Franz Fühmanns "Böhmen am Meer"*

Franz Fühmann ist Jahrgang 1922 und wächst auf im sudetendeutsch-nationalistischen Milieu des böhmischen Riesengebirgsdorfes Rochlitz. Seine Schulzeit, so schreibt er später, sei "insgesamt [...]

[...] eine gute Erziehung zu Auschwitz"1 gewesen. Als 14jähriger tritt er dem Deutschen Turnverband, der sudetendeutschen Hitlerjugend, bei und nimmt im Juli 1938 am Großdeutschen Turn- und Sportfest in Breslau teil; das Auftreten der sudentendeutschen Sportabordnung steht unter der Losung "Wir wollen heim ins Reich". Nach dem Anschluß Böhmens und Mährens wird er als 16jähriger Mitglied der Reiter-SA. Beim deutschen Überfall auf Polen meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst und wird abgewiesen, als Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes ist er dann aber am Überfall auf die Sowjetunion dabei. Fühmann wird Wehrmachtssoldat und zum Fernschreiber ausgebildet, er ist u.a. in Kiew, Kriwoi Rog und Athen eingesetzt. Später wird er sich für seine Jugend- und Wehrmachtszeit als "verwilderten Nazijungen"2 beschreiben, seine Geisteshaltung mit "Bejahung von Krieg und Weltherrschaftsstreben", "dümmliches Hoch und Herrengefühl", "Berauschung an ‚Mission‘, ‚Sendung‘, ‚Schutzwall Europas"3 charakterisieren. Eine Einzelheit: An der Fronthochschule Athen hält er 1943 einen Vortrag "Das ethische Leitbild des Germanentums".
Im Mai 1945 gerät er auf der Flucht nach Westen in sowjetische Kriegsgefangenschaft, erlebt also die Vertreibung der Sudetendeutschen aus Böhmen - Fühmann wird von Umsiedlung sprechen - selbst nicht mit. Kriegsgefangenschaft und Antifaschule werden zu den Wendepunkten seines Lebens. 1949 kommt Fühmann als Antifaschist und im Bewußtsein persönlicher Mitschuld aus der Kriegsgefangenschaft zurück, er entscheidet sich für den sozialistischen Aufbau im Osten Deutschlands und wird Mitarbeiter im Berliner NDPD-Parteiapparat und dort für die kulturpolitische Arbeit zuständig. Nach Konflikten mit der Parteiführung beendet er 1958 seine hauptamtliche Funktionärstätigkeit und wird freier Schriftsteller. Bereits in den fünfziger Jahren veröffentlicht er lyrische und erzählerische Arbeiten, die sich insbesondere der Abrechnung mit der faschistischen Vergangenheit widmen, hervorzuheben sind das Poem "Die Fahrt nach Stalingrad" und die Novellen "Kameraden" und "Kapitulation".
In zeitlicher Nähe zu "Kabelkran und blauer Peter", einer seiner ersten literarischen Erkundungen der DDR-Wirklichkeit, und dem autobiografisch-historischem Zyklus "Das Judenauto" arbeitet Fühmann an seiner Erzählung "Böhmen am Meer". Sie erscheint 1962 in einer mit Originalgrafiken versehenen Erstausgabe im Rostocker Hinstorff Verlag in einer kleinen Auflage von 500 Exemplaren und wird später ohne die Originale mehrfach nachaufgelegt. Im Unterschied zu manch anderen frühen Arbeiten wird sie von Fühmann in die von ihm Mitte der siebziger Jahre zusammengestellte Werkausgabe aufgenommen. In einem Brief von 1976 äußert er sich noch einmal zu seinem Text: Er hatte sich, so erklärt er, "nach der Shakespearischen Vorlage (und aus anderen Gründen) die Belebung des Steins [...] zu schildern auferlegt, um damit eine bestimmte, konkret und genau angebbare soziale Bewegung zu fassen". Und: "Ich will [...] ja gern gestehn, daß ich jene Naivität des Erzählers von "Böhmen am Meer" nicht mehr mein eigen nennen kann noch will. Die Probleme unserer Gesellschaft sind mit ihr nicht zu bewältigen, noch nicht einmal zu sehn. Aber eben darum geht es mir und wird es mir in Zukunft gehen."4 Welche soziale Bewegung, welcher sozialer Prozeß ist gemeint, und inwiefern spricht Fühmann rückblickend von Naivität? Zunächst eine geraffte und auf den politisch-weltanschaulichen Gehalt konzentrierte Inhaltsdarstellung.5

Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, wie Fühmann Jahrgang 1922, wie er in Böhmen geboren, Soldat der faschistischen Armee und in der Kriegsgefangenschaft zu neuen Überzeugungen gelangt, kommt zehn Jahre nach Kriegsende erstmals wieder ans Meer; es soll ein glücklicher, unbeschwerter Ostseeurlaub werden. Quartier nimmt er bei Hermine Traugott, einer wortkargen Frau mit seltsam leerem Blick, tonloser Stimme und versteinerten Gebärden. Der Erzähler begibt sich ans Meer und liest Shakespeares "Das Wintermärchen", handelnd in Sizilien und einem Böhmen am Meer, und glücklich endend mit der Auferstehung der verstorbenen und in Stein gehauenen Königin. "Ich ließ das Buch sinken; die Frau stand vor meinem Gesicht, und ihre Augen waren leer und versteinert, ohne Glanz. Wer hatte sie so verwandelt? Wer hatte ihre Seele versteint, welches Geheimnis verbarg sich hinter ihrer tonlosen Rede?" Ein Tagtraum führt ihn in die Kindheit zurück, er erinnert sich eines Besuchs des Baron von L. im Hause des Vaters; der Baron, ein "Vorkämpfer des Deutschtums in der Tschechoslowakei", hatte, Shakespeares Bild in faschistische Ideologie ummünzend, erklärt: "Das Reich werde bis zum Ural ausgedeht und alles, was nicht deutsch sei, aus diesem Raum nach Sibirien abgeschoben, und dann werde vielleicht einmal ein Böhmen am Eismeer liegen", "es könne kein Nebeneinander der Völker mehr geben, es gebe nur eins: die Unterwerfung unter das deutsche Gebot oder die Tilgung aus dem Buch der Geschichte." Wieder im Heute und aus dem Akzent Frau Traugotts auf ihre böhmische Herkunft schließend, nimmt der Erzähler an, daß ihre Eigenart aus dem Heimatverlust herrühre. "O Gott, nun wird sie mich fragen, ob wir noch einmal nach Böhmen zurückkommen, dachte ich, und ich dachte, daß wieder eins der Gespräche beginnen werde, wie ich sie schon oft mit Umsiedlern geführt hatte, eins der Gespräche über die Unumgänglichkeit der Aussiedlung und das Trügerisch-Gefährliche einer Hoffnung auf die Rückkehr. Ich hatte solche Gespräche nie gescheut, ich war ja selbst Umsiedler und bejahte die räumliche Trennung der beiden Nachbarvölker. Alle guten Gründe sprachen dafür; um Argumente war ich nicht verlegen, allein wie sollte ich in diesem Falle argumentieren?" Im mühsam geführten abendlichen Gespräch mit Frau Traugott wird diese Annahme jedoch nicht bestätigt; er erfährt, daß sie aus einfachen Verhältnissen stammt, Gutsarbeiterin in Böhmen war, ihr Mann 1943 als Soldat gefallen ist, sie im Herbst 1945 mit ihrem damals fünfjährigen Sohn in das kleine Ostseedörfchen umgesiedelt wurde - und daß sie panische Angst vor dem Meer hat.
Den Bürgermeister an seine Verantwortung zu erinnern, ihr einen Wegzug von der sie ängstigenden See zu ermöglichen, sucht er am nächsten Morgen das Gespräch mit ihm. Diesen tatkräftigen wie reflektionsfähigen Mann ("Sicher, so dachte ich, trägt er das kleine Oval mit der roten Fahne und den ineinander verschlungenen Händen am Revers [...].") sorgt das Schicksal von Frau Traugott schon länger; sie aber, so schildert er, will nicht weg aus dem Dorf, und die Angst vor dem Meer hatte sie bereits, bevor sie hierher umgesiedelt wurde. Der Bürgermeister war 1945 aus dem Konzentrationslager befreit worden, er hätte als Antifaschist wohl in Böhmen bleiben können, ging aber mit den Umsiedlern, um, so die Erzählersicht, "mit ihnen zu sprechen und sie zu lehren, ihr Leben nicht als blindlings geworfenes Schicksal zu erleiden, sondern sinnvoll zur Zukunft hin zu gestalten". Er berichtet, daß er sich Frau Traugotts schon im Sammellager angenommen hatte, und sie ein jähes Grauen erfaßte, als das Ziel des Transport bekannt wurde. "Natürlich konnten wir den Transport nicht umorganisieren, Frau Traugott kam hierher und bekam ihr Häuschen und ein Stück Land, landeinwärts, nicht hart an der See, und als ich dann sah, daß sie trotz allem am Meer nicht glücklich werden könne, bemühte ich mich, sie von hier wegzubringen, aber sie sträubte sich." Bis auf Frau Traugott, gibt der Erzähler den Bürgermeister wieder, haben sich die anderen Umsiedler "gut eingelebt, es habe ja jeder ein Dach über den Kopf bekommen und die altgewohnte Arbeit auch, und er nannte den Bäckermeister mit seiner achtköpfigen Familie und den Lehrer Neugebauer und die Bauern Friedmann und Seifert und die Leiterin des Konsums und den Briefträger Nachtigall [...]."
