Sozialstaat auf Talfahrt

Über die Neuordnung des Fürsorgesystems

Im Windschatten der großen Arbeitsmarktreformen, die unter dem Namen "Hartz" bekannt wurden, macht sich die Bundesregierung an ein Projekt, das schon lange geplant ist. ...

... Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde im August 2003 ein mit heißer Nadel gestrickter Entwurf für die Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes in den Bundestag eingebracht. Dabei wurde nicht nur die Chance vertan, altbekannte Defizite im Sozialhilferecht auszuräumen. Vielmehr sind neue Zumutungen hinzugekommen, die das System der sozialen Sicherung insgesamt infrage stellen und soziale Mindeststandards unterlaufen. Im Gegensatz zum Entwurf für das vierte "Hartz-Gesetz" (E-SGB II), in dem die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für erwerbsfähige Leistungsberechtigte geregelt werden soll, deutet alles darauf hin, dass die Opposition bei der Sozialhilfereform keine großen Schwierigkeiten machen wird und das Gesetz ohne großes Aufsehen durch beide Kammern gewunken werden kann. Während bei der neuen Fürsorgeleistung Arbeitslosengeld II für Erwerbslose und "working poor" zwischen Bund, Ländern und Kommunen/Landkreisen um die Verteilung von sehr viel Geld und Kompetenzen gestritten wird, geht es bei der Novellierung des untersten Netzes der sozialen Sicherung "nur" um Prinzipien. Doch über diese Prinzipien manifestiert sich nichts Geringeres als das verfassungsrechtlich verankerte Sozialstaatsprinzip und die Qualität sozialer Grundrechte. Im Kontext des gesamten Reformprojektes 2010 betrachtet, das von der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Gesundheits- über die Steuerpolitik fast alle wichtigen gesellschaftlichen Bereiche tangiert und unter dem Verdikt ökonomischer Sachzwänge eine groß angelegte Umverteilung von unten nach oben forciert, war auch bei der Reform der Sozialhilfe nichts Gutes zu erwarten. Dabei gibt es im Sozialhilferecht durchaus Verbesserungsbedarf. Das trifft sowohl auf die Ausgestaltung der Leistungen als auch auf die unwürdige, oft willkürliche Gewährungspraxis der Behörden zu, die von den Betroffenen vielerorts beklagt wird. Es klafft eine große Lücke zwischen dem gesetzlichen Anspruch und der Realität, die vom Gesetzgeber mit Hilfe von klaren und verbindlichen Regelungen geschlossen werden könnte - wenn er nur wollte. In seiner Substanz, bestehend aus den Strukturprinzipien der Sozialhilfe und der gesetzlichen Ausgestaltung der Fürsorgeleistung, ist das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1962 durchaus erhaltenswert. In Folgenden soll zunächst auf die gesetzlichen Grundlagen der bisherigen Sozialhilfe eingegangen und vorhandener Reformbedarf anhand einiger Beispiele aus der Praxis deutlich gemacht werden. Dann werden die sich abzeichnenden Verschlechterungen im novellierten Sozialhilferecht nach dem Entwurf des Sozialgesetzbuches XII (E-SGB XII) und bei der neuen Leistung Arbeitslosengeld II (ALG II) sowie die Folgen für Leistungsberechtigte dargelegt.

