São Paulo als "Lackmustest" der Partizipativen Haushaltsführung

In Brasilien findet eine außerordentliche politische Innovation zunehmende Verbreitung, die unter dem Begriff der Partizipativen Haushaltsführung bekannt geworden ist...

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Begrenztheit festgeschriebener, bislang unangetasteter demokratischer Formen gerade im Hinblick auf die Vertretung von Interessen der Bürgerinnen und Bürger immer offensichtlicher. Dies festzustellen heißt nicht, daß es darum ginge, den Wert dieser demokratischen Formen insgesamt zu leugnen - auch wenn sie in Brasilien (und insgesamt in Lateinamerika, Afrika und Asien) nur zu bestimmten Zeiten zur Anwendung kamen und dann durch Diktaturen und autoritäre Formen unterdrückt wurden.

Nein, es geht darum, die Gründe für diese Begrenztheit zu erkennen und über andere Formen demokratischer Beteiligung nachzudenken.

Es sind vor allem die wachsende Komplexität der sozialen Beziehungen innerhalb der postindustriellen Gesellschaften, weitgehend diversifizierte Sozialstrukturen, die Macht der Medien, die enorme Konzentration von wirtschaftlicher Macht, die komplexen Wechselwirkungen von Staat und Gesellschaft sowie Staat und Markt, die die bisherige Form politischer Vertretung ins Wanken bringen. Das Entstehen nicht-institutioneller politischer Organisationsformen wie etwa der sogenannten "Nichtregierungsorganisationen", die als Akteure neben Gewerkschaften und politische Parteien treten, zeigt die erwähnte Begrenztheit auf eine andere Weise: Die klassischen Formen von Vertretung funktionieren offensichtlich nur, wenn hierfür ein hoher Preis gezahlt wird, nämlich: einen wichtigen und wertvollen Teil der Gesellschaft von der Politik auszuschließen.

Eine weitere die Begrenztheit fördernde Tendenz ist das Aufblähen der Exekutive. Sie tritt nicht nur an die Stelle der Legislative, sondern drängt auch die Justiz an den Rand. Immer mehr Macht wird in Institutionen konzentriert, die für den Bürger wenig transparent und die nur noch auf Sicherung ihrer eigenen Existenz fixiert sind. Diese Exekutive verhält sich so, als ob ihr sämtliche Vollmachten in einer Art und Weise übertragen worden wären, die Guillermo OÂ’Donnell "delegative Demokratie" nannte. Der Rückgriff auf außerordentliche Maßnahmen - ein Instrument, das seinen Ursprung im tempo presto der Weimarer Republik hat und von allen modernen Verfassungen aufgegriffen wurde - wurde letztlich eine Art "permanente Ausnahme". Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich der globale Kapitalismus im tempo prestissimo verändert, bringt er die politische Institutionalität, die einst im Tempo lento e maestoso verfaßt worden ist, in äußerste Bedrängnis.

Die direkte Demokratie im ursprünglichen Sinne - jener Traum von der "ewigen Rückkehr" zur griechischen Agora - ist angesichts der aktuellen Dimensionen der Polis weder im Hinblick auf die Bevölkerungszahlen noch auf die Heterogenität der Sozialstruktur machbar. Ginge es doch um eine Struktur, die - anders, als es damals im Goldenen Zeitalter Griechenlands der Fall gewesen ist - weder Nicht-Besitzende noch Frauen ausschließt. So haben wir es einerseits mit der repräsentativen Demokratie auf der Ebene sowohl der Legislative als auch der Exekutive und andererseits mit der Tatsache zu tun, daß eine direkte Demokratie im reinen Sinne nicht machbar ist. Aber es muß etwas geschehen, denn es ist zu einer fast vollständigen Intransparenz und Oligarchisierung der institutionellen Politik gekommen. Selbst die good governance - ein Thema, das der Rechten in ihren theoretischen Debatten sehr am Herzen liegt - öffnet den Bürgerinnen und Bürgern keine neuen Räume.

