Flankenschutz?

Seit dem 11.9. gibt es in D immer mehr Raster- und Schleppnetzfahndung, Schleierfahndungen sowie eine ungeahnte Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten, bis zu elektronischen Wanzen in Wohnungen

Anfang des Monats wurde ich hellhörig. Über Stunden wurde mir vom Hörfunk in Abständen von dreißig Minuten ins Ohr getrommelt, im Umgang mit Payback, Kreditkarten und weiteren Hightech-Annehmlichkeiten wachsam zu sein. Die Warnung war nicht vorschnell zu ignorieren, kam sie doch von der Justizministerin höchstpersönlich. Leichtsinniger Umgang mit persönlichen Daten könnte von der Wirtschaft zu Lasten der Verbraucher mißbraucht werden.
Derart sensibilisiert, war ich schon im Begriff, an Frau Zypries ein Dankesschreiben zu entwerfen. Dann fragte ich mich aber: Warum höre ich von ihr kein öffentliches Wort über die Durchlöcherung des Datenschutzes durch den Staat und seine zahlreichen damit befaßten Institutionen? Nicht sehr lange nach dem Terroranschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Centre wurden von der rosarot-grünen Koalition Sicherheitsgesetze verabschiedet, die den Datenschutz durchlöcherten wie einen Schweizer Käse. Seitdem gibt es Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige Schleierfahndungen sowie eine ungeahnte Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten, bis zu elektronischen Wanzen in Wohnungen.
Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Journalist in Bremen, bekannter Experte in diesem Metier, hat jetzt in einer Publikation aufgelistet, was sich seit dem 11. September 2002 verändert hat. Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst dürfen von Banken, Post, Telekommunikationsanbietern und auch Fluglinien Auskünfte über Geldanlagen, Konten, Reisebewegungen oder über Telefon-Verbindungs- und Nutzungsdaten ihrer Kunden verlangen. Wie ungehemmt davon Gebrauch gemacht wird, hat ein Max-Planck-Institut in Niedersachsen untersucht. Danach ist in Deutschland das Risiko, Opfer einer behördlichen Telefonüberwachung zu werden, bereits heute vierzigmal größer als in den USA. Zwischen 2001 und 2002 stieg die Zahl genehmigter Telefonüberwachungen von 9000 auf 22 000.
Gössner belegt, daß die Polizeigesetze in etlichen Bundesländern so verändert wurden, daß "das polizeiliche Abhören von Telefonen, Handys, das Mitlesen von Faxen, SMS und E-Mails, ohne daß eine Straftat oder ein konkreter Verdacht vorliegen, möglich ist."
Mithin ist nur folgerichtig, daß Innenminister Schily, ein "Law und Order"-Mann par excellence, die Gunst der Stunde auch weiter nutzen will. Bei einem Treffen mit seinem US-amerikanischen Kollegen Tom Ridge, verantwortlich für Innere Sicherheit in den Staaten, Anfang November in Berlin, sprachen sich beide zwecks Terrorbekämpfung für einheitliche Standards bei Grenzkontrollen aus. Dazu gehören gemeinsame Regelungen in der EU und den USA bei der Aufnahme biometrischer Daten in Visa und Ausweise. Darunter fallen unter anderem Fingerabdrücke und Gesichtsmerkmale.
Über diesen, keineswegs vollständigen, Katalog von Eingriffen in den Datenschutz des Bürgers schweigt sich Frau Zypries aus. Mithin kann ich ihre Warnung an die Verbraucher, beim Gang in den Supermarkt doch bitte ganz vorsichtig zu sein, nicht ernstnehmen. Statt vorgetäuschter Vorsorge für den "aufgeklärten Verbraucher" vermute ich ein Ablenkungsmanöver. Die vorweihnachtliche Zeit schien der Justizministerin wohl ein guter Anlaß zu sein, ihrem Parteifreund Schily bei der weiteren Zerfledderung von im Grundgesetz verankerten Grundrechten Flankenschutz zu gewähren.

in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 24. November 2003, Heft 24