Eine Legende wird 80

Der "deutsche Oktober" 1923[1]

Zur Geschichte der Arbeiterbewegung gehört auch ihr kollektives Gedächtnis. Seit 1989 und noch verstärkt durch die "Geschichtslosigkeit" des neoliberalen Zeitgeistes hat sich ...

... Erinnerungsschwäche ausgebreitet. Dem kann neben einer Erneuerung von Kapitalismusanalyse und -kritik innerhalb der Gewerkschaften und politischen Linken durch gesellschaftspolitische und historische Bildungsanstrengungen entgegengewirkt werden. Arbeit am sozialen Gedächtnis der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung schließt aber auch die selbstkritische Destruktion politischer Mythen ein. Die These von der "Endkrise" des Kapitalismus und der Möglichkeit seines revolutionären Umsturzes zu Beginn der Weimarer Republik war einer dieser politischen Mythen in den Anfangsjahren der KPD. Harald Jentsch analysiert ihn am Beispiel der zeitgeschichtlichen Umstände des "Hamburger Aufstandes" und des "deutschen Oktober" 1923.
Am Morgen des 23. Oktobers 1923 kam es zu bewaffneten Kämpfen in Hamburg. Um 2.00 Uhr begannen kommunistische Stoßtrupps mit der Blockierung wichtiger Hauptverkehrsstraßen und um 5.00 Uhr griffen sie 26 Polizeiwachen an, von denen sie um 7.00 Uhr etwa die Hälfte erobert hatten. Der sog. Hamburger Aufstand hatte begonnen, dessen Kämpfe jedoch insgesamt auf voneinander unabhängige Operationen in den nördlichen und östlichen Stadtteilen Barmbek, Eimsbüttel und Schiffbek beschränkt blieben. Zu keinem Zeitpunkt gelang es den Aufständischen, die Hamburger Arbeiterschaft in die Kämpfe einzubeziehen, obwohl ein am 20. Oktober begonnener Werftarbeiterstreik bereits auf viele Betriebe übergegriffen und auch zu Arbeitslosendemonstrationen geführt hatte. Zwar sympathisierten viele Arbeiter und Kleinbürger mit den Kämpfenden, doch standen sie - wie es der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler formulierte - "mit den Händen in den Taschen untätig dabei".[2] Der KPD gelang es nicht einmal, ihre eigenen Mitglieder für den Aufstand zu mobilisieren. Von den ca. 18.000 Hamburger Kommunisten nahmen nur etwa 150 aktiv an den zwei Tage währenden Barrikadenkämpfen teil. Diese verfügten über 35 Gewehre und einige Revolver und wurden von ca. 1.000 "Helfern" unterstützt, die sich am Barrikadenbau beteiligten sowie Lebensmittel und Munition herbeischafften. Bereits unmittelbar nach den Hamburger Kämpfen charakterisierte der Militärische Leiter (M-Leiter) der KPD den Aufstandsversuch, der in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober gegen 1.00 Uhr abgebrochen wurde, wegen der ausgebliebenen Massenbeteiligung als einen "Putsch".[3]

Insbesondere mit dem Hamburger Aufstand, der sich jetzt zum achtzigsten Mal jährt, verbindet sich bis heute weitgehend die Vorstellungen von einem "deutschen Oktober" 1923, der das Startsignal für die deutsche Revolution sein sollte. Zur gleichen Zeit existierten in Sachsen und Thüringen kurzzeitig zwei aus linken Sozialdemokraten und Kommunisten gebildete Landesregierungen und am 21. Oktober fand in Chemnitz eine Arbeiterkonferenz statt, auf der - so die Sichtweise Vieler bis heute - durch die Feigheit und den Verrat der linken Sozialdemokraten und der rechten Kommunisten um den damaligen KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler die Ausrufung eines allgemeinen Aufstandes verhindert und damit eine günstige Möglichkeit zur Revolution in Deutschland verpasst worden sei. Das alles ist das Resultat einer schnell, nämlich bereits Ende 1923 beginnenden Legendenbildung, die eine wichtige Grundlage für die spätere Stalinisierung der KPD wurde: Personifiziert in Brandler, der den Aufstand verhinderte, wurden die Gefahren der "Rechtsabweichler" stigmatisiert. Für Ernst Thälmann, der zumindest einen Großteil der politischen Verantwortung für die Vorgänge in Hamburg trug, bildete sie ein wichtiges Fundament für seinen Aufstieg zum Vorsitzenden der KPD. Indem es gelang, auf ihn die unkritische Bewunderung für die Hamburger Aufständischen zu fokussieren, denen - trotz des "Verrats der KPD-Führung" - ein geordneter Rückzug aus aussichtsloser Situation gelungen war, wurde er zum Helden glorifiziert und schließlich zum "Führer seiner Klasse" erhoben.

