Welche Aufgaben hat ein Programm einer sozialistischen Partei?

Die Welt sieht heute anders aus als zu jener Zeit, da die Autorengruppe André Brie, Michael Brie, Dieter Klein den ersten Programmentwurf zur Debatte stellte. ...

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Damals, im Frühjahr 2001, hatte die Öl- und Rüstungsmafia ihren Kandidaten Bush gerade mittels Wahlbetrug an die Macht gehievt, Cheneys "Neues Energieprogramm" nebst Kriegsplänen lagerten noch im Schubfach, Dow Jones und Dax waren noch nicht allzu weit von ihren Spitzenwerten entfernt, noch galt Aktienbesitz als Weg zu schnellem Reichtum, die New Economy als Garant rasanter Produktivitätszuwächse und das amerikanische Modell als neoliberales Vorbild für Wachstum und Vollbeschäftigung.

Inzwischen sind sowohl Afghanistan als auch der Irak mit USTruppen besetzt, die Spekulationsblase an den Börsen ist geplatzt, Millionen amerikanische Haushalte bangen um ihre Altersbezüge, die Erfolgsstory neoliberaler Privatisierungspolitik verendete mit Enron und Worldcom in Jahrhundertpleiten und der deutsche Neue Markt wurde wegen milliardenschwerer Kapitalvernichtung ganz geschlossen. Die Weltwirtschaft steht am Rande ihrer tiefsten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Allerdings: Anders als noch in der Hysterie des 11. September 2001 sind heute eine übergroße Mehrheit der Europäer und viele Amerikaner gegen den Krieg. Wir erleben eine weltweite Wiederauferstehung der Friedensbewegung mit den größten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte.

Auch die deutsche Politiklandschaft ist nicht mehr die gleiche. Eichels Steuerreform hat sich inzwischen als das erwiesen, was sie von Anfang an war: eine der gewaltigsten Umverteilungsaktionen öffentlicher Gelder auf private Konten Gutbetuchter in der Geschichte der Bundesrepublik. Schröder hat die Abschaffung der gesetzlichen Rente eingeleitet, hat mit Hartz die alte BDI-Forderung erfüllt, tarifliche Standards zugunsten unwürdiger Billigjobs zu beseitigen; er hat die Situation Arbeitsloser weiter verschlimmert und ist gerade dabei, eine Reform des Gesundheitswesens durchzusetzen, die Arztbesuche künftig zu einem teuren Luxus machen kann. Die PDS hat keine Fraktion mehr im Deutschen Bundestag, wird bundespolitisch weitgehend totgeschwiegen und liegt in Umfragen bei nicht viel mehr als drei Prozent.

Das ist die Situation, in der wir als Mitglieder oder Sympathisanten der PDS über ein neues Parteiprogramm diskutieren und in der jetzt ein überarbeiteter Entwurf präsentiert wurde.(1) Wird er dieser Situation gerecht?

Das Programm einer sozialistischen Partei sollte vier Aufgaben erfüllen: Es sollte eine Analyse des aktuellen Stadiums kapitalistischer Entwicklung enthalten, eine Darstellung der Strategien der Herrschenden und der Kräfteverhältnisse; es sollte das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft als Alternative zum bestehenden System der Profitmacherei umreißen; es muß jene Forderungen formulieren, für die wir als sozialistische Partei hier und heute kämpfen und an denen wir zu messen sind; es sollte schließlich Aussagen darüber enthalten, wie dieser Kampf unter den gegebenen Kräfteverhältnissen aussehen kann, wenn wir dabei diese selbst verändern wollen. Ein Programm sollte also neben Analyse und Ziel Brücken vom Heute zum Morgen zumindest skizzieren. (2)