Anspruch und Wirklichkeit

Die Sozialhilfe ist als unterstes Netz sozialer Sicherung angelegt, das als nachrangige Leistung individuelle Notlagen absichern soll, wenn kein Einkommen vorhanden ist, das den Bedarf zum Leben deckt. Das ist auch dann der Fall, wenn keine ausreichenden Ansprüche auf Leistungen der Sozialversicherung oder z.B. Unterhaltsansprüche gegenüber Dritten bestehen. In ihrer Funktion der nachrangigen Existenzsicherung setzt die Sozialhilfe demnach soziale Mindeststandards, die nicht nur in die anderen Sozialleistungen hineinwirken, sondern auch zunehmend zur Existenzsicherung von Erwerbstätigen mit Niedrigeinkommen in Form von ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) herhalten muss. Hier übernimmt die Sozialhilfe faktisch die Funktion eines Mindestlohns. Das Gesetz definiert die Aufgabe der Sozialhilfe, den Bezieher/innen ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (§1 Abs.2 Satz 1 BSHG). Hierzu gehören zum einen die Sicherung des Lebensunterhalts durch den Sozialhilfeträger und zum anderen die persönliche Hilfe in Form sozialer Dienstleistungen, "wenn eine menschenwürdige Lebensführung durch das Verhalten oder die Person der/des Leistungsberechtigten gefährdet ist."1 Dieser Leitgedanke des BSHG, der durch Art.1 Abs.1 Grundgesetz verfassungsrechtlich abgesichert ist, umfasst mehr als nur die Absicherung der physischen Existenz: er begründet einen Anspruch auf ein soziokulturelles Existenzminimum, das gewährleisten soll, dass Sozialhilfebeziehende in der Umgebung von nicht leistungsbeziehenden Mitmenschen ähnlich wie diese leben können.2 Neben der Unantastbarkeit der Würde des Menschen enthält das Grundgesetz noch einen weiteren Artikel, der bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherung nicht außer Acht gelassen werden kann: Gemäß Art.20 Abs.1 GG ist die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit als tragendes Verfassungsprinzip ist jedoch nicht näher konkretisiert worden, z.B. in Form sozialer Grundrechte. Er unterliegt damit der Auslegung des Gesetzgebers.3 Die im heutigen BSHG verankerten Strukturprinzipien der Sozialhilfe bilden den gesetzlichen Rahmen für die Ausgestaltung der Hilfeleistung unter Erhalt der Menschenwürde. Danach wird die Hilfeberechtigung durch eine gegenwärtige Notlage ausgelöst (Gegenwärtigkeitsprinzip), sie wird gewährt unter Berücksichtigung der individuellen Situation des/der Hilfesuchenden (Individualisierungsprinzip), infolge der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit nach der "tatsächlichen Lage" (Faktizitätsprinzip) und sie orientiert sich am Bedarfsdeckungsprinzip.4 Was am Ende einer durch Verwaltungsverfahren, Kostenerwägungen und Machtausübung bestimmten Gewährungspraxis von diesen hehren Zielen übrig bleibt, das ist die eine Seite der Medaille. Aber immerhin besteht noch die Möglichkeit die o.a. Ansprüche vor Gericht einzuklagen.5 Die andere Seite der Medaille ist die sich abzeichnende Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen an niedrigere Rechtsstandards, die in der Praxis bereits zum Alltag gehören. Es besteht die Gefahr, dass sich nach den so genannten Reformen aus den bisherigen Grundsätzen keine Rechtsansprüche mehr ableiten lassen, weil deren Bedeutung durch vorrangige Regelungen überlagert werden. Die im schleichenden Verfahren durch Verordnungen und Rechtsprechung immer weiter ausgehöhlten und in der Praxis längst konterkarierten "positiven Errungenschaften" des BSHG werden marginalisiert, das Gesetz wird sozusagen an die Realität angepasst. Das heutige Sozialhilferecht billigt dem Sozialhilfeträger in einer Vielzahl von