Ein heimlicher Marxist-Leninist?

Über Gerhard Schröder, Reformen, Stalinismus und Marxismus-Leninismus

Als Juso-Vorsitzender bekannte sich der heutige Kanzler einst - es war auf einer Dienstreise im Heimatland der Werktätigen - zum Marxismus- Leninismus, jener Gebrauchsideologie für eine sehr oft und oft auch sehr schnell wechselnde Praxis. Viele hielten das damals für einen Kotau vor den Gastgebern - und irrten wohl: Gerhard Schröder ist niemand, der falsch Zeugnis ablegt, wenn es um die letzten Werte geht.
Daß eine Regierung gegen Großgruppen der Gesellschaft einen sozialen Krieg vom Zaune bricht, kannten wir bisher nur vom - als Sozialismus verbrämten - Stalinismus: Erst ließ Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili das nach dem Kriegskommunismus wiedererwachte städtische Bürgertum als NEP-Gewinnler stigmatisieren und zum Bau des Weißmeerkanals abtransportieren. Danach erfolgte der Feldzug gegen die die Mehrheit der Bevölkerung bildende Bauernschaft, die in ihrem glücklicheren Teil in eine zweite Leibeigenschaft gezwungen wurde, während die weniger Glücklichen sich als doppeltfreie Lohnarbeiter und damit als Angehörige der zur herrschenden Klasse ausgerufenen Arbeiterschaft in eine kriegswirtschaftlich ausgerichtete ursprüngliche Akkumulation geschleudert sahen und die dritte Gruppe in der Sklavenhalterökonomie der GULags zu Lagerstaub verkam. Zum Nachtisch ließ sich der georgische Konterrevolutionär das Blut der roten Revolutions- und Bürgerkriegsgeneration samt Offizierkorps reichen, ehe er die - nach seinem Bilde zurechtgemordete - Partei- und Staatsbürokratie zur neuen herrschenden Klasse erhob und ihr die Gesellschaft zu Füßen legte.
Um den permanenten Krieg gegen die in Trümmern liegende Gesellschaft zu legitimieren, erfand er eine sogenannte Gesetzmäßigkeit der permanenten Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau der neuen Gesellschaft, mit der sich Terror ebenso rechtfertigen wie jegliche Erinnerung an das Freiheitsversprechen der sozialistischen Bewegung als Doppelzüngigkeit der Konterrevolution denunzieren ließen. Diese mörderische Legende stellte er ins Zentrum seiner neuen Religion, die er Marxismus-Leninismus nannte und in die von Marx und Lenin nur das aufgenommen wurde, was der Herrschaft nützte. Ihre Attraktivität zog sie aus dem Marxismus, der das Himmelreich - die Gleichheit aller - aus dem Jenseits ins Diesseits geholt hatte, verschob sie aber in eine immer fernere Zukunft, klassenlose Gesellschaft geheißen.
Der Kasernensozialismus, von Karl Marx nach der 1848er Revolution ursprünglich als Witz und Parodie auf das Gehabe einstiger Mitstreiter, jedoch keineswegs als negative (geschweige denn als positive) Utopie ersponnen, war in der stalinistischen Realität die Summe aus unkontrollierter staatlicher Macht plus Industrialisierung um jeden Preis, übertüncht mit einem großrussischen Nationalismus. Er erwies sich als lebens-, wenngleich nicht überlebensfähig. Denn die absichtsvolle und erfolgreiche Zerstörung wesentlicher sozialer und kultureller Zusammenhänge verhinderte nicht nur jeglichen Widerstand gegen Willkür, sondern auch - Tücke der Geschichte - das Reifen von Kreativität, ohne die keine Industriegesellschaft auf Dauer Bestand haben kann.
Für die Bevölkerung der wirtschaftlich arg gebeutelten DDR kam es zwar ebenfalls bitter; ab Juni 1953 aber dominierte eine Politik des Klassenkompromisses. In der Kunst, unter der Despotie erzeugte Strukturen mit weniger despotischen Mitteln am Leben zu erhalten, versuchten sich nach Stalins Tod auch dessen Nachfolger. Das Ergebnis ist bekannt.