In der Frage einer Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus stellt der vorliegende Entwurf einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem alten dar. Hatte man damals noch den Eindruck, die Autoren lebten jedenfalls nicht auf dieser Welt, werden die Verhältnisse in ihrer Brutalität, Asozialität und Bedrohlichkeit jetzt realistischer geschildert. Das keynesianische Nachkriegsmodell erscheint nicht mehr als humane Eingebung kapitalistischer Eliten, sondern als ihnen "durch die Kämpfe der Arbeiterbewegung" und "unter dem Einfluß der Konkurrenz mit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten" abgetrotzt. Die Antreiber der neoliberalen Offensive werden nicht verschwiegen, das Resultat als "ökonomische Diktatur" charakterisiert. Generell wird der Kapitalismus als "Wurzel" von "ökonomischer Ausbeutung, ökologischer Verödung und politischer Unterdrückung sowie verbrecherischer Kriege" benannt. Wer jetzt sagt, das sei doch alles selbstverständlich, dem sei eine neuerliche Lektüre des ersten Brie-Brie-Klein-Entwurfs ans Herz gelegt.

Leider haben aber auch im Analyse-Teil einige Seltsamkeiten aus dem alten Papier überwintert. (3) Das betrifft etwa folgenden Dialektikversuch: "Der heutige Kapitalismus bringt Potentiale hervor, die für eine zukunftsfähige Alternative von größter Bedeutung sind, aber er fesselt und deformiert sie zugleich." Als Beispiele aufgezählt werden: "Gestaltungsspielräume durch ökologisch verantwortbare Reichtumssteigerung", "Zeit für selbstbestimmte Lebensweisen", "Bedingungen bewusster Gesellschaftsgestaltung durch Zuwachs an Wissen und Information", "Zugang zu anderen Kulturen durch Internationalisierung " und anderes. Zutreffend ist, daß wichtige technologische Rahmenbedingungen all dessen in den letzten Jahren entstanden sind - innerhalb des Kapitalismus. Das ist ebenso zutreffend wie die Feststellung, daß Einsteins Relativitätstheorie innerhalb des Kapitalismus formuliert und die Romane Thomas Manns wie auch die Mehrzahl der Stücke Brechts innerhalb des Kapitalismus geschrieben wurden. Kein ernsthafter Mensch würde aus letzterem folgern, es handele sich deshalb um Hervorbringungen des Kapitalismus. Nun wäre das Ganze keiner Erwähnung wert, ginge es dabei um nicht mehr als eine etwas hinkende Logik. Daß hinter der Rede von den "Entwicklungspotentialen" des Kapitalismus allerdings weit mehr steht, erläutert Roland Claus im Märzheft dieser Zeitschrift. (4) Er schreibt dort über die politischen Absichten der sogenannten Reformer folgendes: "Die Reformer akzeptieren die Bedingungen der Bundesrepublik und halten diese Gesellschaft für transformationsfähig. Folgerichtig werden sie dafür kritisiert, ihren Frieden mit dieser Gesellschaft machen zu wollen. Die Reformer haben deshalb ihr Bekenntnis zur ›neuen Ordnung‹ (Hervorhebung - S. W.) in verklausulierte Formeln wie ›Entwicklungspotentiale dieser Gesellschaft‹ u. ä. verpackt. Ihren Frieden mit dieser Gesellschaft zu machen, bedeutet für die Reformer, sie anzunehmen, um sie zu verändern." Daß linke Politik die Realität so, wie sie ist, analysieren und verstehen muß, um sie verändern zu können, ist eine Selbstverständlichkeit. Daß wir politische und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, ausgehend von den gegenwärtig bestehenden, verändern müssen, auch. Den Kapitalismus - was sonst verbirgt sich hinter der "neuen Ordnung", von der Roland Claus spricht? - "annehmen ", gar sich zu ihm "zu bekennen", ist allerdings etwas wesentlich anderes. Es wäre gleichbedeutend mit dem Ende der PDS als linker Partei.