Leistungsfragen einen großen Ermessens¬spielraum zu. Im ersten Sozialgesetzbuch (SGB I) wird ausgeführt, wie dieser auszufüllen ist: "Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden" (§2 Abs.2 SGB I). Dieser Ermessensspielraum, der eigentlich im Sinne der sozialen Rechte von Hilfeberechtigten angewendet werden soll, wird in der Behördenpraxis fast nur noch im Sinne der Sozialhilfeträger ausgelegt, die in Zeiten klammer Kassen vorrangig an der Senkung der Kosten interessiert sind. Die seit Jahren öffentlich geschürten Vorurteile über die Bedienungsmentalität der Leistungsbeziehenden ("Faulenzerdebatte", "soziale Hängematte" u.s.w.) sind für die Behörden Rückenwind, ihr Ermessen immer restriktiver einzusetzen und Hilfebedürftigen die Leistungen vorzuenthalten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass viele Ansprüche erst nach dem Widerspruch der Betroffenen gegen einen ablehnenden Bescheid oder vor den Verwaltungsgerichten durchgesetzt werden. Die Dunkelziffer der nicht gewährten Ansprüche, die nicht realisiert werden, weil die Betroffenen Angst haben oder nicht in der Lage sind, den Rechtsweg auszuschöpfen, dürfte extrem hoch sein. Auch in Bezug auf die Leistungen zur Sicherung der Existenz, nämlich der Höhe der Regelsätze und der Ausgestaltung der einmaligen Beihilfen,6 klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit : bei den Regelsätzen ist das Bedarfsdeckungsprinzip schon lange ausgehebelt. Sozialhilfe schützt schon lange nicht mehr vor Armut. Seit dem Wechsel vom "Warenkorbmodell" zum "Statistikmodell" als Bemessungsgrundlage Ende der 1980er Jahre ist es nicht gelungen, die Regelsätze mit Hilfe einer sauber aufbereiteten, d.h. den Haushaltstypen und Verbrauchsanteilen entsprechenden, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) an das veränderte soziokulturelle Existenzminimum anzupassen. Seit 1993 wurden die Regelsätze völlig unabhängig vom Bedarf gedeckelt, um dann ab 1997 an die Entwicklung der Rentenanpassung gekoppelt zu werden. Im Sinne des §22 Abs.3 BSHG muss bei der Weiterentwicklung der Regelsätze jedoch neben der allgemeinen Einkommensentwicklung die Entwicklung des Verbraucherverhaltens und der Lebenshaltungskosten verbindlich berücksichtigt werden. Durch die gegenwärtige Anbindung an die Rentenentwicklung wird die Steigerung der Lebenshaltungskosten aber nur unzureichend abgebildet.7 Die defizitäre Entwicklung der vergangenen 15 Jahre wird so munter fortgeschrieben und verstärkt. Nach Meinung von Fachleuten von Wohlfahrtsverbänden, Betroffenenorganisationen und aus der Sozialarbeit hinken die Regelsätze inzwischen 10 bis 20% hoffnungslos hinter den steigenden Kosten für die Existenzsicherung hinterher. In Folge der Massenarbeitslosigkeit ist die Zahl der Sozialhilfeberechtigten um ein Vielfaches angewachsen und mit ihnen sowohl die Probleme der Betroffenen mit den Sozialämtern als auch die der Kommunen mit der Finanzierung der Leistung. Hier ist ein sozialpolitisches Spannungsfeld entstanden, in dem Hilfebedürftige immer mehr zu BürgerInnen Zweiter Klasse degradiert werden. 2,75 Mio. Menschen bezogen Ende 2002 HLU, darunter über 1 Mio. Kinder und Jugendliche.8 Hinzu kommen viele "verschämte Arme", die gar nicht wissen, dass ihnen nach dem Gesetz Leistungen zustehen, oder die sich vor einem Gang zum Sozialamt scheuen. Die wachsende Armut in der Bundesrepublik, ein expandierender Niedriglohnsektor und die Unzulänglichkeit der vorgelagerten Sicherungssysteme haben dazu geführt, dass die Sozialhilfe, die ursprünglich für einen stark eingegrenzten Personenkreis konzipiert war, ihre originäre Aufgabe nicht mehr erfüllt.

