Der Beginn vom Ende der Sozialdemokratiesierung

So drückte es Friedrich März am 6. Oktober aus, als er nach seiner Meinung zum umstrittenen Herzog-Papier gefragt wurde und meinte damit, dass es ein guter Tag für die CDU sei. ...

... In ähnlicher Art und Weise, allerdings konsequent anderem Vokabular diktieren Sozialdemokraten, Christdemokraten und Freie Demokraten seit Wochen ihre Versionen der Agenda 2010 in die Schreibblöcke. Welch ein Erfolg dann am 7. Oktober zu hören, dass 50 Jährige nun doch nicht im Falle von Arbeitslosigkeit bei ihren Eltern ihren Lebensunterhalt einklagen müssen.
Und an vielen Stammtischen wird in diesen Tagen die Frage diskutiert, wie es möglich ist, in kurzer Zeit die Grundfeste von 30 Jahren gewerkschaftlicher Kämpfe und sozialer Errungenschaften zu erschüttern, massiven Sozialabbau zu betreiben und das noch als Weg in die goldene Zukunft zu verkaufen? Ein guter Stoff für einen guten Thriller zur Verschwörungstheorie. Denn begleitend zu diesen individuelle sehr harten Einschnitten, die viel Aufmerksamkeit und Emotionen binden, passieren in der Welt Kriege Nord gegen Süd, eine neue Rüstungsspirale läuft an, die innere Sicherheit liefert den Vorwand für Beschneidung von Freiheiten, es werden sogar wieder Mauern errichtet, ... Kann das alles Zufall sein?
Es scheint, als ob vor ein paar Jahren ein globales Geheimseminar zum Thema "Zerschlagung des Sozialstaates leicht gemacht" oder "Was tun, wenn demokratische Wahlen allzu offensichtliche Umverteilung nach oben hemmen?" oder "Einen Euro für die Masse, den Rest in unsere Tasche". TeilnehmerInnen waren Politiker jedweder Coleur, vor allem aber SozialdemokratInnen und Grüne, die doch bislang immer auf die soziale Karte setzen mussten, um Wahlen zu gewinnen. Veranstalter waren dann sicherlich VertreterInnen der globalisierten Industrie, die nämlich als einzige davon satt profitieren, abgesehen von den Diäten und Alterspensionen der PolitikerInnen versteht sich. Seminarleiter waren alle männlich, weiß und meist Wirtschaftswissenschaftler, Steuerexperten und nicht zu vergessen Statistiker, die hochrechnen, wie die Maßnahmen in 30 Jahren gewirkt haben werden.
Am Ende dieses globalen Seminares standen die folgende 10 Thesen, die ich hier dokumentieren und zur Diskussion stellen möchte:
1. Regel Nummer eins und zugleich Universalregel für unbequeme Fragen ist der stetige und monotone Verweis darauf, dass nur Wachstum neue Arbeitsplätze schafft und nur das auch die sozialen Probleme lösen wird.
Dahinter steht nichts weiter, als die neoliberale Wirtschaftsideologie: UnternehmerInnen werden ihre gesicherten Gewinne in Arbeitsplätze investieren und damit die soziale Frage gleich mitgelöst und damit belanglos wird. Und dahinter steht eine Verewigung der zentralen Stellung der Lohnarbeit in der Gesellschaft.
2. Deshalb ist es wichtig, Investitionen und wirtschaftliches Handeln zu befördern und staatlich anzuregen. Die Steuerbelastungen müssen runter, Regelungen, wie etwa Tarife müssen verschwinden und Investitionen durch staatliche Zuschüsse gefördert werden.
Prima ausgedacht, und es bringt tatsächlich mehr Gewinne und damit Dividenden und reduziert auch noch das Risiko, wenn Standorte wirklich verlagert werden sollen.
3. Damit Gewinne auch in Arbeit investiert werden, müssen die Löhne mindestens eingefroren werden, sowie Arbeitszeiten verlängert und die Lohnnebenkosten müssen runter, um den Faktor Arbeit zu entlasten.