Auch im Unterkapitel über den "Kapitalismus im Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologien" stehen eine Reihe Aussagen, die besser nicht bleiben sollten. Die Aussage etwa: "Der Industriekapitalismus wird im Informationskapitalismus Â…aufgehoben " erscheint in einer Zeit, in der das amerikanische Industrie- und Rüstungskapital seine Macht unter Beweis gestellt hat, die ganze Welt - gegen den Willen von Teilen des europäischen Kapitals, aber auch der Nasdaq! - in einen grauenvollen Krieg zu treiben, als wenig realitätsnah. Die größten und mächtigsten transnationalen Konzerne - an Umsatz, Börsenwert wie auch gesellschaftlichem Einfluß - sind solche der "old economy", die sich die neuen Technologien zunutze machen und einen Teil der sie repräsentierenden Unternehmen inzwischen aufgekauft haben. Diese Frage ist nicht nebensächlich. Sie betrifft die Einschätzung von Machtverhältnissen.

Der Abschnitt "Sozialismus - Ziel, Weg und Werte" ist ebenfalls insofern besser geworden, als sein Inhalt jetzt nicht mehr hinter dem Grundgesetz zurückbleibt. (5) Bezugnehmend auf dieses, wird auf die "Möglichkeit von Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln und ihre Überführung in Gemeineigentum " hingewiesen und erläutert, wir seien "dafür, diese Möglichkeit umzusetzen" - allerdings nur, "wenn dies nach Ansicht der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu sozialer Gerechtigkeit und effizienter Bereitstellung der sozialen Grundgüter beiträgt." Keine Frage: Sozialistische Veränderungen werden sich ohne breiten Rückhalt nicht umsetzen lassen. Die Aufgabe einer sozialistischen Partei im Kapitalismus besteht aber vielleicht nicht nur darin, einen Mehrheitswillen pro Sozialismus umzusetzen, so es ihn irgendwann gibt, sondern heute beginnend darum zu ringen, daß er sich entwickeln kann. Genau das aber - Argumente, warum eine sozialistische Wirtschaftsordnung ohne die Sünden der Vergangenheit möglich ist und wie sie aussehen kann, Argumente gegen die verlogene Gleichsetzung von kapitalistischem Profitstreben und Produktivitätsstimulanz - findet man im Abschnitt "Sozialismus" kaum. Statt dessen wird erneut "Unternehmertum und Gewinninteresse" als "wichtigen Bedingungen von Innovation und betriebswirtschaftlicher Effizienz" Respekt gezollt. Die Überarbeitung bestand in diesem Fall in der Einfügung des Wortes "betriebswirtschaftlich" und in der Verstärkung der nachfolgenden Relativierungen. Gerade diese allerdings bestätigen: Gemeint ist an dieser Stelle nicht Rechnungsführung in sozialistischen Betrieben - in der Gewinn in der Tat ein Kriterium sein kann -, sondern kapitalistische Profitmaximierung. Daher sei die Frage gestattet: Wozu der Bückling? Inhaltlich besagt der Satz wenig: betriebswirtschaftliche Effizienz mißt sich an nichts anderem als an der Relation zwischen Kosten und Ertrag, also am Gewinn und daß "Gewinnstreben" eine Bedingung für Gewinnsteigerung darstellt, ist keine überraschende Einsicht. Für Innovation allerdings gilt das schon nicht mehr. Es sei nur an die gängige Praxis großer Konzerne erinnert, Patente just mit dem Ziel aufzukaufen, ihre Realisierung zu verhindern. Die Pharmabranche - und nicht nur sie - bietet eine Fülle von Beispielen. Man denke auch an die Auswirkungen des "Gewinnstrebens" von Microsoft auf die Qualität internationaler Software. Oder an die "gewinnstrebende" Deutsche Bank, die allemal lieber die Produktion von Antipersonen-Minen bei DaimlerChrysler finanziert als einen jungen erfinderischen Geist mit dem nötigen Startkapital auszurüsten.