Während seiner Urlaubszeit kann der Erzähler das auf Frau Traugott lastende Geheimnis nicht enträtseln, er fährt bedrückt nach Berlin zurück. Da sie ihm auf seine Nachfrage hin aber bestätigt hatte, auf dem Gut des Barons von L. gearbeitet zu haben und er in ihren Augen dabei eine Bewegung sah: "heiligen Haß", begibt er sich in der Hoffnung, Erinnerungsanstöße zu erhalten, zum "Sudetendeutschen Heimattreffen" nach Westberlin, bei dem Baron von L. als Redner angekündigt ist. Der Egerländer Marsch ertönt zur Eröffnung und setzt bei ihm eine Assoziationskette in Gang, die Wahrnehmung der bemühten Symbolik von Trachten und Ritualen mischt sich mit Bildern des geschichtlich Erfahrenen - der enthusiastischen Begrüßung der Wehrmacht beim Einmarsch in Böhmen, der Gewalttaten gegen Juden und Tschechen, der deutschen Panzer vor der Prager Burg, der Auslöschung Lidices, der Angst der beim Rückzug der deutschen Truppen in die Keller Geflüchteten. "Wir hatten versucht, die anderen auszurotten; nun würden die anderen uns ausrotten, Auge um Auge, Zahn um Zahn! Sie werden die Keller verriegeln und uns hier krepieren lassen, dachten wir, oder vielleicht werden sie gnädig sein und uns an die Wand stellen und zusammenschießen, oder vielleicht geschieht gar das kaum zu Erhoffende: sie werden uns das Leben schenken und uns irgendwo auf einer Insel Sachalin ansiedeln, in irgendeinem Bleibergwerk oder irgendwo in der Tundra. Und dann war der Tag der Kapitulation gekommen, und dann klopften sie an die Tür und sagten: Packt eure Sachen und geht über die Grenze in euer Land und lernt, gute Nachbarn zu werden, und einer sagte noch: Wir wünschen euch Glück. So hatten wir denn unser Bündel gepackt und waren über die Grenze gegangen, in den einen Teil Deutschlands, das damals noch eins war und doch schon gespalten, und in dem einen Deutschland gab man den Umsiedlern ein Stück Land und eine Wohnung und eine ehrliche Arbeit, und in dem anderen Deutschland steckte man ihre Kinder in tote Trachten und speiste sie ab mit einer Hoffnung, die mörderisch war." Bei der Rede des Barons von L. ("Er sprach von Freiheit und ich sah seine Güter und Wälder, die nun ihm nicht mehr gehören; er sprach von Selbstbestimmung, und ich sah die Geiseln am Richtplatz; er sprach vom Recht auf die Heimat, und ich sah ihn das Glas erheben auf ein Böhmen am Arktischen Meer.") tritt ihm eine Erinnerung jäh ins Bewußtsein, die ihn erkennen läßt, was der Grund der Verstörung Frau Traugotts ist: Mit seinem Vater war der Erzähler im Sommer vor dem Krieg auf einer Nordseeinsel, der Baron "hatte uns manchen seiner Abende geschenkt". Als sich herausstellte, daß das Dienstmädchen der Baronin, obwohl unverheiratet, schwanger ist, wurde sie sofort entlassen. Im Gefühl der Ausweglosigkeit versuchte sie ihrem Leben ein Ende zu setzen, die Flut aber spülte sie an den Strand und sie konnte gerettet werden. "[N]un wußte ich, daß Baron von L. der Mörder war, der die Lebenskraft von Frau Traugott zerstört hatte. Er war ihr Mörder; er hatte ihre Lebenskraft gebrochen; er war ein Mörder, wie seinesgleichen Mörder sind." "[I]n diesem Augenblick", so der Erzähler, "sah ich mein Land vor Augen, mein Land, das wie nie meine Heimat war, und ich lief die Straße hinunter und eilte der S-Bahn zu, um in das Berlin zurückzufahren, in dem die Mörder ohne Freiheit sind ...".
