewerkschaften, in: M. Greven (Hrsg.), Festschrift für Kurt Lenk, Baden-Baden 1994, S. 445-471.

22 Das Berliner Grundsatzprogramm der SPD hat derzeit in der SPD so viel Geltung wie die Bergpredigt in den Kirchen. Seine - gegenüber dem Godesberger Programm sogar expliziteren - wirtschaftsdemokratischen Aussagen werden ohne Zweifel der in Arbeit befindlichen "Aktualisierung" zum Opfer fallen.

23 Vgl. Heinz Timmermann: Eurokommunismus, in: Thomas Meyer u. a.: Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, S. 162 f.

24 Klaus-Jürgen Scherer, Fritz Vilmar: Ein alternatives Sozialismuskonzept a. a. O.

25 Sie scheiterte schließlich 2002 an den verantwortungslosen Wahleskapaden linker Gruppierungen, die den fast absoluten linken Wahlsieg bei den Präsidentenwahlen - es gab über 42 % Mitte-Links-Voten! - in eine Niederlage Jospins (mit 16 %) verwandelte.

26 Typisch die Teilprivatisierung der Renten (in Deutschland: "Riesterrente ") und der Verantwortung für die Arbeitslosen ("Hartz-Konzept").

27 Eine Hoffnung, die das Unternehmertum selbst den noch bedenkenloser prokapitalistisch agierenden Konservativen nicht erfüllen konnte. Ein 1998er Memorandum der AAW belegt dies eindrücklich: 1980-94 stiegen die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen von 251 Mrd. DM auf fast das Doppelte (486 Mrd.) jährlich, dabei sanken gleichwohl die Bruttoinvestitionen von 279 Mrd. auf 193 Mrd. und die registrierte Arbeitslosigkeit wuchs von 0,9 auf 2,6 Millionen: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum Â’98, Köln 1998, S. 250 ff.

28 Im traditionellen und besonders im revolutionär orientierten Sozialismus gab es eine verheerende Geringschätzung der (schon bei Marx als "bürgerlich" abqualifizierten) Demokratie. Kaum ein Satz linker Verächter der Demokratie konnte nach 1918, als diese erkämpft ward, verhängnisvoller irreleitend sein als dieser: "Demokratie das ist nicht viel - Sozialismus ist das Ziel!".

29 Ota Sik: Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein dritter Weg, Hamburg 1979.

30 Rolf Canzen hat das Verdienst, eine ausführliche Kritik des "Staatssozialismus " aller Spielarten und eine Wiederaneignung der frühsozialistisch-anarchistischen Denktradition erarbeitet zu haben: Weniger Staat, mehr Gesellschaft. Freiheit - Ökologie - Anarchismus, 3. Aufl. Grafenau 1997. Eine Zusammenfassung findet sich in dem o. g. Sammelband über Perspektiven des Ökosozialismus: Der utopische Sozialismus einiger Anarchisten und Frühsozialisten, a. a. O., S. 392-463. Schon 1983 habe ich die sozialismustheoretische Vorrangstellung des Marxismus in Frage gestellt, - in: Wolfgang M. Mickel (Hsg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1983, S. 466-471.

31 Die Zahl ist nicht aus der Luft gegriffen: Bei der Analyse der (west-)deutschen Selbsthilfebewegung zeigte sich, daß nicht 8 bis 10 000, sondern 50-60 000 soziale Selbsthilfegruppen mit ca. 600 000 Aktiven tätig waren: Brigitte Runge, Fritz Vilmar: Handbuch Selbsthilfe. Gruppenberichte. 900 Adressen. Gesellschaftliche Perspektiven, Frankfurt 1988.

32 Vgl. Fritz Vilmar: Theorieansätze der Nachbarschaft als politische Einheit, in: Brigitte Runge, Fritz Vilmar: Handbuch Â…, a. a. O., S. 330-342.

Der hier veröffentlichte Text erscheint in einer erweiterten Fassung demnächst in: Ueli Mäder, Hans Saner (Hrsg.): Realismus der Utopie. Zur politischen Philosophie von Arnold Künzli, Zürich 2003.

in: UTOPIE kreativ, H. 151 (Mai 2003), S. 415-424

aus dem Inhalt:

Gesellschaft: Analysen & Alternativen
CHRISTOPH BUTTERWEGGE Migrant(inn)en, multikulturelle Gesellschaft und Rechtsextremismus in den Massenmedien 395
RONALD LÖTZSCH Widersprüche in der bundesdeutschen Minderheitenpolitik 406
Geschichte & Politik

FRITZ VILMAR "... nur noch ein Haufen kalter Asche". Aufstieg und Zusammenbruch des Sozialismus. Was tun? 415
STEPHEN ERIC BRONNER "Was tun?" und Stalinismus 425 FRANK RICHTER Für eine Rekonstruktion des historischen Materialismus 435
STEPHAN WOHANKA Ist die Vergangenheit für die Gegenwart verantwortlich? Geschichte als Interpretation 446
Standorte

ANDREAS HEYER Politische Utopien der europäischen Neuzeit 456
ULRICH BUSCH Vergessene Utopien: Friedrich Nietzsches Vision vom Übermenschen 460