Dieses Problem basiert auf einem grundlegenderen: (6) Wie schon im ersten Entwurf wird die Eigentumsfrage "primär" auf eine "Frage der realen Verfügung" reduziert und mit der Zurückweisung von "allumfassendem Staatseigentum" ein Pappkamerad aufgebaut, von dem schon die vergangene Diskussion gezeigt hat, daß es ihn in der PDS nicht gibt. Unsere Differenz besteht nicht darin, daß die einen das Ziel haben, noch den letzten selbständigen Bäcker an der Ecke (so er die kapitalistische Restauration überlebt hat; - in meiner Wohngegend gibt es von fünfen keinen einzigen mehr) zu verstaatlichen, während die anderen ihn schützen wollen; unsere Differenz besteht darin, daß die einen sich einen Sozialismus, in dem BMW weiterhin der Familie Quandt gehört, schwer vorstellen können, während andere davon ausgehen, es genüge - und es sei möglich! -, der Familie Quandt die "Verfügung" über BMW zugunsten einer nicht profitdiktierten Unternehmensführung abzunehmen, während Rechtstitel und Dividendenanspruch erhalten bleiben. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Ein Gesetz über Mindestlöhne, bessere Arbeitsbedingungen, erweiterten Kündigungsschutz oder auch internationale Kapitalverkehrskontrollen - alles das sind Eingriffe in Verfügungsmacht und es sind Forderungen, um die unter heutigen Bedingungen gekämpft werden muß. Gelänge es, die Kräfteverhältnisse dahingehend zu verändern, daß die Entfesselung kapitalistischer Plusmacherei gestoppt, ja der Trend umgekehrt werden könnte, wäre viel erreicht. Nur: auch der bestregulierte Kapitalismus bleibt Kapitalismus. Die Herrschenden - und genau das beweist die Geschichte seit 1980 - bleiben stets auf dem Sprung, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den lästigen Sozialfesseln erneut den Garaus zu machen. Und: keine Fessel hat den Kapitalismus bisher davon abgehalten, jenseits seiner Zentren unsägliches Leid und Elend zu verursachen.

Außerdem bleibt die Selbstbeschränkung "auf absehbare Zeit" lediglich um die Veränderung von Verfügungsgewalt zu ringen, hinter der aktuellen Diskussion selbst bürgerlicher Ökonomen zurück. Inzwischen verirren sich sogar ins Handelsblatt Artikel, die die Frage aufwerfen, ob die wilde Privatisierungspolitik im Bereich Energie, Bahn und Telekom nicht doch ein Fehler war. Immerhin gehören zu den vorliegenden Erfahrungen die kalifornische Energiekrise, die Pleitewelle und Re-Monopolisierung auf den nationalen Telefonmärkten; die britische Bahn - eines der ersten Privatisierungsprojekte -, die nach einer Serie von Unfällen und bankrott heute wieder unter Obhut des britischen Staates steht, schließlich der privatisierte Energieriese British Energy, der längst auch nur noch mit Steuergeld vor der Pleite bewahrt wird. Das alles wie eben auch die penetrante Neigung, Kapital erst in irrwitzigen Mengen auf bestimmte Märkte zu konzentrieren und anschließend - wenn die Blase platzt - mit sozial desaströsen Folgen zu entwerten, spricht nicht gerade für die "Regulationspotenzen" kapitalistischer Märkte, auf die sich der Text immer wieder positiv bezieht. In Japan hat der Crash eine inzwischen zehnjährige Dauerdepression ausgelöst; ein ähnliches Szenario in den USA und Europa ist nicht ausgeschlossen.