Um ihr zum 40. Geburtstag zu gratulieren, besucht der Erzähler im Herbst noch einmal Frau Traugott. Der Bürgermeister ist anwesend und überbringt die Glückwünsche der Gemeinde. "Alle hier sein so gut zu mir", bedankt sie sich, und der Erzähler weiß nun auch, warum Frau Traugott trotz ihrer Angst vor dem Meer nicht wegziehen will: "Sie war den größten Teil ihres Lebens geschunden und getreten und herumgestoßen worden, und dann hatte sie das erste Mal eine menschliche Gemeinschaft erfahren, in der man ihr half, in der man ihr ein Häuschen gab und Land und eine Heimat, die mehr war als das altvertraute Land mit seinen Bergen und Bächen und Kapellen überm Hang; es war eine menschliche Gemeinschaft, in der sie sich geborgen fühlte trotz der fremden Landschaft, vor der ihr schauderte." Frau Traugotts nunmehr 15jähriger Sohn kommt vom Baden, und der Erzähler, das Fühmannsche Alter ego, schließt mit folgenden Sätzen: "[I]ch gab dem Jungen die Hand und sah beglückt, wie er naß und strahlend vor mir stand, ein junger fröhlicher Mensch, der im Meer gebadet hatte, und nun sah ich jene andre Frau, die Königin aus dem Märchen, die, Stein, nach sechzehn Jahren beseelt vom Sockel stieg, und ich sah die Königin und die ehemalige Magd und sah, daß sie in ihrem Sohn erlöst war, und ich wußte, ich durfte auch für sie selbst noch hoffen. Frau Traugott kam ums Haus, einen dampfenden Krug in der Hand. "Ich hab Tee gÂ’macht", sagte sie, und ihre Stimme klang ohne Ton, und sie sah an uns vorbei auf die Düne, und auf der Düne wehte grün im frischen Wind das Gras, und wir hörten die brausende See, die ewig an Böhmens Küste schlug."

* * *

Die inhaltliche Botschaft des Textes vermittelt sich dem Leser auf zweifache Weise, einerseits über die Gedanken, den inneren Monolog des Erzählers, andererseits über das schrittweise Kennenlernen des Lebensschicksals von Hermine Traugott. In ihrem Kerngehalt läßt sie sich folgendermaßen umreißen: Die Aussiedlung der Deutschen aus den Territorien der sich im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges rekonstituierenden Staaten ist historisch gerechtfertigt. Sie ist eine legitime Reaktion auf die extrem gewaltsam betriebenene faschistische Politik der Unterwerfung anderer Völker bis hin zu ihrer Vernichtung. Die Schuldigen an Faschismus und Krieg setzen in der Bundesrepublik ihr verbrecherisches Wirken fort, während in der DDR Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Mit der politischen und wirtschaftlichen Entmachtung der alten Eliten vollzog sich hier zugleich ein Prozeß sozialer Befreiung. In der Menschlichkeit der neuen Gesellschaft finden die Umsiedler erst wirklich Heimat. Die Übereinstimmung dieses Denkmusters mit der offiziellen DDR-Ideologie Ende der fünfziger / Anfang der sechziger Jahre ist augenscheinlich, und sie betrifft auch das, was jeweils beschwiegen wird: Das Leid der Flüchtlinge bei der Vertreibung, die konflikthaften Auseinandersetzungen an den Aufnahmeorten. In Fühmanns Text kommt das Wort ‚Vertreibung‘ nicht vor, offenbar, weil mit ihm eben zuviel Leid assoziiert wird; die Schreckenserfahrung Hermine Traugotts bindet er gerade nicht an das Wie der Aussiedlung, sondern an ihre unterpriveligierte soziale Position vor der Aussiedlung. Zwar hatte Fühmann als damaliger Kriegsgefangener den Abschub nicht erlebt, und die Figurenzeichnung und Argumentation sind generell nicht auf Konkretion und Detaillierung angelegt, jedoch bleibt der Eindruck bewußer Beschönigung. Er drängt sich dem Leser auch bei der Schilderung des neuen Lebens auf - zu harmonisch, bar jedes Konflikts erscheint die dörfliche Gemeinschaft mit ihrem ideal gezeichneten Bürgermeister, zu vordergründig das Bild des dem Meer entsteigenden Sohnes von Frau Traugott (mich erinnert es an die Malerei Norbert Biskys). Dieser Blick auf die eigene Gesellschaft ist wohl gemeint, wenn Fühmann später von Naivität spricht, von der des Erzählers und der seinen6; und er ist Anlaß für Ingeborg Bachmann, in ihrem Gedicht "Böhmen liegt am Meer" Fühmann die einer wahrhaftigen Literatur immanenten utopischen Potentiale deutlich zu machen7.