Durch die Konzentration von wirtschaftlicher Macht, mit der sich solche Giganten wie Microsoft selbst der Regierung der USA widersetzen, werden die politischen Institutionen zu Anachronismen, wobei die Medien diese Tendenz mit ihrem Diskurs über die Inflexibilität der Regierung, über eine lustlose Exekutive und eine langsame Justiz häufig noch verstärken. Außerdem führte diese Konzentration dazu, daß das liberale Paradigma von freier Wahl und freier Initiative als conditio sine qua non der Demokratie zu einer Fiktion geworden ist. Die Möglichkeit der Verteilung von Reichtum über Marktmechanismen hat den Boden der Fiktion, auf dem sie sich übrigens immer bewegte, verlassen, um sich in das genaue Gegenteil zu verkehren. Infolge der Zerstörung des Wohlfahrtsstaates nimmt die Ungleichheit innerhalb der am meisten entwickelten Länder ständig zu. Und an der Peripherie wird dieses Desaster noch dadurch vergrößert, daß das Wenige, was erreicht werden konnte, zerstört wurde und sich der Begriff der Gleichheit semantisch selbst disqualifizierte, indem er für die ärmsten Länder zu einer reinen Kostenposition wurde - einer Kostenposition, die verhindert, daß sich das Kapital ihrer annimmt.

In der liberalen Tradition - wie zum Beispiel der in den USA - war es der Realismus, der zur Institutionalisierung von Gruppeninteressen führte, die in der Vergangenheit als antipolitisch und als unerwünschte Einmischung in die institutionelle Macht angesehen wurden. Es kam zur Bildung von Lobbies, für die in den USA Regeln und Vorschriften erlassen wurden, und die - ohne an eine Partei gebunden zu sein - Zugang zu den Entscheidungszentren auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und Justiz eröffnen sollten. In anderen, weniger liberalen und weniger offenen Traditionen bestehen und funktionieren solche außerpolitischen Gruppierungen innerhalb der Grauzone von Korruption.

Dieses Gesamtgeflecht aus globaler Dimension, hohem Tempo von Umgestaltung und Veränderung, Entpolitisierung der Wirtschaft und Denationalisierung der Politik bewirkt, daß die Territorialität als Grundlage von Politik überhaupt keine adäquate Form für die Realisierung des Willens der Bürgerinnen und Bürger mehr darstellt. Das System hat sich offenbar in eine Nicht-Form verwandelt, die unnahbar für die Bürgerinnen und Bürger ist, sich aber weiterhin der klassischen bürgerlichen Formen bedient - und zwar im Stile der Prämoderne patrimonial und patriarchalisch -, während sich die reale Bewegung schon längst nicht mehr an ihnen orientiert.

Ohne die Anstrengungen der Bürgerinnen und Bürger, ihrerseits jene überholten und festgeschriebenen Formen zu überwinden und sich Zugang zur Komplexität des Lebens zu verschaffen, wäre die "Lebenswelt" nach Habermas bereits längst in einer "Systemwelt" untergegangen. Alle neuen Organisationen sind neue Formen im Umgang mit einer Komplexität, die durch die geltende Institutionalität unterdrückt worden ist. In einer Art unermüdlichen Aufbaus und Wiederaufbaus von Demokratie innerhalb eines großartigen Spektrums, das vom Schutz der Wale bis hin zum Weltsozialgipfel von Porto Alegre reicht, fanden Bürgerinnen und Bürger eben solche neuen Formen des Umgangs mit der Komplexität von Wirklichkeit.

