Es sollte kein Armer unter Euch sein.

Anfragen zur Agenda 2010 der Bundesregierung - und eine Antwort

in (07.01.2004)

2003 veröffentlichte der Sozialausschuß des Kirchenkreises Herne das Papier und sandte es an Abgeordnete des Bundestages weiter. Die Antwort von einem SPD-Abgeordneten spricht für sich selbst.

Im Juli 2003 veröffentlichte der Sozialausschuß des Kirchenkreises Herne im Auftrag seiner Synode das im folgenden abgedruckte Papier. Mitglieder des Ausschusses sandten es an Abgeordnete des Deutschen Bundestages weiter.1

Wir sind Teil der evangelischen Kirche im Herzen des Ruhrgebiets. Also in einer Region, in der die Menschen und die unterschiedlichen Institutionen und Organisationen seit mehreren Jahrzehnten daran arbeiten, den Umbruch von der alten Schwerindustrie zur Dienstleistungsgesellschaft zu bewältigen. Die offizielle Arbeitslosigkeit beträgt in Herne zur Zeit 15,2% und in Castrop-Rauxel 11,6% (Stand: Mai 2003). Rund 40% der arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind so genannte Langzeitarbeitslose: also länger als ein Jahr, nicht selten seit vielen Jahren arbeitslos. Seit Jahren leisten die hier lebenden Menschen Verzicht in Form von Arbeitsplatzverlusten und Leistungskürzungen, um den Strukturwandel zu bewältigen. Gezeigt hat sich, daß Leistungskürzungen für Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen in unserer Region zu spürbaren Kaufkraftverlusten führen. Statt daß es zu einer Verbesserung der allgemeinen Lage in Form neuer auskömmlicher Arbeitsplätze kommt, verschärft sich die öffentliche Armut, die dann zu neuen Leistungskürzungen treibt - mit der Folge einer weiteren Zunahme privater Armut.

Vor diesem sozialen Hintergrund bestreitet wohl kaum jemand, daß Reformen nötig bzw. überfällig sind. Doch gerade vor diesem Hintergrund sind die Reformen, die gegenwärtig auf den Weg gebracht werden, nur schwer nachvollziehbar.

Die Reformen sprechen von Fördern und Fordern. Unterstellt wird damit vor allem, daß Arbeitslose in der Vergangenheit zu wenig gefordert seien. Wer die Realität im Ruhrgebiet kennt, weiß aber, daß allein in den neunziger Jahren Hunderttausende von Industriearbeitsplätzen und Arbeitsplätzen in den klassischen Dienstleistungsbereichen abgebaut worden sind (Vergleichbares gilt für weite Teile Ostdeutschlands). Im Ergebnis fehlen heute rund 6 bis 7 Millionen Arbeitsplätze in der gesamten Republik. Daraus resultiert eine erste Frage:

Was bewegt Politiker angesichts dieser Realität zu der Annahme, Arbeitslosigkeit könne dadurch abgebaut werden, daß Arbeitslose mehr gefordert, stärker unter Druck gesetzt werden? Der größte Teil von ihnen leidet doch schon jetzt unter der Situation der Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit.

Eine weitere Frage schließt sich direkt an. Die gegenwärtigen Reformvorschläge unterstellen als eine zweite wesentliche Ursache von Arbeitslosigkeit Organisationsprobleme der Arbeitsverwaltung. Auch wir sehen, daß es Reformbedarf in der Arbeitsverwaltung gibt.

Dennoch stellt sich die Frage, wie durch eine Reorganisation der Arbeitsverwaltung das strukturelle Arbeitsplatzdefizit in unserer Gesellschaft überwunden werden soll.

Zum Beginn des Jahres 2003 ist das Gesetzespaket "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" in Kraft getreten. Die bisherigen Erfahrungen damit stimmen die Betroffenen wenig optimistisch. Die Beraterinnen und Berater aus Arbeitslosenzentren berichten von großer Verunsicherung unter den Arbeitslosen, aber auch unter den Beschäftigten der Arbeitsämter. Die Rede ist von Informationsdefiziten, gelegentlich auch von Informationschaos in den Arbeitsämtern. Mitarbeiter aus den Arbeitsämtern beklagen, daß der Umbau "Arbeitsamt 2000" durch die neuen Gesetze abrupt abgebrochen wurde. Die meisten Arbeitslosenzentren und Arbeitslosenberatungsstellen, die seit vielen Jahren eine wichtige und gute Arbeit leisten, werden in unserer Region nur noch bis Ende 2003 gefördert. Dann müssen sie geschlossen werden, weil die Förderprogramme eingestellt werden.

Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiativen und Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, die in vielen Jahren ein großes know-how aufgebaut haben, die überprüfbar erfolgreich arbeiten, die bei der Bewältigung des Strukturwandels eine wichtige soziale Rolle spielen und wichtige psychologische Funktionen wahrnehmen, sind durch die genannten Gesetze ebenso in ihrer Existenz bedroht wie die Arbeitslosenzentren und Arbeitslosenberatungsstellen. Für alle Betroffenen sind diese Entwicklungen nicht mehr nachvollziehbar. Was hat die skizzierte Zerschlagung sozialer Infrastrukturen mit Reformen zu tun, fragen viele Betroffene, wie sollen so Arbeitsplätze geschaffen werden - werden doch hier erst einmal vorhandene Arbeitsplätze im Rahmen dieser sozialen Infrastruktur abgeschafft.

Gerade in dieser skizzierten sozialen Infrastruktur liegen Entwicklungspotentiale für ein sogenanntes Drittes System (Dritter Sektor), das gesellschaftlich nötige Arbeit - wie zum Beispiel personale Dienstleistungen, die eben nicht immer marktgängig sind - organisieren kann. Nicht die Abschaffung, sondern die sinnvolle Weiterentwicklung von Förderinstrumenten hin zu einer Grundstruktur eines Dritten Systems wäre politisch angesagt.

Was hindert Politiker, was hindert unsere Gesellschaft daran, diesen Impuls aufzunehmen, der ja doch mittlerweile von gar nicht so wenigen Fachleuten immer wieder in die Diskussion eingebracht wird? Es gibt genügend Beispiele, die hoffnungsvoll sind, die nun aber in ihrer Existenz bedroht sind.

Abschließend wollen wir noch ein paar grundsätzlichere Fragen stellen. Im fünften Buch Moses im 15. Kapitel im Vers 4 heißt es: "Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein; denn Gott wird dich segnen in dem Lande, das er dir zum Erbe geben wird." Dies ist einer der elementarsten sozialethischen Maßstäbe, an denen eine Gesellschaft sich messen lassen muß - nicht nur aus christlicher Sicht. Von dieser Ausgangsposition herkommend, können wir die Diskussion um Niedriglohn-Jobs, die vorwiegend für Arbeitslose vorgesehen sind, nicht nachvollziehen.

Wovon sollen Menschen im sogenannten Niedriglohnsektor leben?

Mit welchem Recht soll wer in unserer Gesellschaft entscheiden, wer sein Dasein im Niedriglohnsektor fristen muß und wer nicht?

Auf welcher ethischen Grundlage beruht die Forderung nach einem Niedriglohnsektor für einen Teil der Männer und Frauen in unserer Gesellschaft?

Nach den USA und Japan stellt die BRD die stärkste und leistungsfähigste Volkswirtschaft weltweit dar. Wieso soll es in diesem Land nicht möglich sein, jeder Bürgerin und jedem Bürger im arbeitsfähigen Alter eine sinnvolle und menschenwürdige Arbeit und ein auskömmliches Einkommen anzubieten und zur Verfügung zu stellen?

Die gegenwärtig am häufigsten diskutierte Frage heißt: Wie können die Kosten der Arbeit gesenkt werden?

Muß die Frage aber nicht heißen: Wie können wir alle Männer und Frauen in unserer Gesellschaft so an Arbeit und Einkommen beteiligen, daß sie ein auskömmliches Einkommen bekommen und ein gutes und sinnerfülltes Leben leben können?

Oder etwas anders formuliert: Wie läßt sich der enorme technische Fortschritt, der in den vergangenen Jahrzehnten zum Abbau hunderttausender Arbeitsplätze und zu einer immensen Steigerung der Produktivität geführt hat, endlich in sozialen Fortschritt übersetzen?

Und zwar derart,
daß junge Menschen eine gute und zukunftsfähige Ausbildung in Schule und Beruf erhalten;
daß die arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder in unsere Gesellschaft integriert werden;
daß kranken Menschen die nötige Hilfe zuteil wird - auch wenn sie alt sind; und
daß alten Menschen ein Lebensabend in Würde ermöglicht wird - auch wenn sie krank sind.