Freilich hatte das der Erzählung eingeschriebene Denkmuster auch gewisse empirische Evidenzen für sich. Das betraf zunächst das vergangenheits- wie aktuell-politisch durchaus problematische Auftreten der Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik mit ihren stetigen Rückkehrforderungen, der Herauslösung der Aussiedlungen aus dem historischen Kontext und den Schuldzuweisungen an die ‚Vertreiberstaaten‘, dem militanten Antikommunismus. Fühmann, der sich schon 1955 in seinem Pamphlet "Die Literatur der Kesselrings" vehement mit der westdeutschen Remilitarisierung und der sie begleitenden Memoirenwelle der Hitlergeneralität auseinandergesetzt hatte, sah sich hier als Antifaschist gefordert. In einem Interview von 1971 berichtet er: "Als ich meine Erzählung Böhmen am Meer schrieb, [...] mußte ich um dieser Erzählung willen auch zu einem dieser ‚Heimattreffen‘ gehen, um einfach mal zu sehen, wie so etwas ausschaut. Ich war da, und es war für mich ein so bestürzendes Erlebnis, daß ich wirklich fassungslos - oft gebraucht, dieses Wort, aber ich war wirklich fassungslos - dastand und dachte, die Zeit wäre stehengeblieben, und ich sei irgendwo im Sudetengau im Jahre 1938 [...]."8 - In den Arbeitsmappen Fühmanns zu "Böhmen am Meer"9 finden sich u.a. Materialien zum "Tag der Heimat" 1960 des Berliner Landesverbands der Vertriebenen. Sein Motto: "Selbstbestimmung auch für Deutsche"; als Redner waren nach dem Einzug der Trachtengruppe und der Fahnen angekündigt Willy Brandt als Regierender Bürgermeister und Ernst Lemmer als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Die Ausgabe von "Unsere schlesische Heimat. Zeitung für ein deutsches Schlesien" vom 1. September 1960 kündigt als Auftakt für den "Tag der Heimat" eine "festliche Sitzung der Vertreter aller Landsmannschaften mit Delegationen aus allen Landtagen" an, klagt das "Recht auf Heimat" ein und fordert die "Wiedervereinigung Deutschlands", die "Rückgabe der deutschen Ostprovinzen jenseits von Oder und Neiße". Die mundartlich abgefaßte Einladung zu einer Kirmes des Schlesier Vereins Rübezahl Berlin weist als Programmpunkt eine "Fest-Oansproache des Guttsherrn" aus.
Und im Osten Deutschlands waren eben diese Gutsherren ihrer herrschaftlichen Stellung enthoben worden. Im Zuge der Bodenreform wurden die Eigentumsverhältnisse auf dem Lande deutlich verändert; nicht wenige Umsiedler nutzten die Chance, als Neubauern Haus und Hof zu erhalten. Die Entnazifizierung und die Fluchtbewegung insbesondere des bürgerlichen Mittelstandes gen Westen erforderten die Rekrutierung einer neuen Funktionselite beim Wiederaufbau von Verwaltung und Industrie, für die aus solchen Positionen vorher sozial Ausgeschlossenen ergaben sich beträchtliche Aufstiegsmöglichkeiten. Langsamer zwar als im Westen, aber doch sichtbar verbesserten sich Infrastruktur und Wohn- und Versorgungsbedingungen. Verglichen mit der früheren Lebenssituation vieler Umsiedler und den katastrophalen Zuständen, die Faschismus und Krieg hinterlassen hatten, vollzog sich eine positive Entwicklung, die in ihrer egalitären Ausrichtung zugleich verbreiteten Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen entgegenkam - ein gesellschaftlicher Prozeß von Veränderung und Umwälzung.
In diesem schon eine soziale Befreiung zu sehen, mag man heute euphemistisch finden. Mit ihren Leerstellen, Beschönigungen und ihrer radikalen Schwarz-Weiß-Trennung war die Gedankenstruktur von "Böhmen am Meer" somit jedoch zugleich eine Ideologie aktivistischen Handelns nach dem fatalen Niedergang Deutschlands, der Suche nach und der Hoffnung auf einen Weg jenseits von faschistischem Völkermord und kapitalistischer Ausbeutung. Es sollte eine Zukunft des friedlichen Miteinanders mit den Nachbarstaaten und -völkern sein, darum die Fühmannsche Anerkennung der Legitimität der Aussiedlung und der neuen Grenzziehung. Es waren die ökonomischen Wurzeln von Aggressivität und Rassenwahn zu kappen, darum das In-Eins-Setzen von Gutsherr und nazistischem Eiferer. Es war gegen die Verführung rückwartsgewandten Denkens aufzutreten, darum die Entlarvung der Vertriebenenverbände. Und das Erreichte war zu preisen, darum die literarische Konstruktion der Entscheidung Frau Traugotts, in der humanen Gemeinschaft am Meer zu bleiben. In diesem Sinne wäre festzuhalten:
- "Böhmen am Meer" ist ein exemplarisches Beispiel für die Behandlung von Umsiedlung und Vertreibung in der DDR-Literatur der fünfziger und sechziger Jahre, gerade insofern hier die DDR-offiziellen Grundpositionen eindeutig zum Ausdruck kommen.