In diesem Beitrag soll kurz umrissen werden, was im Zusammenhang mit dem "deutschen Oktober" wirklich geschah und worin dessen Bedeutung bis heute besteht. Deshalb sollen Fragen beantwortet werden, wie: Gab es Planungen für einen bewaffneten kommunistischen Aufstand in Deutschland? Von wem wurden diese Planungen durchgeführt? Hatte ein solcher Aufstand eine reale Chance?

(Fehl)einschätzung des Kapitalismus

Ab dem Frühsommer 1923 antizipierten die Funktionäre der Kommunistischen Internationale (KI), der Kommunistischen Partei Russlands (RKP[B]) und der KPD einen möglichen Umschlag der vorrevolutionären Situation in eine akut revolutionäre. Unter starker Einflussnahme des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) und der RKP(B) forcierte die KPD-Führung deshalb ihre konkreten Aufstandsplanungen, wobei sie den russischen Oktoberaufstand von 1917 zum Vorbild nahm. Ebenso wie die russischen Bolschewiki um Wladimir I. Lenin und Lew D. Trotzki sahen auch die deutschen Kommunisten in der russischen Revolution vom Oktober/November 1917 lediglich den Auftakt zur proletarischen Weltrevolution. Die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in Russland allein, dem "schwächsten Kettenglied" der kapitalistischen Welt, in dem es zwar leichter war, die Revolution zu beginnen, aber um so schwieriger, sie fortzuführen, hielten sie für unmöglich. Sie setzten all ihre Hoffnung auf eine Ausweitung der Revolution in Europa, wobei sich ihre Erwartungen vor allem auf das hoch industrialisierte Deutschland mit seiner traditionsreichen, starken Arbeiterbewegung richteten. Doch alle bisherigen Revolutionsversuche in Folge des Ersten Weltkriegs waren gescheitert. Ausgelöst durch die strengen Auflagen des Versailler Vertrags und beschleunigt durch die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 befand sich Deutschland in einer tiefen sozioökonomischen Krise. Da sich weder Politik noch Wirtschaft als fähig erwiesen, deren Auswirkungen (Hyperinflation, Pauperisierung und Bankrott der Staatsfinanzen) in den Griff zu bekommen, kam es sowohl zu einem Erstarken nationalistischer Bewegungen bis hin zu Separationsbestrebungen im Rheinland und in Bayern als auch zu vereinzelten und zum Teil umfangreichen Streikaktionen der Arbeiterschaft, die die Kommunisten in erhebliche Erregung versetzten und ihren Optimismus erhöhte, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bald grundsätzlich ändern zu können. Dank ihrer Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD Anfang Dezember 1920 und einer ab Ende 1921 verfolgten Einheitsfronttaktik gegenüber der SPD war es den deutschen Kommunisten gelungen, eine breite Massenbasis in der Arbeiterschaft zu erlangen. Da es ihnen im Frühjahr 1923 erstmals gelang, in einzelnen Streikaktionen die politische Führung zu übernehmen, hofften sie, die sozialdemokratischen Arbeiter auch gegen den Widerstand ihrer Führer für ihre Aktivitäten gewinnen und so die für die Revolution notwendige Mehrheit der Arbeiterschaft sammeln zu können.