Mit der anderen Seite der Medaille kann gleich noch mal Dividenenmaximierung betrieben werden, so zahlt die Bevölkerung gleich doppelt, zum einen mit schlechterer Sozialabsicherung und zum anderen mit sinkenden Reallöhnen.
4. Das Problem der Arbeitslosigkeit liegt also in zu hohen Löhnen. Deshalb ist nicht die Teilung der Arbeitszeit eine Lösung, sondern die Teilung der Löhne. Wem das nicht einsichtig erscheint, ist arbeitsscheu und gehört von Sozialleistungen unter Schmährufen ausgeschlossen. Das schafft Arbeit für alle.
... und bereinigt die Statistik, könnte man hinzufügen. Denn um existenzsichernde Arbeit geht es ja wohl bei Minijobs und Ich-AG kaum. Aber diese Abhängigkeiten und Drücke befördern Willfähigkeit und Scheuklappen bei den Menschen. Das "Arsch an die Wand kriegen" wird zur Lebensmaxime und über eigene Armut spricht man aus Scham nicht öffentlich. Zum Schluss sind alle in Arbeit und tragen einen Wohlstand zur Schau, wenn auch manchmal nur kreditfinanziert.
5. Da Unternehmen heute zu einem erheblichem Maße von ihren Börsenwerten abhängig sind, nicht nur ideell aus Imagegründen sondern auch realwirtschaftlich als Finanzierungsquelle, Bonitätsnachweis gegenüber den Banken und als Schutz vor feindlichen Übernahmen, müssen Börsenaktivitäten geschützt werden.
Übersetzt meint dies, dass sich Dividenden nur maximieren lassen, wenn eine unnötige Verregelung verhindert werden kann. Wäre doch ärgerlich, wenn Börseneinkommen plötzlich steuerpflichtig oder gar sozialversicherungspflichtig werden. Also wird die Börse wie die Lottozahlenoder das Sandmännchen zur medialen Normalität erklärt, die nicht hinterfragt zu werden braucht. Ich sehe, also ist es gut so.
6. Um in der Übergangsphase zur Vollbeschäftigung durch Wachstum die Kosten im Sozialbereich schon mal auf das zu erwartende Niveau abzusenken, sollen Eigenbeteiligungen eingeführt werden.
Klingt doch gut, wieso nicht Selbstbehandlung oder die Blinddarm-OP mit Anleitung auf DVD? Und natürlich kann es nicht sein, dass es über 2 Millionen arbeitsscheue MitbürgerInnen gibt, die in Miami Urlaub machen, und erst diese Rentner, die sich inzwischen auch noch ins Bett lümmeln und als Pflegebedürftige zusätzlich absahnen. Das werden die sich bei Selbstbeteiligung schon überlegen.
7. Familie ist ein wichtiges Thema. Das kostet Wählerstimmen. Deshalb ist Vorsicht geboten und Vorfeldarbeit nötig. Betone die Familie als zentrales Element der Gesellschaft und verknüpfe diese Verklärung mit der Verpflichtung, für einander einzustehen auch in Notzeiten.
Mit anderen Worten zurück ins 19. Jahrhundert aber unter anderen Voraussetzungen. Die Mutter gibt für die Kinder bis an ihr Lebensende ihr letztes Hemd, erst für die Privatschule, dann die Studiengebühren, Weiterbildungskosten und schließlich wenn es nicht so läuft für die Überbrückungszeit zwischen zwei Jobs. Dafür hat sie bei vielen Kindern die Chance, dass wenigstens eines ihre Eigenbeteiligungen im Alter aufbringt und sie nicht mit 70 an fehlendem Geld für eine Kunsthüfte zu Grunde geht. Fürs selber vorsorgen hat sie schlicht gar keine Zeit mehr oder im Minijob wenig finanziellen Spielraum. Die Kinder verlassen trotzdem das Haus und die Stadt, Familiensolidarität wird reduziert zur Banküberweisung.