- Dem Autor, der souverän mit den Shakespearischen Motiven umgeht und beeindruckend das Meer in seiner Vielfalt beschreibt, der sich seiner Sprachkraft bewußt ist und zielsicher die Gestalt des Ich-Erzählers handhabt, dessen Handlungen mit Traum- und Erinnerungssequenzen bruchlos zu verbinden vermag, hat der Ideologe die Hand geführt: der Parteifunktionär in der NDPD-Zentrale, der Fühmann bis 1958 war.

* * *

"Literatur geht in Ideologie nicht völlig auf"10, heißt es dann - noch sehr zurückhaltend - in seiner Rede auf dem DDR-Schriftstellerkongreß 1973, und in "Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens" begreift sich Fühmann als Moralist11 und macht rückblickend den Abschied von seiner früheren politisch-literarischen Konzeption öffentlich: "Die neue Gesellschaftsordnung war zu Auschwitz das Andere; über die Gaskammer bin ich zu ihr gekommen und hatte es als den Vollzug meiner Wandlung angesehen, mich ihr mit ausgelöschtem Willen als Werkzeug zur Verfügung zu stellen, anstatt ihr Mitgestalter mit eben dem Beitrag, den nur ich leisten könnte, zu sein. [...] Vom Verständnis des Sozialismus als einer Gemeinschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Vorbedingung der freien Entwicklung aller ist, war ich so weit wie je entfernt. Dies aber konnte nicht das Ende, es konnte erst der Anfang der Wandlung sein"12. Wie Fühmann nach "Böhmen am Meer" mit den darin aufgerufenen Problemstellungen umging, soll abschließend kurz umrissen werden.

Erstens: Zur Frage der Darstellung der eigenen Gesellschaft
Veränderung und Gewinn bei der literarischen Darstellung der eigenen Gesellschaft dokumentieren insbesondere die "Spiegelgeschichte" und die Erzählung "Drei nackte Männer" 13. Zwischen 1973 und 1975 entstanden, ist ihr Thema die Gefahr der Machtanmaßung der Führenden gegenüber den Geführten im Realsozialismus - Naivität und Harmoniesucht von "Böhmen am Meer" sind hier deutlich überwunden.

Zweitens: Zum Gewinnen einer neuen Heimat
Fühmann hatte den Heimat-Begriff in "Böhmen am Meer" gewissermaßen objektiviert, Mitte der Sechziger aber wird ihm dessen auch hochgradig subjektiv-individueller Gehalt schmerzvoll klar. Beim Versuch, in der märkischen Landschaft auf den Spuren Fontanes zu wandeln, mußte er erkennen, daß "Sand, Kiefern, Weiden vor Buchen", der fremde Dialekt und die fremde Geschichte seine Schöpferkraft und Kreativität nicht anzuregen vermögen. Im erst posthum veröffentlichten Auszug aus dem "Neuruppiner Tagebuch" heißt es: "Ich bin von der Theorie eines Heimatfindens ausgegangen. [...] Ich weiß jetzt mehr denn je, daß meine Heimat Böhmen ist - das Andere, obwohlÂ’s so nah an dem Hiesigen dranliegt. Ich habe mich einem Trugschluß hingegeben. Er sah so aus:
1. Böhmen ist deine Heimat gewesen, und du hast sie durch politisch-historische Gründe, die unbedingt zu akzeptieren sind, verloren.
2. Preußen ist durch politisch-historische Gründe, die unbedingt zu akzeptieren sind, das Land geworden, in dem du dich aufhalten mußt.