Im Sommer 1923 begann die KPD mit den konkreten Planungen für den bewaffneten Aufstand. Zur eigenen Vorbereitung hielt sie eine Zeit von mindestens sechs Monaten für nötig, sie wollte also bis frühestens Anfang 1924 für einen Aufstand bereit sein. Die deutschen Kommunisten sahen auch keine Notwendigkeit, von sich aus die Aufstandsvorbereitungen zu forcieren, hielten sie es doch für unmöglich, dass die sozioökonomischen Probleme Deutschlands - die sie in Luxemburgscher Tradition als "Endkrise" des Kapitalismus wahrnahmen - anders als revolutionär zu lösen seien. Einziger Grund für eine Beschleunigung der Vorbereitungen wäre eine weitere katastrophale Verschlechterung der sozialen Situation der deutschen Arbeiterschaft oder ein Losschlagen faschistischer Verbände gewesen. Beide Möglichkeiten wären den kommunistischen Aufstandsvorbereitungen letztlich entgegengekommen, hätte doch sowohl eine Verschlechterung der Lage als auch ein faschistischer Putschversuch sehr wahrscheinlich die Massenbasis der Kommunisten verbreitert und möglicherweise zu spontanen Aktionen der notleidenden Bevölkerung geführt, die dann zu unterstützen und gegebenenfalls zu kanalisieren bzw. zu steuern gewesen wären.

Von der Komintern gesteuert?

Zur Straffung der Aufstandsvorbereitungen beschloss das Polbüro der KPD am 28. August 1923 die Schaffung eines "mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten" zentralen Revolutionskomitees (REVKOM). Damit nahm es den Ausbau des bereits im Februar beschlossenen, aber bisher eher nur formal existierenden illegalen Apparats in Angriff. An der Spitze des REVKOM stand der Revolutionäre Kriegsrat, dem Brandler und August Kleine-Guralski - die die politische Führung des illegalen Apparats durch das Polbüro garantierten - sowie der militärische Leiter (M-Leiter) bei der Zentrale der KPD angehörten. Dieser M-Leiter war wahrscheinlich der sowjetische Generalmajor Pjotr (Alexis) Skoblewski. Neben dem Revolutionären Kriegsrat gehörten dem REVKOM (mit größter Wahrscheinlichkeit) noch folgende Mitglieder der Zentrale der KPD an: Iwan Katz, Fritz Heckert, der Anfang Oktober durch Erich Melcher ersetzt wurde, Felix Wolff, Wilhelm Pieck, Hugo Eberlein und Walter Ulbricht.

Ebenfalls im August 1923 beschloss das Politbüro der RKP(B) die Bereitstellung erheblicher finanzieller und militärischer Mittel für die Durchführung der Revolution in Deutschland und benannte zur Ausarbeitung der damit im Zusammenhang stehenden Fragen eine Kommission, der mit Grigorij J. Sinowjew (Leiter), Feliks E. Dzierzynski, Lew B. Kamenew, Grigorij L. Pjatakow, Karl B. Radek, Grigorij J. Sokolnikow, Jossif W. Stalin, Lew D. Trotzki und Georgij W. Tschitscherin die namhaftesten sowjetrussischen Partei- und Staatsführer angehörten.[4] Auf einer gemeinsamen Beratung mit Vertretern der Zentrale der KPD in Moskau legte das EKKI schließlich Anfang Oktober - auf Vorschlag von Trotzki - fest, alle Aufstandsplanungen auf den 9. November 1923 (den symbolträchtigen 5. Jahrestag der Ausrufung der ersten sozialistischen deutschen Republik) auszurichten. Damit wurde der Aufstandstermin - wenn auch lediglich zur Orientierung - gegenüber den Planungen der KPD-Führung um mindestens zwei Monate vorverlegt, womit Anfang Oktober von den ursprünglich vorgesehenen drei Monaten Vorbereitungszeit noch ganze vier bis fünf Wochen übrig blieben. Hier ist jedoch - im Gegensatz beispielsweise zu Otto Wenzel, der nachzuweisen versucht, die Vorbereitungen auf den "deutschen Oktober" hätten in den Händen der sowjetischen Führer gelegen und die KPD-Führer wären deren bloße Befehlsempfänger gewesen[5] - zu betonen, dass alle Maßnahmen zur Vorbereitung des Aufstands von den deutschen Kommunisten selbst getroffen wurden. Deren Einheitsfrontpolitik ermöglichte überhaupt erst ein ernsthaftes Nachdenken über Revolutionsvorbereitungen. Dass sich die KPD-Führung in den konkreten militärischen Planungen am politischen Urteil und an den Erfahrungen der russischen Parteiführer orientierte und die Unterstützung durch russische Militärexperten gern in Anspruch nahm, ja, einforderte, liegt auf der Hand. Die im August und September von russischer Seite erfolgten Interventionen waren lediglich der Angst geschuldet, die deutschen Kommunisten könnten mit ihrem Beharren auf ihrer langfristigen Planung eine günstige Situation verpassen. Dementsprechend schlugen sie in Verkennung der Situation, die auch die deutschen Parteiführer als günstig für einen Aufstand deuteten, letztlich nicht realisierbare Sofortmaßnahmen vor.

