NATO-Dämmerung

Das transatlantische Bündnis vor dem Aus?

Jüngst lamentierte Josef Joffe, Mitherausgeber der renommierten Wochenzeitung DIE ZEIT, angesichts des Zustandes fortschreitender Zerrüttung, den eines der dauerhaftesten und ...

... erfolgreichsten Militärbündnisse der Geschichte augenblicklich aufweist, über das sich abzeichnende "Ende einer wunderbaren Freundschaft." Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dem in den USA gedrillten Anhänger der sogenannten "Realistischen Schule" der Internationalen Politik, der sich gewöhnlich als eloquenter Fürsprecher US-amerikanischer Hegemonialinteressen - gewissermaßen als Quisling im journalistischem Gewande - geriert, das berühmte Diktum seines Ziehvaters Henry Kissinger entfallen scheint, der in der ihm eigentümlichen Prägnanz einst formuliert hatte, Staaten hätten keine Freunde, sondern Interessen. Wie immer man auch über den Zeitgenossen Kissinger urteilen mag, sein Axiom jedenfalls markiert den Dreh- und Angelpunkt jener Krise, in der die NATO sich derzeit befindet. Denn seit die sedative Wirkung des Ost-West-Konfliktes weggefallen ist, prallen die divergierenden Interessen der Amerikaner und Europäer immer härter und immer unverhohlener aufeinander.
Worin aber bestehen die Interessengegensätze, wie sie beispielsweise im Verlaufe der "Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik" Anfang Februar dieses Jahres zutage traten? Im Kern geht es um nichts geringeres als die Frage, ob das "Alte Europa", wie US-Kriegsminister Donald Rumsfeld höhnt, angesichts der hegemonialen Attitüden, ja der imperialen Arroganz der militärischen "Hypermacht" USA unter einer globalen "Pax Americana" zu leben gewillt ist - ähnlich wie es die alten Griechen im Imperium Romanum ertragen mussten.
Für Frankreich mit seiner Tradition der "Grande Nation" war das seit jeher ein unerträglicher Gedanke, der mit dafür ausschlaggebend war, dass Staatspräsident General de Gaulle im Jahre 1966 den kühnen Entschluss fasste, sein Land aus der militärischen Integration des Bündnisses herauszulösen, um solchermaßen wenigstens ein Mindestmaß an Souveränität gegenüber dem amerikanischen Hegemon zu wahren, während sich der Rest (West-)Europas in mehr oder weniger ausgeprägter Gefolgschaft für weitere Jahrzehnte dem amerikanischen Vormachtsanspruch ergab. Mit beißendem Spott titulierte Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, deshalb die NATO-Verbündeten als "Vasallen und Tributpflichtige im amerikanischen Protektorat West- und Mitteleuropa."
Ungeachtet solcher Impertinenz übte das Atlantische Bündnis nach dem Kolossalverbrechen des 11.9. uneingeschränkte Solidarität mit der angegriffenen NATO-Führungsmacht, indem es am 4. Oktober 2001 zum ersten Mal in seiner Geschichte den Bündnisfall nach Artikel V des NATO-Vertrages verkündete. Zugleich schien es hiermit zunächst seine Unentbehrlichkeit eindrucksvoll demonstriert zu haben. Doch weit gefehlt: Nachdem im Bündnis die politische Legitimationsgrundlage für den Anti-Terror-Krieg der USA formuliert worden war, erschöpfte sich dessen praktische Unterstützung für die amerikanischen Kriegführung gegen Afghanistan in der Entsendung einer Handvoll AWACS-Flugzeuge zur Luftraumüberwachung in die USA. Diese sogenannte "Operation Eagle Assist" diente der vorübergehenden Entlastung von US-Kräften und endete bereits nach wenigen Monaten am 16. Mai 2002.
Nicht die NATO also führte den Krieg gegen den Terror, sondern die USA bestimmten autonom Kriegsziele und Kriegführung. Allenfalls ließen sie sich durch den ein oder anderen NATO-Verbündeten unterstützen, der sich in einer Koalition unter strikt amerikanischer Führung einfand, die, wie der amerikanische Kriegsminister Donald Rumsfeld unmissverständlich formulierte, durch die Mission bestimmt wurde und nicht umgekehrt. Wobei die Definition dessen, was die Mission ausmachte, selbstredend der autonomen Entscheidung der amerikanischen Hegemonialmacht oblag. Statt Einfluss und Mitsprache hatten die europäischen Ver bündeten für ihre Bekundung "uneingeschränkter Solidarität" gerade mal ein höfliches Dankeschön erhalten. Schon im Verlauf der letztjährigen "Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik" wurde dann offenbar, dass die NATO aus amerikanischer Sicht ihre Schuldigkeit während des Kalten Krieges und der anschließenden turbulenten Post Cold War Period getan hatte und sich in ihrer traditionellen Funktion als kollektives Verteidigungsbündnis mehr und mehr als überflüssig erwies. Demzufolge sieht sich die NATO, stets als unverzichtbares Fundament der transatlantischen Beziehungen begriffen, mittlerweile einem geradezu dramatischen Wandel und zugleich Bedeutungsverlust ausgesetzt.