Die Partizipative Haushaltsführung als politische Innovation

In Brasilien findet eine außerordentliche politische Innovation zunehmende Verbreitung, die unter dem Begriff der Partizipativen Haushaltsführung bekannt geworden ist. Sie ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

Sie erfaßt die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative in ihrer Gesamtheit. Sie greift in die Rolle des Staates bei der gesellschaftlichen Regulierung der Wirtschaft und bei der Gestaltung der Sozialpolitik unter aktiver Mitwirkung der Bürger in den jeweiligen Schwerpunktbereichen ein. Sie trägt zu einer Verknüpfung von Bürgerwillen einerseits und Entscheidungen von Legislative und Exekutive andererseits bei, indem sie den Bürgerinnen und Bürgern Zugriff auf einen Teil der delegierten Macht an ihrer Quelle, den öffentlichen Haushalten, verschafft. Sie verringert die Distanz zwischen Regierenden und Regierten und schaltet eine Ebene zwischen der zu Ende gehenden klassischen Form der Vertretung und einer erträumten, in der Gänze aber nicht realisierbaren direkten Demokratie ein.

Diese Innovation ist Teil jener langen Kette von Ereignissen, die mit der Pariser Kommune ihren Anfang nahm und sich fortsetzte in den lokalen Autonomiebestrebungen, die von der liberalen Tradition Nordamerikas bis in die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts reichte, von den revolutionären Räten in Turin bis zum Roten Wien, von den banlieues rouges von Paris bis hin zu den sechziger Jahren, nach Grenoble, Bologna, Modena, dem Italien von Bobbio und Togliatti. In Brasilien begann es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit den ganz neuen Erfahrungen von Lages und Joinville in Santa Catarina - Erfahrungen, die sich die neue parteigebundene Institutionalität, die kurz vor Ende der Militärdiktatur entstanden war, noch schnell zu eigen machte.

In Porto Alegre - mit einer Verwaltung unter Führung der Arbeiterpartei (PT) innerhalb einer Linkskoalition - wurden diese Erfahrungen aufgegriffen. Die Partizipative Haushaltsführung wird dort seit nunmehr vierzehn Jahren praktiziert. In verschiedenen Ausprägungen gibt es sie in unzähligen Städten Brasiliens, die von der Linken verwaltet werden, ohne daß die PT ein Monopol darauf hätte.

Das Konzept und die praktische Umsetzung hängen von zwei wesentlichen Faktoren ab. Erstens: von der klaren Erkenntnis der Einschränkungen, die der Verwaltung der Stadt durch das "Wirtschaftsmodell " und die momentan rein neoliberale Wirtschaftspolitik aufgezwungen sind, deren Ziel darin besteht, Einkommen unter andernorts vorbestimmten Bedingungen umzuverteilen. Zweitens: davon, wie es gelingt, eine tiefe Verwurzelung innerhalb der Bevölkerung zu erreichen - ähnlich der "Auster am Fels", wie es der legendären KPI im Nachkriegsitalien gelungen war -, um aktive Mitglieder und Mitstreiter als Garanten der Macht unter solchen Bedingungen zu gewinnen, unter denen die "ökonomischen Kräfte" beinahe immer dagegen wirken.

Diskussion und Beratung - nicht einfach Konsultation - über den Haushalt von Städten und Gemeinden: Genau darin scheint dieser Weg zu bestehen. Ausgehend von Erfahrungen in Porto Alegre hat die Regierung des Bundesstaates Rio Grande do Sul, seit zweieinhalb Jahren unter der PT im Amt, bereits jetzt dieses Konzept auf den ganzen Bundesstaat mit seinen 497 Städten und Gemeinden ausgedehnt, von denen die PT in lediglich 47 den Bürgermeister stellt.