Ist damit jede Regulation der Produktion über Wettbewerbsmärkte für eine sozialistische Ökonomie tabu? Solchen Schluß ziehen hieße, die positiven Seiten funktionierender Märkte - schnelle Rückkopplung vom Verbraucher zum Produzenten, Zwang zu sparsamem Umgang mit (kostenträchtigen) Ressourcen etc. - zu ignorieren. Tatsächlich ist volkswirtschaftliche Produktion nur in der strategischen Orientierung, nie aber im Detail längerfristig planbar. Diese Aussage gilt auch im Zeitalter modernster Computertechnik. Denn die Schwierigkeit der Planung einer Volkswirtschaft én detail liegt durchaus nicht nur in der ungeheuren Datenmenge, die verarbeitet werden muß. Das Hauptproblem ist, daß die Abläufe als solche nur begrenzt vorherbestimmt sind. Kleine und große technologische Neuerungen verändern ständig die Produktionsverfahren und sind ebenso wenig vorhersehbar wie bahnbrechende Erfindungen, die völlig neue Produkte kreieren. Selbst simple Dinge wie Wetterturbulenzen beeinflussen den Bedarf auf eine nie genau vorhersehbare Weise. Natürlich sind mit Mitteln der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmte Trends in die Zukunft extrapolierbar. Und mit differenzierten Input-Output-Tabellen läßt sich relativ genau berechnen, welche gesamtvolkswirtschaftlichen Folgen eine neue Technologie oder bestimmte Verschiebungen im Endverbrauch nach sich ziehen. Aber in einem hochkomplexen System mit einer Unzahl von Koppelungen und Schaltstellen resultieren aus minimalen Abweichungen und Zufallseinflüssen auf den einzelnen Ebenen schnell derart große Divergenzen im Gesamtablauf, daß am Ende nichts mehr paßt und stimmt. Gerade wenn man Grundrichtung und Prioritäten der wirtschaftlichen Entwicklung steuern will, muß diese Steuerung durch immanente Rückkopplungsschleifen abgesichert werden. Weniger kybernetisch ausgedrückt: Informationen über Nachfrageverschiebungen kommen in den Betrieben einfach schneller an als in zentralen Behörden. Und neue Techniken müssen möglichst ohne Zeitverzug betrieblich zum Einsatz kommen. Flexibles Reagieren aber setzt den nötigen Entscheidungsfreiraum voraus. Dieser sollte durch gesellschaftliche Vorgaben zwar in bestimmte Richtungen gelenkt, aber nicht aufgehoben werden. Grundlage der nötigen Rückkopplung sind funktionierende Marktmechanismen, die übrigens der gegenwärtige Kapitalismus in vielen Bereichen gar nicht mehr hat. Faktisch kann ein Markt die Produktionsentscheidungen staatlicher Unternehmen ebenso kontrollieren und regulieren wie die von privaten oder genossenschaftlichen. Einzige Voraussetzung ist die Existenz einer hinreichenden Zahl von Anbietern, um Marktmacht auszuschließen. Auch betriebliche Rechnungsführung und leistungsgerechte Bezahlung sind keine Frage der Eigentumsform. An der direkten Unternehmensführung privater Konzerne sind selbst Großanleger heute kaum noch beteiligt. Daß das Management aller Ebenen deren Shareholder-Value-Interesse dennoch bedingungslos zum Maßstab seines Handelns macht, wird durch "anreizkompatible " Arbeitsverträge und durch Bezahlung mit Unternehmensaktien und Aktienoptionen sichergestellt. Solche "Anreizkompatibilität" braucht natürlich auch ein vergesellschafteter sozialistischer Betrieb, nur: die Richtung der Anreize kann sich dann (und nur dann!) deutlich unterscheiden. Zwar ginge es auch um Produktivitätssteigerung und Überschüsse. Aber es ginge nicht minder um die Bedingungen, unter denen diese Überschüsse produziert werden: um humane und sichere Arbeitsverhältnisse, um kürzere Arbeitszeiten, um angemessene Bezahlung, nicht zuletzt um wesentlich größere Spielräume für die Beschäftigten, die unternehmensinternen Entscheidungen zu beeinflussen.

Der Unterschied zwischen einer in Kernbereichen sozialisierten und einer privatkapitalistischen Wirtschaft besteht nicht in der platten Alternative Plan oder Markt. Die wirklichen Unterschiede sind: Erstens, daß erwirtschaftete Überschüsse im Falle von Gemeineigentum der Allgemeinheit und nicht privaten Shareholdern zugute kommen. Zweitens, daß Produktions- und Investitionsentscheidungen nicht sklavisch dem Prinzip der Gewinnmaximierung unterliegen. Die Gestaltung der Güterpreise kann an anderen Prioritäten ausgerichtet werden, soweit dies gesellschaftlich wichtige Effekte hat (beispielsweise ökologische, aber natürlich auch soziale). Und der dritte, vielleicht wichtigste Unterschied ist, daß hohe Löhne, Mitbestimmung und Humanisierung der Arbeitswelt nicht länger mit Investitionsentzug und Erpressung beantwortet werden können.