Sozialhilfe "light"

Das Sozialhilferecht unterliegt derzeit einem gravierenden Wandel. Bereits ab Januar 2003 wurden alle erwerbsunfähigen Sozialhilfeberechtigten, vor allem RentnerInnen, chronisch Kranke und erwerbsunfähige, behinderte Menschen, der neuen Grundsicherung zugeordnet. Nach den Plänen der Bundesregierung soll künftig das Gros der Sozialhilfeberechtigten, die heute HLU beziehen, gemeinsam mit den heutigen Arbeitslosenhilfebezieher/innen die neue Leistung ALG II erhalten und unter die Zuständigkeit des SGB II fallen. Damit würde die Sozialhilfe gemessen an der Zahl der Anspruchsberechtigten zwar an Bedeutung verlieren, andererseits werden die Regelsätze wie bisher das staatlich anerkannte Existenzminimum definieren und somit als wichtige Referenzgröße für die anderen beiden staatlichen Fürsorgeleistungen dienen. Um so gravierender ist, dass im Zuge der Novellierung der Sozialhilfe nicht die längst fällige Neufestsetzung der Regelsätze auf der Grundlage eines Statistikmodells und einer aktuellen, methodisch sauber aufbereiteten EVS vorgenommen wurde. Damit werden die sozialstaatlichen Anforderungen verfehlt, mit der Bemessung der Regelsätze eine Basis für die Festlegung eines soziokulturellen Existenzminimums zu schaffen. Die bislang von der Regierung veröffentlichten neuen Regelsätze schreiben die unzulässige Deckelung der vergangenen Jahre fort. Die Fürsorgeleistungen für alle Hilfeberechtigten werden auch in Zukunft nicht das geforderte Existenzminimum abdecken und die Betroffenen wirksam vor Armut schützen. Zusätzlich verschlechtern wird sich nach dem vorliegenden Gesetzentwurf die Lage von Familien. Die Leistungen für Kinder und Jugendliche sollen künftig nur noch in zwei Altersgruppen unterteilt werden, bisher waren es vier Gruppen. Gerade für die Gruppe der Jugendlichen unter 18 Jahren bedeutet dies eine deutliche Verschlechterung. In dieser Altersgruppe kann dann nicht mehr der "wachstumsbedingten Mehraufwand" berücksichtigt werden. Zahlreiche empirische Studien weisen darauf hin, dass die Herabsetzung der Leistung negative Auswirkungen auf die Lebenslagen der Minderjährigen, ihre Bildungsmöglichkeiten und ihre Gesundheit haben.9 Zudem wird das Existenzminimum für Haushalte mit Kindern dadurch weiter absinken, dass im E-SGB II die bisher praktizierte Nichtanrechnung eines Anteils des Kindergeldes von monatlich 10,25 Euro bei einem Kind und 20,50 Euro bei zwei und mehr Kindern nicht mehr vorgesehen ist. Einen grundsätzlichen Verstoß gegen die Strukturprinzipien der Sozialhilfe ist die Pauschalierung von Leistungen, die bisher im Bedarfsfall nach individueller Prüfung gewährt wurden. Die Pauschalierung von einmaligen Bedarfen war zumindest Ende der 1990er Jahre noch stark umstritten. Zur Erprobung dieses Verfahrens wurde eine Experimentierklausel in das BSHG aufgenommen. In zahlreichen Modellversuchen, die bis Mitte 2005 abgeschlossen sein sollen, galt es, Erkenntnisse über die Folgen einer Pauschalierung für die Betroffenen zu gewinnen und auszuwerten. Im Vorgriff auf den Abschluss und die Auswertung dieser Modellversuche plant die Bundesregierung nun ab Juli nächsten Jahres eine Pauschalierung von einmaligen Beihilfen für alle drei Fürsorgeleistungen. Die äußerst knapp bemessene monatliche Pauschale für weitgehend alle Bedarfe soll nun auf die Regelsätze aufgestockt werden. Ausnahmen für Einzelgewährung sind auf drei Bedarfstypen beschränkt, weder Öffnungsklauseln noch Härtefallregelungen sind in beiden Gesetzesentwürfen SGB II und XII vorgesehen.10 Eine Verordnungsermächtigung ermöglicht den regionalen Trägern der Fürsorgeleistung sogar die Pauschalierung der Kosten für die Unterkunft, ohne näher darauf einzugehen, welche Kosten für Unterkunft und Heizung als "angemessen" anzusehen sind. Durch die vorzeitige Einführung der Pauschalierung haben sich Sinn und Zweck der Modellversuche, mit deren Hilfe die