Diese politische Innovation stellt sich als die Schaffung eines neuen politischen Rechts im Sinne T. H. Marshalls dar und bereichert das vorhandene Arsenal von Instanzen, in denen soziale Klassen und Gruppen aktiv an der Verwaltung teilnehmen. Es geht in diesen Prozessen nicht um die Erneuerung von Mandaten, sondern um aktive Teilnahme an der Gestaltung des täglichen Lebens, ohne dabei auf die anderen Instanzen von Verwaltung und Politik zu verzichten. Die Mitwirkung erfolgt im Rahmen der Diskussion über den Haushalt, der im modernen Staat das Kernstück von Politik und Verwaltung ist. Die Erfahrungen von Porto Alegre, Belo Horizonte und jetzt des Bundesstaates Rio Grande do Sul bestätigen die teilweise Delegierung von Macht an die neue Instanz und unterstreichen die Tatsache, daß diese Beratungen zu einer enormen Stärkung der Mitwirkung führen und das Vertrauen in die Politik als Aktivität des Volkes und vom Bürger selbst mitgetragener Aufbauarbeit wiederherstellen. Hier sei an die Worte von Thompson über "gleiche und freie Brasilianer" erinnert. Fortschritte in der Verfassung müssen sich noch in den neuen Institutionen widerspiegeln; aber es besteht kein Zweifel daran, daß die sozialen Gruppen und Klassen heute ihre Mitwirkung an der Partizipativen Haushaltsführung als ein unveräußerliches Recht betrachten.

Wiederholt wird Kritik laut. Einmal von der politischen Rechten, die aus gutem Grund fürchtet, daß ein Teil des Haushalts nicht länger für die Manipulation von Wahlen zugunsten einer bestimmten Klientel zur Verfügung steht und der Korruption entzogen wird. Dann von den Formalisten aus Politikwissenschaft und Verfassungsrecht, die die Partizipative Haushaltsführung des Populismus, der Unterwanderung der Verfassung sowie des Vordringens in die Rechte und Vollmachten der bislang festgeschriebenen politischen Institutionen und Instanzen bezichtigen. Außerdem würden diejenigen, die über den Haushalt beraten, dies lediglich als Bürgerinnen und Bürger von begrenzt definierten Gebietskörperschaften und nicht als Universalbürger tun.

Dabei wird - entweder aus bestimmten Interessen heraus oder getrieben von einem Übermaß an legalistischem Eifer - vergessen, daß die Verfassung das Entstehen neuer Formen mit der Norm, daß "alle Macht vom Volke ausgeht und in seinem Namen ausgeübt wird", erlaubt. Wer sich unvoreingenommen von der Funktionsweise der Partizipativen Haushaltsführung aktuell überzeugen möchte, wird sehen, daß diese nach klaren Regeln funktioniert, für die gesamte betroffene Bevölkerung offen und zugänglich ist, daß die Prinzipien der Gleichheit gelten, Kontrollen der neuen Vertretung durchgeführt werden und Zufälle in den Beratungen aufgrund von für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorhersehbaren und kontrollierbaren Vorgängen ausgeschlossen sind. Die Partizipative Haushaltsführung greift nicht in Ausgaben oder Einnahmen ein, die laut Verfassung unantastbar sind - wie zum Beispiel die Beamtengehälter oder Maßnahmen zur Aufrechterhaltung verfassungsmäßiger Vollmachten. Außerdem darf die Partizipative Haushaltsführung keine Ausgaben vorsehen, für die es keine entsprechenden Einnahmen gibt, und die Erhebung von Steuern bleibt weiterhin ausschließlich den gewählten Vertretungen der Kommunen und den Parlamenten der Bundesstaaten vorbehalten.

Mit anderen Worten: Die Partizipative Haushaltsführung hält sich strikt an die Vorgaben der Verfassung, und das Argument der Einschränkung von garantierten Rechten und Vollmachten von Exekutive und Legislative entbehrt jeder Grundlage. Allerdings gibt es Diskussionen und Auseinandersetzungen um Prioritäten. Diese werden auch zwischen den betroffenen Stadt- bzw. Gemeindebezirken und zwischen den Städten bzw. Gemeinden innerhalb eines Bundesstaates geführt. Da jedoch solche Kriterien wie Bevölkerung, Einkommen und Ausmaß der Armut zugrunde gelegt werden, kann verhindert werden - was jedoch wie stets von der konkreten Praxis abhängt -, daß daraus ein Wettbewerb im Schmittschen Sinne, ein Nullsummenspiel oder gar ein Hobbesscher Krieg "Jeder gegen Jeden" wird.