Letztlich ist die Wahl der Eigentumsform eine Frage der realen Produktionsbedingungen. Dort, wo sich die Wertschöpfung schon aus technologischen Gründen in riesigen Unternehmen mit Tausenden Beschäftigten konzentriert, impliziert der Eigentumstitel ökonomische und gesellschaftliche Macht. Und dort hat Privateigentum nichts zu suchen. Das betrifft den Finanzsektor, die Energiewirtschaft, den Fahrzeugbau, weite Teile der chemischen Industrie, Telekommunikation und Transport, bestimmte Zweige des Handels; mindestens also die Liste der Dax-Unternehmen. In einigen dieser Bereiche sind Marktmechanismen generell nicht funktionsfähig; in anderen könnten veränderte Eigentumsverhältnisse sogar wieder zu einem Mehr an Wettbewerb und Kundenorientierung führen. Völlig anders sind die Verhältnisse im Mittelstand, sei es in Handwerk, Landwirtschaft, Dienstleistungssektor oder produzierendem Gewerbe. Hier geht es um Förderung privater wie genossenschaftlicher Unternehmen. Enteignungen oder Verstaatlichungen wären fehl am Platz, wie nicht zuletzt die DDR-Erfahrungen nach 1972 belegen.

Teil 3 des Entwurfes enthält unsere politischen Forderungen und Reformkonzepte. (7) In dem Abschnitt steht kaum etwas, dem man nicht zustimmen könnte. Das Problem ist - wie schon im ersten Entwurf - daß die Forderungen vielfach allgemein, unkonkret und damit unverbindlich bleiben. Wir sind für eine "erhebliche Verkürzung von Erwerbsarbeitszeit", aber voller Lohnausgleich wird nicht gefordert. Wir treten ein für "existenzsichernde Erwerbsarbeit", akzeptieren aber auch "erforderliche Flexibilisierungsprozesse". Wir "widersetzen uns dem Rückzug von Großkapital und großen Vermögen aus der Finanzierung öffentlicher Ausgaben", aber darüber, welche politischen Entscheidungen diesen "Rückzug" erst ermöglicht haben und die Erhöhung bzw. Einführung welcher Steuern wir fordern, ist nichts zu lesen.

Eine Hauptschwäche des Entwurfes ist schließlich, daß er zur aktuell brennenden Frage der Rolle der PDS in dieser Gesellschaft, ihren Möglichkeiten unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen, den Chancen und Grenzen von Kompromissen kaum mehr als die allgemeine Aussage beisteuert: "Wir stehen im Widerstand, wo sozialer und politischer Rückschritt Â…Gegenwehr verlangen. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit, wo dadurch Fortschritt möglich wird und Solidarität mit den sozial Schwachen es verlangt." Diese Aussage, ernst genommen, würde bedeuten, daß die Berliner Koalition nach Ansicht der Autoren besser gestern als heute zu beenden ist. Denn wenn der Entwurf postuliert, die PDS stehe "stets an der Seite der Gewerkschaften bei der Verteidigung der Flächentarifverträge", was ist deren Aufkündigung dann anderes als "sozialer Rückschritt"? Und wenn wir laut Entwurf "für die Bewahrung von öffentlichem Eigentum" eintreten, was ist dann die (versuchte und bisher an mangelnder Nachfrage gescheiterte) Verschleuderung der Sparkasse an einen amerikanischen Investmentkonzern? Diese Widersprüche werden nicht einmal reflektiert. Statt dessen beschränkt sich die Auswertung unserer Regierungserfahrungen auf die kühle Feststellung, wir hätten "demokratische Verlässlichkeit" bewiesen. Daß genau dieses Verständnis von "demokratischer Verlässlichkeit" dazu beigetragen haben könnte, dass uns in Schwerin acht Prozent unserer Wähler den Rücken kehrten und sich in Berlin nach nur einem Jahr schon mehr als jeder zweite abgewandt hat, dass auch unser Wahldesaster am 22. September hier Ursachen haben könnte... - Schweigen. Als wäre das alles gar nicht wahr, wird ein fast schon gespenstischer Wiederbelebungsversuch des alten Projekts eines "Mitte-Links-Bündnisses" unternommen. Unerfreuliche Realitäten nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist aber kein erfolgversprechender Versuch ihrer Bewältigung.