8. Die Bildung ist wichtig. Seit 1968 gehört es irgendwie dazu, immer dafür zu sein. Aber Bildung für alle ist Verschwendung. Irgendwie wollen gebildete Leute auch selten die Minijobs annehmen, sondern engagieren sich schlimmstenfalls gar in Betriebsräten. Deshalb ist eine Lenkung notwendig. Zuerst schließe alle die aus, deren Eltern nix auf die Reihe kriegen, z.B. durch Koppelung von Kinderbetreuung an den Lohnbezug. Später orientiere Lehrpläne an wirtschaftlichen Bedürfnissen und verzahne den Weg von der Uni in die Chefetagen und sorge durch Selbstbeteiligung für eine "straffe", meint allein berufsfixierte Ausbildung.
Und weil Kreativität eigentlich doch keinen rechten Zusammenhang zum Einkommen der Eltern hat, werden Privatunis aufgemacht. Das stärkt das eigene Image, sichert Wettbewerbsvorteile durch Querdenken und wird auch noch vom Staat subventioniert.
9. Was machen mit dem ganzen Rest? Da bei Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten, psychischen Problemen und anderen Anomalien die bisherige Logik nicht greift, werden sie einfach ausgeblendet. Sparen ohne viel Aufsehen. Reduzierung der Kosten durch billigere Heimlösungen am Rande der Stadt. Künftig sollten diese Fälle eingeschränkt werden durch pränatale Diagnostik, Abschiebung in die Verantwortung der Familien und natürlich Selbstbeteiligungen.
Puuuh ... hier kann nicht unbedingt behauptet werden, dass dies eine neue Qualität bedeuten würde, denn wer realisiert denn heute schon, welch großer Anteil der Bevölkerung eigentlich darunter fällt?
10. Eine Debatte zur Gerechtigkeit ist unbedingt zu vermeiden. Am besten geht dies durch Brandmarkung als Neider und Heiligsprechung von Reichen als Leistungsträger der Gesellschaft, die Vorbild für alle sein sollten.
Andersherum steckt darin die Botschaft an alle Eltern, Hausfrauen und -männer, Normalverdiener, Rentner, eben alle, die so vor sich hinleben, das sie keine Leistungsträger sind. Das lässt auch erst gar nicht die Idee aufkommen, dass die unbezahlte Arbeit im Haushalt, in der Erziehung, die soziale Beziehungsarbeit oder das Ehrenamt in der Gesellschaft erst die Voraussetzung für Erwerbsarbeit und Reichtum schafft. Denn wenn das rauskäme ...
11. Was tun mit dem Widerstand? Vereinzeln natürlich, mache wichtigen Betroffenengruppen nach harten Ankündigungen ein paar unwesentliche Zugeständnisse. Aber verlasse niemals den Kurs, denn künftig gewinnst Du Wahlen nicht mit Geschenken ans Volk, sondern mit Härte gegen dasselbige. Das beweist Regierungsfähigkeit!
Genau ... halte des Ruder fest, auch wenn das Schiff schon auf Grund gelaufen ist! Was ist ein Schiff gegen das Wissen um die richtige Sache - für Wachstum, Arbeitsplätze und Vollbeschäftigung!
So in etwa könnten die Thesen lauten, die rund um den Globus sklavische Anwendung finden. Und das Seminar wäre ein erfolgreiches. Die Umsetzung überzeugt tatsächlich die Bevölkerungen, es spaltet, entsolidarisiert und schafft Reichtum für wenige.