Vereinbarkeit der Pauschalierung mit den Strukturprinzipen der Sozialhilfe ja gerade überprüft werden soll, erübrigt. Diese Leistungsform wirft zudem eine Reihe von verfassungsrechtlichen Bedenken auf, die sich auf das Sozialstaatsgebot (Art.20 GG) beziehen und auf den Art.80 Abs.1 GG, weil bei der Leistung wesentliche Gestaltungsparameter nicht hinreichend bestimmt durch den Gesetzgeber geregelt sind.11 Bei den Leistungsberechtigten kann Pauschalierung dazu führen, dass sie sich im Fall eines unvorhergesehen auftretenden akuten Bedarfs gezwungen sehen, Mittel aufzubrauchen, die zur Sicherung der physischen Existenz notwendig sind. Dieses Absinken in die absolute Armut ist eine Situation, deren Duldung mit dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit nur schwer zu vereinbaren ist. Einmalige Leistungen von höherem Anschaffungswert sowie Leistungen für besondere Anlässe, wie Taufen, kirchliche Weihen, Hochzeiten, Beerdigung etc., können unter Beachtung des Gegenwärtigkeitsprinzips und dem Grundsatz der Bedarfsdeckung mit Blick auf die bestehenden Erfahrungen aus der Gewährungspraxis und den viel zu niedrig angesetzten Beträgen nicht pauschal abgegolten werden. Tritt ein Bedarfsfall ein, ohne dass genug Zeit für die Bildung von Rücklagen bestand, werden Leistungsberechtigte gezwungen, Darlehen aufzunehmen, deren Tilgung das Haushaltseinkommen meist unter das Existenzminimum drückt. Die Einbeziehung von Aufwendungen für besondere Anlässe und den laufenden Schulbedarf in die Regelsatzleistung trifft wiederum Kinder im Sozialhilfe-/Sozialgeldbezug besonders hart. Sie leiden schon heute am meisten unter der ausgrenzenden Armut und ihre Bildungschancen werden sich durch die künftig vorprogrammierte mangelhafte Schulausstattung weiter verschlechtern. Grundsätzlich ist dem für die Pauschalierung herangezogenen Argument der Stärkung der Dispositionsfreiheit und Selbstständigkeit der Leistungsbeziehenden der Einwand gegenüberzustellen, dass Hilfebeziehende in der Regel sehr große Probleme haben, mit den ohnehin knapp bemessenen Mitteln so zu wirtschaften, dass sie ausreichend Rücklagen für Bedarfe mit höheren Anschaffungskosten oder besondere Anlässe bilden könnten, für die normalerweise eine Ansparzeit von zehn oder mehr Jahren zugrunde gelegt werden muss.12 Die Pauschalierung der Unterkunftskosten birgt zudem noch weitreichendere Gefahren: bei einem Modellversuch in Kassel zeigte sich, dass die Einführung von Pauschalen für Miete und Heizkosten zu erheblichen Leistungseinschnitten führte mit schweren Folgen für Betroffene bis hin zu Räumungsklagen und drohender Obdachlosigkeit.13 Zusammenfassend muss hervorgehoben werden, dass mit der weitgehenden Pauschalierung eine de facto Senkung des ohnehin zu niedrigen Leistungsniveaus einhergeht, die im BSHG verankerten Strukturprinzipen verletzt und soziale Mindeststandards weiter unterschritten werden.

Sozialhilfe als nachrangige Leistung?

Neben einer Vielzahl von Verschlechterungen im E-SGB XII, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann,14 steht im Zuge der "Reform" ein weiteres wichtiges Prinzip der Sozialhilfe zur Disposition. Bislang stand die Sozialhilfe als unterstes Netz der sozialen Sicherung allen Hilfebedürftigen offen, wenn Leistungen aus den vorrangigen Sozialsystemen oder andere Einkommen (auch Erwerbseinkommen) nicht ausreichten, um das soziokulturelle Existenzminimum abzusichern. Dieser Grundsatz wird im E-SGB II erstmals ausgehebelt. Allen Bezieher/innen von ALG II wird der Anspruch auf nachrangige Leistungen der Sozialhilfe ausdrücklich erschwert. Das ist eine gravierende Verletzung sozialstaatlicher Prinzipien, weil für das Gros der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Prinzip kein Anspruch mehr auf Leistungen der Hilfe in besonderen Lebenslagen besteht, die im Sozialhilferecht zur Absicherung individueller Notlagen vorgesehen sind, jedoch