Die Aufstandsvorbereitungen wurden nunmehr forciert. Aber noch Ende Oktober 1923 musste der militärische Leiter in einem Bericht an die Zentrale der KPD feststellen: Zwar seien alle vom Revolutionären Kriegsrat gestellten Aufgaben erfüllt - "außer dem wichtigsten - der Bewaffnung". "Es fehlen noch Waffen für den Anfangskampf". Mit 11.075 Gewehren, 141 MG, 130 MP, 1.811 Revolvern und 1.131 Handgranaten verfügte die KPD am 21. Oktober 1923 nicht annähernd über den geplanten Bestand an Waffen, der aus militärischer Sicht 3/4 des Erfolges gesichert hätte.[6]

Reichsexekution gegen die SPD / KPD-Landesregierung in Sachsen

Sämtliche Terminplanungen wurden jedoch über den Haufen geworfen, als im Morgengrauen des 20. Oktober 1923 die Reichswehr mit mehr als 60.000 Soldaten begann, Sachsen zu besetzen. Diese größte Aktion der deutschen Streitkräfte nach Ende des Krieges kam zumindest für die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung völlig überraschend. Durchaus nicht überraschend kam sie jedoch für die politischen Kreise der Weimarer Republik. War bereits die von Dr. Erich Zeigner im Frühjahr 1923 aus linken Sozialdemokraten gebildete und von den Kommunisten tolerierte Minderheitsregierung in Sachsen der Reichsregierung und insbesondere der Reichswehrführung ein Dorn im Auge, so legten diese ihre Zurückhaltung vollends ab, als Zeigner am 12. Oktober nach langwierigen Verhandlungen mit der KPD drei führende Kommunisten in sein Landeskabinett berief: Den Politischen Leiter der KPD Westsachsens und Vorsitzenden der kommunistischen Landtagsfraktion Paul Böttcher als Finanzminister, den Gewerkschaftspolitiker Fritz Heckert als Wirtschaftsminister sowie den Vorsitzenden der KPD Heinrich Brandler als Leiter der Staatskanzlei. Auch in Thüringen berief der sozialdemokratische Ministerpräsident August Frölich am 16. Oktober drei Kommunisten in die sozialdemokratische Regierung - den Jenaer Professor Karl Korsch als Justizminister, den Weimarer Kreisschulrat Albin Tenner als Wirtschaftsminister sowie den Weimarer Studienrat Dr. Theodor Neubauer als Staatsrat.