Denn die USA stehen im Begriff, ihre globale Dominanz auf Dauer festzuschreiben. Dazu gehört die Option, überall und jederzeit intervenieren zu können und dies allein, unbehindert von kleinmütigen Alliierten, langatmigen Konsultationen und komplizierten Konsensprozeduren. Aus Sicht der USA schwächt das Atlantische Bündnis nämlich eher die eigene Handlungsfreiheit - A und O der geostrategischen Konzeption des gegenwärtigen außenpolitischen Establishments der Vereinigten Staaten. Als präferabel erscheint danach allenfalls eine NATO, die sich auf eine strategische Arbeitsteilung verpflichten ließe, gemäß der die USA Ort und Zeitpunkt einer Militäraktion bestimmen, eine "Coalition of the Willings" zusammen schirren und den Krieg führen, wobei die Bündnispartner nur jene Beiträge leisten, die sich die USA von Fall zu Fall erbitten. Im übrigen soll Europa hinterher die Aufräum- und Wiederaufbauarbeit leisten - und letzteres zusammen mit den Kriegskosten gefälligst auch noch finanzieren. Immer mehr verfestigt sich dadurch eine transatlantische Arbeitsteilung im Bündnis, bei der Amerika in aller Welt gegen seine Feinde loszieht und die Europäer zum Aufräumen, Patrouillieren und Wacheschieben nachholt.
Mit einem derartigen Kalkül korrespondiert die veränderte Haltung, welche die USA zu der während des Prager Gipfeltreffens im November letzten Jahres beschlossenen zweiten Erweiterungsrunde der NATO einnahmen. Während nämlich noch im Verlauf der ersten Osterweiterung unter US-Präsident Clintons Ägide die Zahl der Neumitglieder gering gehalten worden war, da die USA sich um die militärische Effektivität des Bündnisses gesorgt hatten, verfolgte die gegenwärtige amerikanische Administration diesbezüglich eine konträre Politik. Ihrer Auffassung nach kommt nämlich der militärischen Effektivität eines traditionellen kollektiven Verteidigungsbündnisses in Anbetracht der neuartigen Risikoszenarien eher nachrangige Bedeutung zu. Viel interessanter ist daher inzwischen für die USA die Nutzung der NATO als politischer Institution, in die in jeweils aktuell zu formierenden Ad-hoc-Koalitionen unter amerikanischer Führung möglichst viele potentielle Gehilfen - bis hin zum Antagonisten während des Kalten Krieges, Russland - im Kampf gegen den Terror oder gegen die jeweils aktuellen "Schurkenstaaten" eingebunden werden können. Darüber hinaus bietet eine derartige Organisation vielfältige, flexibel gestaltbare Kooperationsmöglichkeiten, die vom geheimdienstlichen Informationsaustausch über die Unterbindung illegaler Finanztransaktionen bis hin zur logistischen Unterstützung und ähnlichem mehr reichen. Von nicht zu unterschätzender Attraktivität ist für die atlantische Führungsmacht zudem die Option, die von Fall zu Fall recht disparaten Interessenlagen der europäischen Verbündeten nach dem Motto "divide et impera" rücksichtslos zur Durchsetzung eigener Interessen gegeneinander auszuspielen.
Die jüngste Bündniskrise, als die Bush-Administration ihre NATO-Alliierten über den Hebel angeblicher Bündnisverpflichtungen gegenüber der Türkei dazu nötigte, sich an der Vorbereitung eines offenkundig völkerrechtswidrigen Präventivkriegs gegen den Irak zum Zwecke eines gewaltsamen Regimewechsels zu beteiligen, demonstrierte diese Handlungsstrategie der USA recht eindrücklich. Im Kontext der von US-Präsident Bush verkündeten Nationalen Sicherheitsstrategie präemptiver Kriegführung, die wenig bis keine Akzeptanz in der übrigen Staatengemeinschaft findet, und in Anbetracht des hartnäckigen Widerstandes sowohl der Mehrheit der Mitglieder im UN-Sicherheitsrat als auch der allermeisten Regierungen weltweit und darüber hinaus auch der großen Mehrheit der Weltbevölkerung gegen diesen Krieg der USA veranlasste die amerikanische Dreistigkeit, den Bündnisfall für den Fall eines von ihnen selbst provozierten Gegenangriffs zu reklamieren - was einen unübersehbaren Missbrauch der raison d`être der NATO als eines kollektiven Verteidigungsbündnisses für die strategische Abschirmung eines Angriffskrieges impliziert - Frankreich, Deutschland und Belgien, offen die Machtfrage im Bündnis aufzuwerfen. Nicht zuletzt ging es bei dieser Auseinandersetzung aber auch um Fragen von prinzipieller Bedeutung, nämlich: ob zum einen innerhalb des Bündnisses selbst zukünftig das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts gelten solle. Und darüber hinaus zum anderen: in den Dienst welches der beiden vorgenannten Prinzipien sich die NATO fortan stellen solle. Das vorliegende Ergebnis der Konfrontation bietet zum Optimismus keinen Anlass: Mit mehrheitlicher Zustimmung ist es der amerikanischen Hegemonialmacht gelungen, die NATO zu ihrer operativen Handlungsreserve und deren Mitglieder zu kontributionspflichtigen Vasallen zu degradieren.
Unausweichlich resultiert aus dieser Hybris imperialer Machtentfaltung der USA für Europa die Erkenntnis, dass es nur dann eine Zukunft hat, wenn es sich auf sich selbst besinnt. Ein symbolkräftiger erster Schritt in diese Zukunft könnte darin bestehen, dass Deutschland im Zeichen der neuen deutsch-französisch-russischen Entente dem Vorbild Frankreichs aus dem Jahre 1966 folgt und sich aus der militärischen Integration der NATO zurückzieht. Nach jahrzehntelanger uneingeschränkter "Luftherrschaft" der "Atlantiker" auf dem Feld der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist die Zeit reif für eine "gaullistische" Wende der Berliner Republik!

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönliche Auffassung
E-Mail: j-rose@t-online.de

aus: Wissenschaft und Frieden 02/2003