Es hat fünfzig Jahre gedauert, bis sich die Bedingungen besserten. Unter Gerhard Schröder erleben wir eine Renaissance des sozialen Krieges von oben. Damit hat er es leichter als sein Ahn. Denn der schlug sich noch mit wirklichen Gegnern herum: selbständig denkenden Kleinunternehmern, störrischen Bauern, glorienscheinumflirrten Revolutionären. Stalin mußte eine Gesellschaft zertrümmern, um eine neue schaffen zu können. Schröder hingegen steht auf den Trümmern einer Gesellschaft, die nicht mehr überlebensfähig war: der fordistischen Industriegesellschaft. Die benötigte auf ihrem Höhepunkt in großen Mengen gut ausgebildete, disziplinierte, mit Kaufkraft ausgestattete Menschen. In jenen Zeiten der Vollbeschäftigung schien ein Staat sinnvoll, der nicht nur Repression, sondern auch soziale Wohlfahrt übte, zumal der Osten Deutschlands als politischer Konkurrent drückte.
Unterdessen tritt der Mensch immer mehr neben den Produktionsprozeß, hört auf, unverzichtbares Anhängsel der Maschine zu sein; er steuert, regelt, wartet - oder ist arbeitslos. Tendenz steigend. Natürlich ist Schröder nicht der Willensvollstrecker einer etwas ungelenken Partei- und Staatsbürokratie - Gerhard Schröder verwirklicht die Interessen einer noch kleineren, noch unsichtbareren Schicht. Auch er bleibt bei den "sozialen Grausamkeiten" meistens unsichtbar. So wie Josef Stalin hat er seine Molotows, seine Jeshows und Berias, die er vorschickt im Kampf gegen jene, die in seine Idealgesellschaft nicht hineinpassen: Arbeitslose, Kranke, Rentner.
Seit 1989/90 fühlen sich die Exponenten des großen Kapitals so sicher wie noch nie: Die erste Stufe der Steuerreform ließ die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer, die dieser Teil der Gesellschaft zu entrichten hat, fast auf Null sinken. Das Geld wird jetzt beim nichtvermögenden Teil der Gesellschaft wieder hereingeholt. Währenddessen schmiedet Schröders Adlatus Clement insgeheim am großen Industrieblock Deutschland- Großbritannien-Frankreich, der jeglichen Widerstand gegen die Industrie demnächst im Keime ersticken wird.
Und außerdem: Der Ostblock ist zerbröselt; die Industriearbeiterschaft schmilzt, und ihre Reste werden täglich mehr umgeschmolzen; und als ob das nicht reichte, müssen die Gewerkschafter an der "Basis" auch noch staunend die Männchenspiele ihrer Vortänzer erleiden.
Die seit zwei Jahrzehnten beschworene Individualisierung breitet sich wirklich aus; doch statt Freiheit produziert sie vor allem Ohnmacht. Die einzige Klasse, die als Klasse noch formiert und organisiert ist, scheinen die wirklich Reichen und Mächtigen zu bilden. Sie stehen nicht mehr - wie einst im fordistischen Zeitalter - einer organisierten und widerstandsfähigen Gesellschaft, sondern zunehmend einer Ansammlung entsolidarisierter vereinzelter Wehrloser gegenüber.
Die von der Reproduktion Ausgegrenzten verfügen über keinerlei wirksame Vertretung, schon gar nicht im politischen Raum (auf die PDS weiter zu schauen, ist man langsam leid). Kaum anders ergeht es den Kranken, vor allem jenen, die von Tag zu Tag mehr verarmen. Und: Zunehmend greifen Politiker zur alten Herrschaftstechnik des Sündenbocks. Auf subtile Weise denunzieren sie Rentner als "Sozialschmarotzer" - nicht zuletzt zur Ablenkung von ihren eigenen Verkommenheiten. Da Gerhard Schröder kaum noch Widerstand brechen muß, kann er viel unbefangener als Josef Stalin vor 75 Jahren die Gesellschaft angreifen. Sein Bekenntnis zu Stalins Marxismus-Leninismus war zweifellos nicht ernstgemeint; aber in seiner Politik ist er nicht weniger zynisch.


in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 18. August 2003, Heft 17