Die Kommunisten wollten ihre Regierungsbeteiligung dazu nutzen, die bereits zuvor geschaffenen Einheitsfrontorgane (Betriebsräte, Kontrollausschüsse, Proletarische Hundertschaften und Aktionsausschüsse) zu außerparlamentarischen Machtfaktoren auszubauen. Die sozialdemokratisch-kommunistischen Koalitionsregierungen sollten auf diesem Wege zu wirklichen Arbeiterregierungen weiterentwickelt werden, die sich nicht mehr nur auf eine parlamentarische Mehrheit, sondern auch auf eine außerparlamentarische Massenbewegung gestützt hätten. Insbesondere sollten die proletarischen Kampfverbände - die Proletarischen Hundertschaften - aus den Beständen der Landespolizei bewaffnet und mit Hilfspolizeifunktionen ausgestattet werden. Die Ausrufung eines Generalstreiks in Sachsen und Thüringen sollte die Massen weiter mobilisieren und, über reichsweit durchgeführte regionale und Landeskongresse vorbereitet, sollte schließlich ein Reichsbetriebsrätekongress den bewaffneten Aufstand proklamieren. Der bewaffnete Kampf sollte dann von Sachsen und Thüringen aus auf alle anderen Teile Deutschlands, insbesondere auf die wirtschaftlichen und politischen Zentren, übergreifen und schließlich in Berlin entschieden werden. Den Nordbezirken kam dabei die Aufgabe zu, Kämpfe mit dem Ziel zu beginnen, Teile der Reichswehr zu binden. Hamburg kam in der Gesamtplanung also lediglich eine Nebenrolle zu: Ein dortiger Aufstand war lediglich ein Ablenkungsmanöver, keinesfalls sollte er das Signal für den allgemeinen Aufstand sein.

Doch die gegnerischen Kräfte handelten schneller und die Reichswehrführung übernahm nur zu gerne die Aufgabe, für die Reichsregierung die Reichsexekution gegen die widerspenstigen Landesregierungen durchzuführen. Bereits am Tag des Regierungseintritts der Kommunisten in Sachsen verbot der Befehlshaber der Reichswehrtruppen in Sachsen, Generalleutnant Alfred Müller, die Proletarischen Hundertschaften und alle ähnlichen Verbände und vier Tage später teilte er der Landesregierung mit, er habe mit sofortiger Wirkung die sächsische Landespolizei direkt der Reichswehr unterstellt. Am Tage der Reichswehrbesetzung ließ er Zeigner wissen, er sei von der Reichsregierung beauftragt, in Sachsen mit den ihm "zur Verfügung stehenden und zur Verstärkung der zur Verfügung gestellten Machtmitteln verfassungsmäßige und geordnete Verhältnisse wieder herzustellen und aufrechtzuerhalten".[7]

Chemnitzer Arbeiterkonferenz und Generalstreikforderung

Am 20. Oktober beschloss die Zentrale der KPD auf einer eiligst einberufenen Sitzung, dass die nächstmögliche Gelegenheit für die Proklamation des Widerstandes gegen die Reichswehrbesetzung genutzt werden müsse. Der unter den gegebenen Umständen glücklich zu nennende Zufall wollte es, dass am folgenden Tag in Chemnitz eine schon seit mehreren Tagen von der Landesregierung einberufene Arbeiterkonferenz stattfand, auf der die Minister Georg Graupe (SPD), Fritz Heckert und Paul Böttcher (beide KPD) mit den Delegierten verschiedener Arbeiterorganisationen die wirtschaftliche und soziale Situation in Sachsen beraten wollten. Die Zentrale beschloss, die Stimmung auf der Konferenz zu sondieren und im Falle eines günstigen Ergebnisses die Ausrufung eines Generalstreiks gegen die Reichswehrbesetzung zu beantragen, der das Signal für den Beginn des Aufstandes sein sollte. Die KPD hatte nun plötzlich nur noch knapp 24 Stunden Zeit zur Vorbereitung eines Aufstands.