Andererseits wird bei mancher Kritik von der Linken die Partizipative Haushaltsführung so dargestellt, als ob sie die Verantwortung für eine Schwächung des Klassenkampfes und der Auseinandersetzungen an anderen Fronten, an denen das Volk in die Politik eingreift, trüge. Die partizipativen Energien würden auf den Streit um den an sich unwichtigen Haushalt konzentriert. Dazu läßt sich sagen, daß die Partizipative Haushaltsführung im Hinblick auf die gemäß Verfassung geschaffenen Instanzen ziemlich konservativ und der Prozentsatz von Investitionen, über die diskutiert wird, sehr gering ist. Die eigentliche Neuerung liegt in der aktiven Mitwirkung von Klassen und Gruppen in der Verwaltung von Ausgaben und Einnahmen des Staates, in der Debatte um die Ausübung von Macht und im Öffnen jenes "eisernen Käfigs", in dem die Bürokratie die Demokratie erstickt, wie es Weber in seiner klassischen Formulierung zum Ausdruck brachte. Das Volk kann an der sehr komplizierten Verwaltung des modernen Staates teilnehmen, was eine nicht zu unterschätzende Aufgabe ist, die sich - in Anlehnung an die alte Leninsche Metapher - auch nicht mit dem Verwalten einer Küche vergleichen läßt. Vielleicht ist gerade das die kreativste Rezeptur, um Menschen in diese Komplexität einzuführen.

Die Partizipative Haushaltsführung als eine neue Form - und vielleicht als neues Recht - entstand als "methodisches Mittel" der politischen Kräfte, die sich in Opposition zu den traditionellen politischen Parteien und Koalitionen befanden, um in einem wirtschaftspolitisch konservativen, jetzt jedoch rein neoliberalen Umfeld Präfekturen zu verwalten, ohne dabei von den Zielen und Verpflichtungen aus dem Wahlkampf abweichen zu müssen. Außerdem suchte man das Bündnis mit dem Volk und seine Einbeziehung, um jene Probleme zu umgehen, die sich aufgrund fehlender Mehrheiten in Abgeordnetenhäusern, Kammern und Kommunalversammlungen ergeben. Wie man aus Literatur und Praxis sehr wohl weiß, paßt sich das System in seiner Gesamtheit nur selten an die Ergebnisse von Wahlen an, bei denen sich Mehrheiten zur Besetzung von Posten innerhalb der Exekutive gebildet haben. Dort, wo es der Linksopposition gelang, die Exekutive zu stellen, bleibt sie im allgemeinen in den gewählten Vertretungen in der Minderheit. Diese Tatsache braucht man weder zu bedauern, noch muß man sie verteufeln, denn dadurch ist garantiert, daß keine politische Kraft eine Monopolstellung einnimmt.

Mit der Partizipativen Haushaltsführung sollte eine zusätzliche Instanz geschaffen werden, um dieses Ungleichgewicht mit auszutarieren und etwas zu bewirken, das Gramsci die Schaffung einer Gegenhegemonie nannte.

Perspektiven der Partizipativen Haushaltsführung in São Paulo

Der Vorschlag zur Einführung der Partizipativen Haushaltsführung in São Paulo stellt einen qualitativen und quantitativen Sprung dar. Emir Sader bezeichnete die Einführung der Partizipativen Haushaltsführung in São Paulo als ihren Lackmustest. Allein durch die Größe - São Paulo zählt 12 Millionen Einwohner, was etwa der Bevölkerungszahl des gesamten Bundesstaates Rio Grande do Sul und dem Mehrfachen der der Städte Porto Alegre und Belo Horizonte entspricht - nimmt das Ganze atemberaubende Dimensionen an. Die Probleme, die man vereinfacht unter "politischer Arithmetik" zusammenfassen könnte, sind sehr schwierig; die Stadt müßte als erstes verwaltungsmäßig so aufgeteilt werden, daß die Gesamtheit von Territorium und Bevölkerung erfaßt wird.