Der neue Programmentwurf ist ganz sicher eine bessere Diskussionsgrundlage als der alte. Aber das gleiche, was für unseren Kurs in Landesregierungen zutrifft, gilt auch für ihn: so, wie er ist, kann und darf er nicht bleiben. Die PDS muß in ihrer Politik wieder unverwechselbar werden und sie darf programmatisch ihr Profil als sozialistische, antikapitalistische Partei nicht einbüßen. Laßt uns über beides im Zusammenhang diskutieren, sachlich, argumentativ. Es geht um nicht weniger als darum, ob wir als linke sozialistische Partei eine relevante Kraft gegen Krieg und soziale Erniedrigung in den anstehenden Auseinandersetzungen bleiben werden.

Sahra Wagenknecht - Jg. 1969; Studium der Philosophie und Deutschen Literatur; derzeit Promoventin auf dem Gebiet Volkswirtschaftslehre; Mitglied des Parteivorstandes der PDS. Jüngste Buchveröffentlichung: Die Mythen der Modernisierer (2001).

(1) Programm der Partei des demokratischen Sozialismus (überarbeiteter Entwurf), in: Pressedienst PDS, Nr. 9/2003, S. 1-27. Der im Text als Referenz herangezogene erste Programmentwurf ist im Jahr 2001 erschienen.

(2) Programm ...., a. a. O., Abschnitt II, 2.

(3) Beispiele sind: "Gestaltungsspielräume durch ökologisch verantwortbare Reichtumssteigerung", "Zeit für selbstbestimmte Lebensweisen", "Bedingungen bewusster Gesellschaftsgestaltung durch Zuwachs an Wissen und Information", "Zugang zu anderen Kulturen durch Internationalisierung" (Ebenda, S. 7 ff.).

(4) Roland Claus: Was wollen die Reformer?, in: UTOPIE kreativ, Heft 149 (März 2003), S. 274-279, hier: S. 275.

(5) Vgl. Programm ..., a. a. O., S. 3-6.

(6) Vgl. Ebenda, S. 5 f.

(7) Vgl. Ebenda, S. 11 ff. vgl. dazu auch: Michael Brie, Michael Chrapa, Dieter Klein: Sozialismus als Tagesaufgabe, RLS-Manuskripte 36, Berlin 2002.

in: UTOPIE kreativ, H. 152 (Juni 2003), S. 536-542

aus dem Inhalt:

Essay
JÖRN SCHÜTRUMPF Die Juni-Insurrektion 1953. Schwierigkeiten mit der Klasse. Thesen 485
Stalins Tod und die Folgen
KARL-HEINZ GRÄFE 1953: die Krise des Imperiums und der "Neue Kurs" in Osteuropa 493
Globalisierung, Hegemonie & Krieg
HANS JÜRGEN KRYSMANSKI Wer führt die neuen Kriege? Globale Macht- und Geldeliten machen mobil 506
PEER HEINELT Nur deutsche Kriege sind gute Kriege. Bundesrepublikanische Medien auf Friedenskurs? 520
Programmdiskussion
HELGE MEVES Das Selbstverständnis der PDS, der Neoliberalismus und die Mitte-Unten-Optionen 525
SAHRAWAGENKNECHT Welche Aufgaben hat ein Programm einer sozialistischen Partei? 536
Alternative Wirtschaftstheorie
ANNELIESE BRAUN Auf der Suche nach einer feministischen Theorie des Wirtschaftens 543
In memoriam
ILSEGRET FINK Dorothee Sölle (1929 bis 2003) 555
GERHARD GUNDERMANN "Verantwortung für das eigene Produkt". Beitrag zum Kongreß der Unterhaltungskunst, März 1989 557