im E-SGB II gänzlich fehlen. Wenn dieser Systembruch Schule macht und nachrangige Ansprüche auch für die dritte Fürsorgeleistung, die Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung, wegfallen, wird die universelle Auffangfunktion der Sozialhilfe gänzlich marginalisiert und mit ihr der Anspruch an ein Gesetzbuch, das ein Recht auf definierte soziale Mindeststandards für alle gewährleisten soll, die in Not geraten. Übrig bliebe dann eine Fürsorgeleistung für einen relativ kleinen Teil von Hilfebedürftigen mit Referenzcharakter auf niedrigstem Niveau. Dieser entwerteten Sozialhilfe droht dann die Gefahr, von der nächsten Reformwelle weggespült zu werden. In der neuen Fürsorgeleistung für Erwerbslose, deren Anspruch auf ALG I abgelaufen ist, werden ab dem 1. Juli 2004 alle Bezieher/innen von Arbeitslosenhilfe und alle erwerbsfähigen Sozialhilfeberechtigten zusammengefasst.15 Nach einer Übergangszeit bis Ende 2006 soll die Umstellung des Leistungssystems abgeschlossen sein. Legt man die heutige Anzahl der Leistungsberechtigten zugrunde, werden dann knapp 4,5 Mio. Menschen (Leistungsberechtigte und die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaften) von ALG II, der neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende, und Sozialgeld für die nicht erwerbsfähigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ihre Existenz bestreiten. Als Referenz für die Höhe des ALG II und Sozialgeld dienen die Regelsätze der Sozialhilfe. Hinzu kommen ggf. Mehrbedarfszuschläge und "angemessene" Kosten für Unterkunft und Heizung (oder Pauschalen). Leistungsberechtigte, die nach dem Bezug von ALG I erstmals die Fürsorgeleistung ALG II beziehen, erhalten für sich und die Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft zwei Jahre lang einen degressiv gestaffelten Zuschlag, der den Fall des Leistungsniveaus von ALG I nach II abfedern soll. Da ein genereller Zuschlag für Arbeitssuchende nicht vorgesehen ist und ein solcher Mehraufwand auch nicht durch die Regelsätze abgedeckt wird, müssen sich ALG II-Bezieher/innen zusätzliche Werbungs- und Bewerbungskosten praktisch vom Munde absparen, denn sie müssen dem Arbeitsmarkt ständig zur Verfügung stehen und das im Rahmen der Aktivierung auch unter Beweis stellen.16 Das fällt um so mehr ins Gewicht, weil die Regelleistung für den größten Teil der ALG II-Bezieher/innen unterhalb des heutigen Sozialhilfeniveaus liegt. Oberste Zielsetzung des E-SGB II ist es, Leistungsberechtigte schnellstmöglich in die Erwerbsfähigkeit zu entlassen. Das Gesetz sieht eine Reihe von "aktivierenden" Maßnahmen vor, die den Leistungsbeziehenden die Aufnahme irgendeiner Beschäftigung erleichtern sollen. Das bedeutet, dass für alle ALG II Bezieher/innen unabhängig ihrer Qualifikation jede Arbeit zumutbar sein wird - auch gemeinnützige Arbeit zum Nulltarif. Anderen Kriterien, wie z.B. die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit in Orientierung auf den ersten Arbeitsmarkt, Training und Qualifizierung oder etwa die Vorbereitung auf den beruflichen Wiedereinstieg, muss die angebotene Beschäftigung nicht genügen. Die Prioritäten sind in §1 Abs.2 klar gesetzt: zuerst kommen die Leistungen zur Beendigung und Verringerung der Hilfebedürftigkeit, insbesondere durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, und dann die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der entsprechende §1 sowohl im alten als auch im neuen Sozialhilferecht spricht eine ganz andere Sprache: "Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, dass der Würde des Menschen entspricht."17 Erst danach kommt die Zielsetzung, dass die Hilfe dazu befähigen soll, unter Mitwirkung der/des Leistungsberechtigten unabhängig von ihr zu leben. Den hohen Anforderungen an die Eigenbemühungen wird ein umfangreicher Sanktionsapparat beiseite gestellt. Neu daran ist, dass Leistungskürzungen bei wiederholtem