Als in der den Referaten der drei Minister folgenden Aussprache über die politische Situation in Sachsen nach Reichsexekutive und Reichswehreinmarsch auch einige Redner die Ausrufung des Generalstreiks forderten, schien Brandler die Stimmung günstig. Er verlangte eine sofortige Abstimmung über diese Forderung, wobei er den Generalstreik als "Gebot der Selbstverteidigung" bezeichnete. Brandler setzte damit den tags zuvor gefassten Beschluss nur halbherzig um. Zwar forderte er den Generalstreik, doch wäre es ihm mit der Unterstreichung des defensiven Charakters des Generalstreiks schwer gefallen, auch zum bewaffneten Aufstand aufzurufen. Das anschließende eisige Schweigen wurde durch die kurze und bündige Antwort Graupes, die sozialdemokratischen Teilnehmer würden die Konferenz sofort verlassen, wenn die KPD auf ihrem Antrag beharre, beendet. Die anwesenden Kommunisten fügten sich nach einiger Diskussion dieser Entscheidung. Dieses von Thalheimer als "Begräbnis dritter Klasse"[8] bezeichnete Ergebnis zeigt einerseits, dass sich insbesondere die sozialdemokratischen und Gewerkschaftsdelegierten nicht ohne vorherige gründliche Prüfung der Umstände in ein kommunistisches Abenteuer hineinziehen lassen wollten, andererseits aber auch, dass Brandlers KPD-Führung zu einem Kampf ohne die SPD nicht bereit war.

In Sachsen blieb es während der Reichswehrbesetzung weitgehend ruhig, lediglich in einzelnen Städten gab es Widerstandsaktionen, die spontan ausbrachen und vor allem durch das brutale Vorgehen einzelner Reichswehreinheiten oder auch nur einzelner Reichswehrangehöriger provoziert wurden. Am 30. Oktober legte Zeigner, dessen Regierung jeglichen Einfluss auf das Geschehen und sämtliche exekutive Gewalt an die Reichswehr verloren hatte, schließlich auf massiven Druck von Reichskanzler Gustav Stresemann hin sein Amt nieder.

Legendenbildung und ihre Folgen

Vom Scheitern eines vorbereiteten Aufstands im Oktober 1923 kann also keine Rede sein. Es gab keinen Aufstand, es existierten noch nicht einmal wirkliche Vorbereitungen dazu. Die KPD scheiterte - abgesehen von der Frage, ob ein bewaffneter Aufstand 1923 in Deutschland überhaupt durchführbar war - konkret auch an der Unmöglichkeit, den Aufstand willkürlich zu beschleunigen. Das resultierte jedoch nur bedingt aus der eigenen Schwäche, sondern offenbarte lediglich die Fehlinterpretation der Gesamtsituation. Der Kapitalismus war nicht in die von den Kommunisten angenommene "Endkrise" eingetreten. Letztlich zerbrach die Aufstandsplanung der KPD daran, dass die Mehrheit der Arbeiterschaft nicht bereit war, für eine vage Hoffnung auf ein besseres Morgen das Heute - und sei es noch so unvollkommen - aufs Spiel zu setzen. Die Massen mochten mit den Auffassungen und der Politik der KPD sympathisieren, und dass sie es in dieser Zeit verstärkt taten, beweisen die Wahlergebnisse und die zahlreichen Arbeitskämpfe. Das reichte aber noch lange nicht aus, um ihre angestammte Passivität in Aktivität zu verwandeln und sie zum Wagnis eines bewaffneten Aufstands zu motivieren. Es gab keine Aktion, die den Namen "deutscher Oktober" auch nur annähernd verdient. Was ihn zum - wenn auch nicht stattgefundenen - Ereignis macht, sind seine Vorbereitung und die in ihn gesetzten Hoffnungen eines Teils der deutschen und internationalen Arbeiterschaft, insbesondere aber die Nachhaltigkeit seiner Nachbereitung, in der sich die Auffassung manifestiert, alle Bedingungen seien im Herbst 1923 reif für die Revolution gewesen, und nur die mangelnden Fähigkeiten der Parteiführung um Brandler und der Verrat der Sozialdemokraten habe sie verhindert.