3. Preußen ist darum deine Heimat.
Der Fehlschluß ist berühmt: Jede Gans hat zwei Beine. Jeder Mensch hat zwei Beine. Also ist jeder Mensch eine Gans. Solche Trugschlüsse löst man nicht mit einer Suada."14
Mehr und mehr jedoch wurde die DDR aufgrund ihrer mit den Verengungen der fünfziger Jahre nicht wirklich brechenden Kultur-, Ideologie- und Gesellschaftspolitik Fühmann auch als eine - hier wieder im objektivierendem Sinne gemeinte - ‚geistige Heimat‘ fremd. Er suchte und fand sie zeitweilig im Rostocker Hinstorff Verlag15, und mit zunehmender Intensität setzte er sich dafür ein, das Land, das er nach der Kriegsgefangenschaft gewählt hatte, politisch-kulturell heimatlicher zu machen. Eine unvollständige Auflistung seiner Interventionen: Fühmann gehört zu den Erstunterzeichnern des Protestes von DDR-Künstlern gegen die Ausweisung Wolf Biermanns; er versucht, den Schriftstellerverband zu bewegen, Sarah Kirsch für den Verbleib in der DDR zu gewinnen; er protestiert gegen den Ausschluß von Heym und anderen aus dem Schriftstellerverband; sein Offener Brief an Klaus Höpcke weist das Wahrheitsmonopol der SED zurück und fordert Öffentlichkeit ein; Fühmann setzt sich vehement für junge Schriftsteller und die Verbesserung ihrer Veröffentlichungsmöglichkeiten ein; in seiner Rede bei der Berliner Begegung zur Friedensförderung 1981 ergreift er Partei für die sich bildende unabhängige Friedensbewegung. Und gegen Widerstände - das MfS hatte gegen Fühmann 1976 den operativen Vorgang "Filou" eröffnet - setzt er die Veröffentlichung seiner Werke durch: Unverstümmelt erscheint sein großer Trakl-Essay, auch eine Abrechnung mit den eigenen Standpunkten der Fünfziger; der Erzählungsband "Saiäns-Fiktschen" wird verlegt, der die DDR-Stagnation in der Form einer ‚schwarzen Utopie‘ beschreibt.
In welche ihn fast zerreißenden Widerspruchspole sich Fühmann gespannt sah, machen zwei späte Bekenntnisse deutlich. Bei der Entgegennahme des Geschwister-Scholl-Preises des Verbandes Bayrischer Verlage und Buchhandlungen und der Stadt München im November 1982 formuliert er: "[I]ch bin ein Bürger des deutschen Staates, der sich als ein Staat des real existierenden Sozialismus versteht, und wenn ich auch - was kein Geheimnis ist - mich mit diesem meinem Staat und Führungskräften meiner Gesellschaft in konflikthaften Dissensen befinde, nicht zuletzt im Problem der Wahrheit als einer unteilbaren Größe und eines nicht instrumentalisierbaren Wertes, so stehe ich doch hier vor Ihnen als dieses Staates Bürger aus freiem Willen, in freier Entscheidung, auf Grund meines Nachdenkens über Auschwitz, und aus diesem Grunde als Sozialist."16 In seinem Testament, im Juli 1983 geschrieben, heißt es dann: "Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten."17 - Fühmann starb am 8. Juli 1984. Seine Beurteilung der eigenen literarischen Leistung wird man nicht teilen müssen. 1989/90 ist bei manchen die Hoffnung auf eine DDR von Menschenwürde und Menschenglück noch einmal aufgelebt, und sie erfuhren ihren Schmerz des Scheiterns.

Drittens: Alte Heimat und Legitimität der Aussiedlung
Seine Position, daß die Aussiedlung politisch-historisch gerechtfertigt sei, hat Fühmann nicht nur nicht korrigiert, sondern auch nach "Böhmen am Meer" mehrfach bekräftigt - im "Neuruppiner Tagebuch" (siehe obiges Zitat) , in "Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens"18 und noch 1981 im Rahmen einer Diskussion der Akademie der Künste der DDR: "Meine Heimat ist Böhmen gewesen. Diese Heimat habe ich verloren. Ich habe mich deutlich genug dazu geäußert, warum ich sie verloren habe, und das ich das [L.K. als] rechtens empfinde."19 Ich denke, daß diese Position unmittelbarer Teil seines antifaschistischen Credos war. Fühmann hat sich literarisch intensiv mit seiner Kindheit und Jugend befaßt, ein wehmutsvolles Erinnern an Geborgenheit im Elternhaus, dörfliche Gemeinschaft und Schönheit der Landschaft ist da nicht entstanden. Vielmehr ein bitteres Nachzeichnen der gesellschaftlich-sozialen Bedingungen seines ihn immer wieder erschreckenden Wegs zum jungen Faschisten; neben dem "Judenauto" steht hier z.B. der Erzählungszyklus "Der Jongleur im Kino" und der Text "Den Katzenartigen wollten wir verbrennen". Man kann sagen, daß sich Fühmann im literarischen Nachforschen über seine Schuld ein sehnsuchtsvolles Erinnern an Böhmen als alte Heimat ausgebrannt hat. Diese Brandwunde schmerzte, und er war sich des damit zusammenhängenden Verlustes z.B. an lyrischer Produktivität durchaus bewußt. Wenn er schreibt: "[I]ch bin über Auschwitz in die andere Gesellschaftsordnung gekommen. Das unterscheidet meine Generation von denen vor ihr und nach ihr, und eben dieser Unterschied bedingt unsre Aufgaben in der Literatur"20, so schließt dieses sein Generationenschicksal eben Tragik, Verlust und Schmerz ein. Und ich glaube, Fühmann nicht falsch zu interpretieren, wenn ich meine, daß er die Ursachen und Gründe dafür eben nicht in Umsiedlung oder Vertreibung, sondern im faschistischen Irrweg Deutschlands sah.