Fehlverhalten, etwa dem Ablehnen angebotener Beschäftigung, automatisch bis weit unter das physische Existenzminimum vorgenommen werden sollen. Erwerbsfähigen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren soll im Fall von Pflichtverletzungen die Leistung - mit Ausnahme der Kosten für die Unterkunft - sogar vollständig gestrichen werden. Die Dauer der vorgesehenen Leistungskürzungen ist jeweils strikt auf drei Monate ausgelegt. Die Sanktion soll auch bei umgehender Verhaltensänderung der/des Betroffenen nicht aufgehoben werden. Diese drakonischen Strafen schlagen unmittelbar auf die Lebenslagen durch, weil im SGB II nicht mehr wie bisher im Fall einer Sperrzeit nach dem Arbeitsförderungsrecht (SGB III) das nachrangige Auffangnetz der Sozialhilfe zur Verfügung steht, mit dem, zumindest am Einzelfall orientiert, der für die Existenz unerlässliche Bedarf abgesichert ist.18 Im SGB II ist bei einer absoluten Bedarfsunterdeckung in Folge von Sanktionen dagegen eine Versorgung mit Sachmitteln oder Lebensmittelgutscheinen vorgesehen, vor allem dann, wenn minderjährige Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft unmittelbar von der Sanktion betroffen sind oder es sich bei den Betroffenen um 15 bis 25-Jährige handelt. Besonders bedenklich erschient angesichts dieser verschärften Sanktionsregelungen mit festgelegten differenzierten Tatbeständen, die den Mitarbeiter/innen der Behörde die Verhängung einer Strafe erleichtern sollen, die Umkehr der Beweislast zuungunsten der Leistungsberechtigten. In Verkehrung bestehender Rechtsgrundsätze sollen diese im Fall eines behördlichen Verdachts auf Pflichtverletzung künftig ihre Unschuld selbst beweisen. Einer disziplinierenden, zunehmend repressiven Verhängung von Sanktionen ist damit Tür und Tor geöffnet.

Kontroll- und Zwangscharakter

Im Entwurf für ein novelliertes Sozialhilferecht wird die unzulässige Deckelung der Regelleistung fortgeschrieben. Zudem werden soziale Mindeststandards und bestehende Rechtsgrundsätze unterlaufen. Die Bundesregierung gibt damit das Ziel auf, ein System der sozialen Sicherung zu gewährleisten, das in der Lage ist, allen Hilfeberechtigten ein Leben in Würde auf dem Niveau eines am tatsächlichen Bedarf orientierten soziokulturellen Existenzminimums zu sichern. Im E-SGB II erhält das Prinzip "Fordern und Fördern" und damit die bedingungslose "Aktivierung" der Selbsthilfe oberste Priorität. Existenzsichernde Leistungen werden an die Bereitschaft geknüpft, den Hilfebezug durch die Aufnahme jeglicher Beschäftigung zu beenden oder sie verpflichten dazu, gemäß dem Motto "keine Leistung ohne Gegenleistung" eine "gemeinnützige", unentgeltliche Beschäftigung aufzunehmen. Unverhältnismäßige Sanktionen bei einer Ausweitung der Zumutbarkeit und auferlegter Pflichten schaffen einen dem Fürsorgesystem immanenten Kontroll- und Zwangscharakter, der dazu führt, dass Betroffene in unterwürfige, unwürdige Lebenslagen gedrängt werden - ein Status, der nur schwerlich mit unseren rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien zu vereinbaren ist. Die Neuordnung des Fürsorgesystems muss im Kontext des umfassenden Reformprojektes der Regierung betrachtet werden. Hier ist ein roter Faden zu erkennen, der sich hinein bis in die Kohl-Ära der frühen 1990er Jahre zieht: Die Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und anderer Notlagen werden mehr und mehr privatisiert, Betroffene bekommen die alleinige Schuld für ihre prekäre Lebenssituation zugewiesen und immer mehr Menschen werden ausgegrenzt, indem ihnen gesellschaftliche Teilhaberechte verwehrt werden. Obwohl die Gesellschaft aus den Fugen zu geraten droht, vollzieht die rot-grüne Bundesregierung den forcierten Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung. Dabei scheint sie völlig auszublenden, dass zum Schutze einer menschenwürdigen Existenz verbindliche soziale Mindeststandards unerlässlich sind.