Da mit dem Ausbleiben der deutschen Revolution die Hoffnungen auf einen schnellen Fortgang der Weltrevolution zerstoben waren, standen auch die russischen Kommunisten vor der Frage der Neuorientierung ihrer Politik. Diese internationale Dimension der Ereignisse trat nach dem Ableben Lenins in den Kämpfen um seine Nachfolge dramatisch zu Tage. Neben anderen Faktoren verhalf vor allem das Ausbleiben der Weltrevolution Stalin dazu, sich - zunächst gemeinsam mit Kamenew, Sinowjew und Nikolai Bucharin - gegen Trotzki durchzusetzen. Sein Konzept des "Aufbaus des Sozialismus in einem Lande" setzte sich gegen das der "permanenten Revolution" von Trotzki durch. Die KI, und mit ihr die KPD, mutierte in der Folge vom Organisator der nicht stattfindenden Weltrevolution zum Werkzeug sowjetischer Außenpolitik. Und so urteilte der Trotzki- und Stalin-Biograph Isaac Deutscher: "Der Zusammenbruch des deutschen Kommunismus im Jahr 1923 war der entscheidende Wendepunkt. Jetzt kristallisierten sich die Ideen, die wir als Stalinismus verstehen müssen."[9]

Literatur
Angress, Werner T.: Die Kampfzeit der KPD. 1921-1923, Düsseldorf 1973.
Becker, Jens: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001.
Kinner, Klaus: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Bd.1 Die Weimarer Zeit, Berlin 1999.
Rudolph, Karsten: Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik, Weimar/Köln/Wien 1995.
Schumann, Dirk: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001.
Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Bonn 1983.

Harald Jentsch (Karben) promoviert zur Zeit mit einer Arbeit zum Thema "Die KPD und der 'deutsche Oktober' 1923 - Ein Beitrag zur politischen Soziologie" an der TU Darmstadt.


Anmerkungen:

[1] Neben der umfangreichen Literatur zum Thema basiert dieser Artikel insbesondere auf intensiven Materialstudien in folgenden Archiven: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, Zentrales Parteiarchiv der SED, Historisches Archiv der KPD (SAPMO/BArch); Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Dresden (SäHStA); Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und zum Studium der Dokumente der neuesten Geschichte, Moskau (RCChIDNI).
[2] H. Brandler, Berlin, an C. Zetkin u. E. Hoernle, Moskau, 27.10.1923, in: SAPMO/BArch, I 2/3/203.
[3] Der militärische Leiter bei der Zentrale der KPD, Berlin, 26. Oktober 1923, in: SAPMO/BArch, I 6/10/78.
[4] Beschluß des Politbüros des ZK der RKP(B) "Über die internationale Lage" vom 22. August 1923. Abschrift aus dem Protokoll Nr. 27 der Sitzung des Politbüros des ZK vom 22.VIII.1923 "Über die internationale Lage", in: "Die Revolution in Deutschland wird auf den 9. November festgelegt.", Istocnik, Moskau, Nr. 5/1995, Dok. Nr. 4.
[5] Otto Wenzel, Der geplante "Deutsche Oktober" im Herbst 1923. Die Niederlage der kommunistischen Weltrevolution in Deutschland - Vorgeschichte und Verlauf des von der Komintern geplanten Aufstandes, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Berlin, Nr. 10/2001, S. 3-36.
[6] Vgl. Der militärische Leiter bei der Z[entrale] der KPD, Bericht Nr. 3 über die militärorganisatorische Arbeit in Deutschland vom 28. Juli bis 27. Oktober 1923, Berlin, den 27. Oktober 1923, in: SAPMO/BArch, I 6/10/78.
[7] A. Müller, Generalleutnant, an E. Zeigner, Ministerpräsident, 20. Oktober 1923, in: Walter Fabian, Klassenkampf um Sachsen. Ein Stück Geschichte 1918-1930, [Löbau 1930] Berlin 1972 (Nachdruck), S. 172.
[8] August Thalheimer, 1923: Eine verpaßte Revolution? Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923, Berlin 1931, S. 26.
[9] Isaac Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie, Berlin 1990 [1967], S. 504.

aus: Sozialismus Heft Nr. 10 (Oktober 2003), 30. Jahrgang, Heft 270