Weiterführende Literatur:
Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden. Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht, Rostock 1982 (In der Bundesrepublik erschienen als: Franz Fühmann: Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung, Hamburg 1982).
Hans Richter: Franz Fühmann. Ein (un)verlorener Sohn Böhmens, in: Böhmen. Vielfalt und Einheit einer literarischen Provinz. Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll, Berlin 2000, S. 127-150.
Alexander von Plato, Wolfgang Meinicke: Alte Heimat - neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR, Berlin 1991.
* Überarbeitete Fassung des Vortrags zur Tagung "Flucht, Vertreibung und Erinnern. Zur politischen und literarischen Reflexion in der deutschen und osteuropäischen Nachkriegsliteratur" des Thüringer Forums für Bildung und Wissenschaft e.V. am 24.01.2004.
1 Franz Fühmann: Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schmitt, Hamburg 1983, S. 181.
2 Ebenda, S. 337.
3 Franz Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock 1983, S. 30.
4 Brief an Professor Bernhard vom 16.11.1976, in: Franz Fühmann: Briefe 1950-1984. Eine Auswahl. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schmitt, Rostock 1994, S. 208/209.
5 Vgl. "Böhmen am Meer", in: Franz Fühmann: Erzählungen 1955-1975, 3. Auflage Rostock 1982 , S. 283-318. Auf die Belegstellen der Einzelzitate wird hier verzichtet; sie sind in dem überschaubaren Text leicht aufzufinden.
6 Für die abschließenden Teile des etwa im gleichen Zeitraum entstanden ZyklusÂ’ "Das Judenauto" merkt er selbstkritisch "affirmative Pathetik" an, in: Franz Fühmann: Das Judenauto. Kabelkran und Blauer Peter. Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, Rostock 1979, S. 517.
7 Vgl.: Exkurs: Böhmen liegt am Meer als kritische Reaktion auf Franz Fühmanns affirmativ-ideologische Erzählung Böhmen am Meer, in: Jost Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, Bielefeld 1999, S. 70-77.
8 Josef-Hermann Sauter: Interview mit Franz Fühmann, in: Weimarer Beiträge 17 (1971) 1, S. 40/41.
9 Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, Franz-Fühmann-Archiv, Nr. 4, Mappe 2.
10 Franz Fühmann: Erfahrungen und Widersprüche, Rostock 1975, S. 88.
11 "Das moralische Element in der Literatur scheint mir heute all das zu sein, was auf die Demokratisierung der Gesellschaft zielt. Im weitesten Sinne des Wortes: aufklärerisch ... Natürlich folgt daraus nicht, daß der Schriftsteller Moralist sein müsse. Ich bin wohl einer". Franz Fühmann: Das Judenauto ... (FN 6), S. 350.
12 Ebenda, S. 478.
13 Beide in: Franz Fühmann: Erzählungen ... (FN 5).
14 Franz Fühmann: Im Berg. Texte und Dokumente aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Ingrid Prignitz, Rostock 1993, S. 305/306.
15 Vgl.: 150 Jahre Hinstorff, in: Franz Fühmann: Essays ... (FN 3), S. 494-509.
16 Franz Fühmann: Den Katzenartigen ... (FN 1), S. 342/343.
17 Franz Fühmann: Im Berg ... (FN 14), S. 307.
18 Franz Fühmann: Das Judenauto ... (FN 6), S. 407.
19 Protokoll der Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege der Akademie der Künste der DDR am 16.03.1981 "Weltliteratur und Nationalliteratur", Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, Signatur 927, S. 45.
20 Franz Fühmann: Das Judenauto ... (FN 6), S. 478.