Anmerkungen

1)Schoch, Sozialhilfe, Köln u.a. 2001, S.23 2)BVerwG Urteil vom 11.11.1970 (V C 32/70), vgl. ebd. S.31 3)Vgl. ebd. S.26 f. Inwiefern das GG konkreten Einfluss auf die Sozialgesetzgebung hat, ist in Fachkreisen umstritten und kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. 4)Vgl. Rothkegel, ZfSH/SGB 2000, S.259 5)Dabei werden die Chancen Ansprüche durchzusetzen immer geringer, weil die Kommunen als Träger der Sozialhilfe immer häufiger Nebenabsprachen mit den örtlichen Richtern treffen, in denen Spielräume für eine eingeschränkte Gewährungspraxis abgesteckt werden. 6)Siehe hierzu den Bericht der BAG-SHI Umfrage "Die Praxis der Gewährung einmaliger Leistungen in der Sozialhilfe", Frankfurt 2003, Bezug: BAG-SHI 7)Vgl. Schneider, Expertise zur Frage der bedarfsgerechten Fortschreibung des Regelsatzes für Haushaltsvorstände gem. §22 BSHG, Frankfurt 2001, S.4 ff 8)Statistik der Sozialhilfe für das Jahr 2002, Statistisches Bundesamt, September 2003 9)Zu diesem Sachverhalt sind u.a. die Armutsberichte von Bund, Ländern und einigen Kommunen sehr aufschlussreich. 10)Nach der vorläufigen Regelsatzverordnung 2004 sind für den Haushaltsvorstand 48 Euro inkl. Weihnachtsbeihilfen vorgesehen. Lediglich Bedarfe für Erstausstattungen für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt sowie Wohnungserstbezug und Bedarfe für mehrtägige Klassenfahrten werden wie bisher auf Antrag bewilligt. 11)Eine umfassende Einschätzung dazu bietet Uwe Berlit: Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, in: info also Heft 5/2003, Vorabdruck im Netz unter http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2003/Stellungnahme/GesetzentwuerfeAlhiBSHGFassung030814_z.pdf 12)Eine inzwischen veröffentlichte Zwischenauswertung der Modellversuche, die von dem Beratungsunternehmen Mummert Consulting durchgeführt wurde, belegt diese Aussage. Viele Betroffene gaben an, dass die Bildung ausreichender Rücklagen nicht möglich sei. 13)Die Größenordnung der zu erwartenden Kürzungen lässt sich daraus ersehen, dass z.B. in Kassel die Unterkunftspauschale für Alleinstehende auf monatlich 460 DM (235Euro) festgesetzt wurde, während vorher Unterkunftskosten (Kaltmiete und Nebenkosten ohne Heizung) von ca. 580 DM bis hin zu 600 DM als angemessen akzeptiert wurden. Die Differenz zwischen der Kasseler Heizkostenpauschale und den vom VG Kassel einem alleinstehenden Hilfebezieher zugesprochenen angemessenen Heizkosten beträgt 20 Euro. Zahlenangaben der Stadt Kassel ist zu entnehmen, dass bei ca. 3.000 von ca. 4.800 Einpersonenhaushalten die Unterkunftspauschale nicht ausreicht, um die tatsächlichen, bisher vom Sozialamt als angemessen anerkannten Unterkunftskosten zu decken. Zu den Problemen mit der Pauschalierung von Unterkunfts- und Heizkosten im Modellstandort Kassel siehe Friedrich Putz, Arbeitslosengeld II - bisheriges Sozialhilfeniveau oder noch tiefer? in: SPW 131 Mai/Juni 2003 S. 44 ff, Vorabdruck im BAG-SHI Rundbrief 02/2003 S.15f 14)S. hierzu: Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen e. V. zum Entwurf eines Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch, Quelle: www.bag.shi.de 15)ALG II-leistungsberechtigt sind alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die gemäß der Definition des Rentenrechts (§46 SGB VI) drei Stunden am Tag Arbeit verrichten können. Vgl. zu den Arbeitsmarktreformen (Hartz 3 und 4) den Beitrag von Anne Allex in diesem Heft. 16)Nach dem Bericht "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" der "Hartz-Kommission" war noch ein Zuschlag für Arbeitssuchende von 10% des Regelsatzes vorgesehen. 17)Zitiert nach §1 BSHG. 18)Hier werden max. 25-30% des Regelsatzes gekürzt. Erika Biehn ist Vorsitzende, Frank Jäger Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen e.V. aus Forum Wissenschaft 4/2003