Die Komplexität der Sozialstruktur, das vorhandene Konfliktpotential, die ungleiche Verteilung von Wirtschaftskraft - die Spitzen der Großbourgeoisie, die großen multinationalen Konzerne und die wichtigsten einheimischen Konzerne haben ihren Sitz in São Paulo -, eine in ganz Brasilien einmalige ethnische Heterogenität: kurz, all das, was die apologetische Literatur "globale Stadt" nennt, verleiht São Paulo eine in ganz Brasilien unerreichte Komplexität im Hinblick nicht nur auf die eigentlichen Machtorgane des Staates, sondern auch auf die beherrschten Gruppen und Klassen. Praktisch alle brasilianischen Städte sind heute eine Art zerbrochener Spiegel. In jedem einzelnen Bruchstück reflektiert sich Brasilien als Ganzes: anarchisch, chaotisch, beweglich, unvorhersehbar, unkontrollierbar, in ständiger Veränderung, mit einer ungeheuren Konzentration von Reichtum und Macht neben schlimmstem Elend und tiefster Not. Der schnelle Wechsel von beruflicher Tätigkeit und Wohnsitz innerhalb von São Paulo, die Erfindung von Tätigkeiten als Überlebensstrategie angesichts fehlender formaler Beschäftigungsverhältnisse sowie die Schaffung neuer Räume, ja beinahe neuer Städte in rasendem Tempo führt dazu, daß Repräsentanzstrukturen und räumliche Nutzungsmodelle nur von kurzer Dauer sind, auch wenn es den Anschein hat, daß sie sich schnell erneuern. Es besteht kein Zweifel daran, daß sich die Quantität, der Maßstab ändert und damit die Qualität. Daher ist São Paulo der definitive Test, zumindest in diesem historischen Zeitabschnitt.

Im Hinblick auf die Krise der repräsentativen Demokratie gleicht São Paulo jeder anderen brasilianischen Stadt, angefangen bei den ärmsten und in der Städtelandschaft unbedeutendsten bis hin zu den Hauptstädten. Schaut man sich den Stadtrat und seine Zusammensetzung an, möchte man nicht glauben, daß man es mit einer der fünf größten Städte der Welt zu tun hat. Gleiches gilt für den Posten des obersten Kommunalpolitikers der Stadt. Der eine wie der andere verhält sich unerschütterlich treu zur Klientel, Stadtrat und Verwaltung gewähren Personen Unterschlupf, die nicht einmal der bescheidensten patrimonial geprägten Stadt zur Ehre gereichen würden, und die Spitze der Exekutive wird ständig von Personen besetzt, die wegen ihrer unverschämten Klientelpflege sprichwörtlich von der gesamten Nation abgelehnt werden. Dazu kommt noch, daß sie in ihrer konservativen Orthodoxie sogar die Republikaner in Texas übertreffen. Vor kurzem ereigneten sich recht bedeutende Veränderungen im Stadtrat, und die letzte Wahl zur Präfektur endete mit der überraschenden Nominierung einer Frau, die dazu noch der PT angehört.

Die Bedeutung der möglichen Einführung von Partizipativer Haushaltsführung in São Paulo beruht auf der zentralen Rolle der Stadt in allem, was mit Mobilität und Sozialisierung zu tun hat. Brasilien ist ein urbanes Land, in dem das Urbane die Vorstellungswelt, die Sozialisierung dominiert und, wie könnte es anders sein, im Sturm der globalen Prozesse eine neue Stadt hervorbringt und dabei das ländliche, oligarchische, patrimoniale und patriarchale Erbe aufnimmt, filtert und neu definiert.