 

Anfang September ging beim Sozialausschuß des Kirchenkreises Herne folgende Antwort von einem SPD-Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein, der laut Website des Bundestages auch langjähriger Gewerkschaftssekretär ist:2

Sehr geehrte Frau S.,

ungeachtet der Tatsache, daß es sich nicht um einen Text Ihres Kirchenkreises handelt, rege ich an, jetzt nur noch den Wunsch nach Freibier für alle anzufügen. Damit wäre dann die Forderungsliste komplett.

Zum Thema kann ich Ihnen mitteilen, daß ich gerade von Besuchen in Kinderwaisenhäusern in Weißrußland und aus verschiedenen Flüchtlingslagern in Aserbaidshan zurückgekehrt bin. Ich bin gerne bereit, Ihnen ausführlicher über meine Erfahrungen zu berichten. Die Menschen dort sehnen sich geradezu - wie übrigens auch ein Großteil der Menschen in vergleichbaren Industrienationen - nach unserem "Sozialabbau".

Sollte ich bei Ihnen jetzt wenigstens etwas Nachdenklichkeit bewirkt haben, würde ich mich sehr freuen. Ich vertrete aber dessen ungeachtet gerne die Interessen der Menschen, die in der Lage sind, über ihren Tellerrand hinauszublicken und auch gegenüber anderen und nachfolgenden Generationen einen Hauch von Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Gerade deshalb unterstütze ich die Agenda 2010 auch weiterhin mit Nachdruck. Mit freundlichen Grüßen.

 

Auf dieses Schreiben antwortete Jürgen Klute, Sozialpfarrer des Kirchenkreises Herne, wie folgt:3

Als Sozialpfarrer des Kirchenkreises Herne habe ich die Stellungnahme in Abstimmung mit dem Sozialausschuß, der Kreissynode und dem Kreissynodalvorstand erarbeitet und formuliert. Die Synode hat den Auftrag zu diesem Papier gegeben. Sozialausschuß und Kreissynodalausschuß haben es verabschiedet per Beschluß.

Daß ein sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter, der zudem auch noch Gewerkschaftssekretär ist, sich auf ein solches Niveau herunterläßt, wie Ihr Brief an Frau S. es repräsentiert, erschreckt und irritiert mich.

Im übrigen habe ich die Agenda 2010 bisher als ein innergesellschaftliches Umverteilungspapier gelesen. Daß es um eine Wohlstandsabsenkung innerhalb der Bundesrepublik mit einem entwicklungspolitischen Ziel gehen soll - also einer Wohlstandsmehrung in Ländern wie Aserbaidshan - ist mir in der bisherigen Diskussion um die Agenda 2010 schlicht entgangen.

Darüber hinaus habe ich die Politik der SPD und vor allem der Gewerkschaften bisher so verstanden, daß es um die Überwindung von Not und Elend durch eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands geht. Daß die Not von Menschen in anderen Teilen der Welt dazu herhalten muß, um den kleinen Leuten bei uns den bescheidenen Wohlstand, in dem sie zugegebenermaßen leben, streitig zu machen, um den privaten Reichtum in unserer Gesellschaft weiter zu mehren, ist mir als Element gewerkschaftlicher Politik (und eigentlich auch sozialdemokratischer Politik - zumindest historisch betrachtet) neu.

Ich bin gespannt auf die nächsten Wahlen.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Klute

1 Der Titel lautet in Gänze: "Es sollte kein Armer unter Euch sein (5. Moses 15,4) oder: technischen Fortschritt in sozialen Fortschritt übersetzen. Anfragen an die Agenda 2010 der Bundesregierung. Im Auftrag der Synnode des Kirchenkreises Herne beschlossen und herausgegeben vom Sozialausschuß des Kirchenkreises Herne, Juli 2003." Weitere Informationen: www.kda-ruhr.de

2 Der Name des SPDAbgeordneten ist der Redaktion bekannt. Eine schriftliche Anfrage vom 13. November 2003 an den Abgeordneten mit der Bitte um die Erlaubnis, seinen Namen drucken zu dürfen, blieb unbeantwortet.

3 Jürgen Klute, evangelischer Sozialethiker, Industrie- und Sozialpfarrer, Leiter des Sozialpfarramtes des Kirchenkreises Herne. Jürgen Klute ist Autor von "UTOPIE kreativ", zuletzt mit dem Aufsatz "Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie", Heft 155 (September 2003), und hat der Redaktion die Erlaubnis erteilt, seinen Namen in diesem Briefwechsel anzugeben.

in: UTOPIE kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 64-67

aus dem Inhalt

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