Und doch wissen wir instiktiv, dass es nicht nur unsozial ist oder für die linken unter uns gar ungerecht, nein, es ist auch dumm und wenig zukunftsorientiert, weil es nicht funktionieren wird. Denn die Wirtschaft folgt heute schlicht anderen Gesetzen. Die Produktion von Waren ist von einer wachsenden Geldmaschine an der Börse überlagert. Damit ist die neoliberale Logik, die auf den einzelnen Unternehmer abhebt, schlicht nicht länger maßgebend, wenn sie es je war. Auch die Keyneslogik, die Wirtschaft durch staatliche Interventionen steuern will, passt nicht mehr recht. Die Börse folgt simpleren Gesetzen, nämlich dem Zufall. Wenn nun viele Unternehmen, insbesondere Versicherungen und Banken ihr Geld genau mit diesem Zufallsspiel verdienen, hat das Rückwirkungen auf die Produktion. Geld verdienen an der Börse heißt einmal hohe Dividenden erwirtschaften. Das geht maßgeblich über Gewinnmaximierung und die über Senkung der Kosten. Das bedeutet im Klartext Abbau von Arbeitsplätzen, bzw. Lohndruck. Eine andere Art des Geldverdienens sind extreme Kursschwankungen. Die können durch psychologische Tricks wie propagierte Auftragszusagen, Missmanagement oder auch große Zukunftspläne durchaus von großen Akteuren beeinflusst werden. Abstürzende Kurse bedeuten jedoch im Klartext Verlust an Image, Bonität und im Extremfall Zahlungsfähigkeit, also wieder Arbeitsplatzabbau. Wachsende Kurse indes nützen einem Unternehmen nur, wenn es selbst Aktien besitzt und diese auch verkaufen würde. Nur dies wäre töricht, denn dann liefert sich dieses Unternehmen an kurzfristige Dividendenjäger aus. Über die Börse ist auch erklärbar, wieso Unternehmen fusionieren wollen oder müssen. Ist der Kurs niedrig und damit das Eigenkapital knapp, verschlechtern sich die Möglichkeiten für Geldbeschaffung enorm. Fusioniert ein marodes Unternehmen nun mit einem geeigneten anderen, so steigt auf der Aktivseite das Vermögen und auf der Passivseite in gleichem Umfang die Verbindlichkeiten. Und weil der Deal über Aktien bezahlt wird, also keine Kredite aufgenommen werden oder so was, sehen die gleichen absoluten Schulden prozentual nun viel besser aus und die Kurse steigen wieder. Was für eine Illusion, an die wir nun unsere Krankenversicherung, Rentenversicherung und künftig auch Pflegeversicherung hängen sollen. Für zweifelnde LeserInnen ist es vielleicht hilfreich, sich die Frage zu stellen, ob die großen Unternehmen die Arbeitsplätze wirklich nicht brauchen, die sie im Monatsrhythmus abbauen. Ich meine, die Telekom, Stromanbieter, die Bahn, die Post, viele Banken und Versicherungen, sogar der Einzelhandel hätten Personal dringend nötig. Schlange stehen und Warteschleifen im Callcenter werden normal, weil Personal abgebaut wird. Und wieso lassen wir uns das gefallen und nehmen es als Kunden klaglos hin? Weil wir zutiefst überzeugt sind, dass diese Kostenreduzierung zur Sicherung des Standortes notwendig sind. Weil wir an diese Illusion glauben müssen, denn wir haben meist keine bessere. Das ist die Wirkung der Regel Nummer 1, die Wunderwaffe neoliberalen Denkens.
Nun stellt sich die Frage, ob die Politiker schlauer sind und einfach Geduld und Vertrauen nötig ist oder es einfach nicht besser wissen. Ersteres möchte ich mal verneinen, denn als Volkswirt kann ich das sagen, ein schlüssiges Wirtschaftskonzept habe ich noch aus keinem Politikermund bei Sabine Christiansen gehört. Zweiteres ist schon kniffliger. Da mag es Leute geben, die ein festes Weltbild brauchen für ihre Politik und die Formel "Gewinne zu Arbeitsplätzen" klingt da überzeugend. In der Konsequenz werden dann alle politischen Maßnahmen auf Gewinne getrimmt. Aber es gibt auch andere. Wenn Frau Merkel zum Beispiel behauptet, längere Arbeitszeiten würden Arbeitsplätze schaffen, dann scheint das auf den ersten Blick Blödsinn zu sein. Interpretieren wir den Satz aber etwas anders, dann meint er, dass nur noch längere Arbeitszeiten dafür sorgen, dass sich das Tempo des Arbeitsplatzabbaus zumindest verlangsamt. Dann erschließt sich die wahre Weisheit dieser Behauptung. Es geht gar nicht mehr um neue, sondern den Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze.
Und eine letzte Frage noch: Sind eigentlich wirklich linke, weil demokratisch-sozialistische PolitikerInnen per se oder per Parteibuch vor der beschriebenen Logik geschützt?