Diese neue Stadt ist São Paulo - nicht, weil sie hervorragende Qualitäten hätte, sondern wegen ihrer explosiven Mischung von all dem, was Brasilien ausmacht, wegen der wieder aufgebrochenen Konflikte und Zwänge, für die es nur eine nach vorn gerichtete Lösung geben kann. War früher Rio de Janeiro die perfekte brasilianische Synthese sämtlicher Kulturen, die zu einer einheitlichen, der cultura carioca, verschmolzen, ist São Paulo heute die Antithese, denn sie bringt keine einheitliche Kultur hervor, in der sich alle wieder finden, sondern fügt eher die Teile des zerbrochenen Spiegels zusammen. Sie ist gleichzeitig die größte Stadt des Nordostens, die größte Bergbaustadt, die wahrscheinlich größte italienische Stadt außerhalb Italiens, die größte japanische Stadt außerhalb Japans, die größte Stadt im Bundesstaat São Paulo, aber nicht die größte "brasilianische " Stadt.

Diese Komplexität verlangt geradezu nach einer politischen Erfindung wie der Partizipativen Haushaltsführung, denn diese ist nicht einfach eine vermittelnde oder Zwischeninstanz, sondern steht auch für proportionale oder Verhältnisrepräsentanz.

Die Frage ist nun freilich: Was für eine Repräsentanz und in welchem Verhältnis wozu? Durch die hohe Mobilität der Stadt in Raum, beruflicher Tätigkeit und Klassenzugehörigkeit zerfallen sämtliche auf dieser Basis beruhenden Vertretungsformen sehr schnell, um anderen Platz zu machen, die man der "Postmoderne" zuschreibt - eine Bezeichnung, die kein Konzept darstellt, sondern lediglich ein Mittel der Negation. Es scheint, als ob die Partizipative Haushaltsführung schon allein aufgrund ihrer Offenheit in der Lage wäre, Beziehungen wieder herzustellen oder zu schaffen, sowie - im Sinne Durkheims - erneuerte Beziehungen zwischen Territorialität und Mangel, Territorialität und Bündelung von Interessen, Territorialität und Rechten zu fördern. Es ergibt sich scheinbar eine neue Möglichkeit zur Universalisierung - nicht ausgehend von einer angenommenen Gleichheit, sondern von gemeinsamen Bedürfnissen, ausgerichtet auf gleichen Zugang zu den Ressourcen des Staates. Es kann sich durchaus auch um die Schaffung einer neuen Universalität handeln.

Studienagenda zur Partizipativen Haushaltsführung in São Paulo

Es gibt bereits eine Bibliographie, wenn auch in begrenztem Umfang, zu den Erfahrungen mit der Partizipativen Haushaltsführung in Porto Alegre. Daneben existieren Artikel und Veröffentlichungen von direkt Beteiligten oder solche, die mit Förderung der betroffenen Präfekturen und jetzt der Regierung des Bundesstaates Rio Grande do Sul erschienen sind. Wissenschaftlich begründete Bewertungen sind noch selten, denn es ist nun einmal offensichtlich so, daß die "normale Wissenschaft" Vorurteile gegenüber partizipativen Verfahren hegt. Das, was verfügbar ist, wurde also a posteriori geschaffen.

Im Falle São Paulos ist das anders. Um es vielleicht etwas hochtrabend auszudrücken: Hier kann direkt begleitend die Chronik dieser neuen politischen Vorgehensweise geschrieben werden. Der Vergleich mag übertrieben sein, aber es ist, als würde die Chronik der Französischen Revolution im Moment ihres Verlaufs geschrieben, Geschichte in der "Hitze der Stunde", wie Walnice Nogueira Galvão sagte, noch ungeschminkt, ohne die Läuterung, die im Laufe der Zeit erfolgt, die Geschichte der Ergebnisse, des Sieges und der Niederlage der um die Macht in dieser neuen Form der Vertretung streitenden Fraktionen. Es geht nicht um Reinheit oder Unreinheit des Prozesses, sondern um den Augenblick der Entstehung. In jedem Augenblick stellen sich natürlich Fragen, ähnlich wie zu den bereits festgeschriebenen politischen Formen, und das kann außerordentlich wichtig sein für die Beantwortung der entscheidenden Frage nach der politischen Neuheit dieser Erfahrung, dieses Konzepts.

Es ist bekannt, daß die Handlung des Staates oder, um genauer zu sein, der Regierungen von ganz entscheidender Bedeutung ist. Die Partizipative Haushaltsführung ist eine Folge, ein Sproß der longue durée der sozialen Bewegungen, die seit den 70er Jahren an Bedeutung zunahmen.

Eine Partizipative Haushaltsführung wird nicht automatisch ausgelöst, sondern die Entscheidung darüber hängt vom politischen Willen der Regierungen ab. Der Beweis dafür ist, daß es nur wenige konkrete Beispiele für eine Partizipative Haushaltsführung gibt. Es gilt die komplexen Ursachen herauszufinden, warum Regierungen sich zur Einführung Partizipativer Haushalte entschieden haben.

Und hier fangen die Probleme an: Wie muß die räumliche Aufteilung als Voraussetzung für das Funktionieren einer Partizipativen Haushaltsführung erfolgen? Verbergen sich hinter dieser Aufteilung eventuell alter Zwist und alte Befindlichkeiten? Greift sie die neue Flexibilität in Beschäftigung und Raum auf? Oder ist das ohne Bedeutung? Wie oft sollen Versammlungen stattfinden? Jüngste Erhebungen der Koordinierungsstelle der Partizipativen Haushaltsführung in São Paulo bezeugen eine konstante Versammlungshäufigkeit, die die Alteingesessenen in den Kammern, Vertretungen und im Senat erröten ließe. Wer sind die Gewählten? Welchem Geschlecht, welcher Ethnie gehören sie an, welcher Tätigkeit gehen sie nach, welchen Beruf haben sie und welcher politischen Couleur sind sie zuzuordnen? Wie sollten die Delegierten ausgewählt werden? Welche Dynamik entwickelt sich möglicherweise während einer Versammlung? Kann diese von Versammlung zu Versammlung unterschiedlich sein? Die Parteien und ihre Fraktionen sind vorhanden und vertreten; somit wäre es naiv zu glauben, mit der Partizipativen Haushaltsführung würde das Rad noch einmal erfunden: Handelt es sich im allgemeinen um linke Verwaltungen, ist klar, daß die Parteien und ihre Fraktionen von Anfang an dabei sind, wahrscheinlich sogar als treibende Kräfte. Ist aber eine politische Diskriminierung möglich? Zeichnen sich bereits raffiniert eingefädelte Führungsstrukturen ab, oder eröffnet das Konzept tatsächlich neue Möglichkeiten? Gibt es unter der Bevölkerung einen technischen "Sachverstand ", der für eine neue Art der Repräsentanz nach Foucault so entscheidend ist? Oder ist es ein politischer "Sachverstand"?

All diese Fragen, die natürlich nur indikativer Art sind, bilden erst einmal eine Art Fahrplan für weitere Betrachtungen. Der Partizipative Haushalt in São Paulo befindet sich noch in seinen Anfangsjahren. Aber ungeachtet der aus Porto Alegre, Belo Horizonte und jetzt dem Bundesstaat Rio Grande do Sul übernommenen Kenntnisse bietet sich die seltene Gelegenheit, eine Partizipative Haushaltsführung von Anbeginn zu beobachten und sie über mindestens zwei Jahre zu begleiten, bis dann präzisere Bewertungen möglich sind.

Der Text folgt einer Studie, die der Autor im Auftrag des Rosa-Luxemburg-Instituts São Paulo erarbeitet hat.

Übersetzt aus dem Portugiesischen "ECHOO Konferenzdolmetschen"

in: UTOPIE kreativ, H. 158 (Dezember 2003), S. 1117-1125

aus dem Inhalt

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