Rede von Ralf Hoffrogge

Europäischer Aktionstag: Abschlusskundgebung des DGB 3.4.2004 Berlin

Europäischer Aktionstag Abschlusskundgebung des DGB 3.4.2004 Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Genossinnen, Freunde und Freundinnen,

Mein Name ist Ralf Hoffrogge und ich möchte euch herzlich im Namen der Berliner Studenten und Studentinnen begrüßen, von denen sicher auch viele heute dabei sind.
Aber zum glück sind die Studierenden nicht alleine auf der Straße - Arbeiter, ArbeiterInnen, Arbeitslose, Rentner, MigrantInnen und Jugendliche - alle sind Betroffene der asozialen Politik von Schröder und Konsorten, und nur wenn alle gemeinsam aufstehen, kann diese Politik gestoppt werden!

Denn es ist in der Tat eine Zumutung, was uns die Sozialdemokratie seit 1998 präsentiert. In seiner längst vergessenen Juso-Zeit beschimpfte Gerhard Schröder Helmut Kohl einmal als "Klassenfeind". Mittlerweile ist ihm dieser politische Instinkt völlig abhanden gekommen. Der "Genosse der Bosse" macht da weiter, wo Kohl aufgehört hat.

Für den Eurofighter und Kriegseinsätze am Hindukusch ist immer genug Geld da, für Schulbücher und ordentliche Gesundheitsversorgung reicht es angeblich nicht mehr:
Die geplante Anschaffung der 180 Eurofighter-Kampfflugzeuge wird voraussichtlich 15 Milliarden Euro kosten, während mittlerweile in fast allen Bundesländern Eltern die Schulbücher ihrer Kinder aus eigener Tasche zahlen müssen.
Entgegen aller sonstigen Behauptungen sind auch Haushaltsentscheidungen politische Entscheidungen. Wer hier von Sachzwängen spricht, ist schlichtweg ein Lügner.
Das Wort vom Sachzwang degradiert die politisch Verantwortlichen zu Ausführenden von vermeintlichen Naturgesetzen. Und da man Naturgesetze nicht kritisieren kann, sind die getroffenen Entscheidungen per se richtig, die Reformen notwendig, ein politischer Kurswechsel unmöglich.
Nichts davon ist wahr. All das Gerede über Sparzwänge, Sachzwänge und notwendige Reformen dient lediglich dazu, das schlechte Gewissen alt- und möchtergernlinker Abgeordneter zu besänftigen: wir würden ja gerne, aber wir können nicht anders. Und natürlich soll es uns davon abhalten, Fragen zu stellen, die Fragen, auf die es ankommt:
Warum zahlt jede Krankenschwester mehr Steuern als der gesamte Siemens-Konzern?
Warum wird die technische Ausstattung der Bundeswehr bis 2014 für ungeheure 82 Milliarden Mark modernisiert, wo doch der Staat angeblich pleite ist?
Warum soll die Arbeitszeit erhöht werden, wenn doch Millionen Menschen arbeitslos sind?

Diese Debatte um Arbeitszeitverlängerung ist ein besonders absurdes Beispiel für die herrschende politische Logik. Von 38,5 auf 42 Stunden will Stoiber die Arbeitszeit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst anheben.
Und auch in der Industrie sollen die Arbeitszeiten heraufgesetzt werden, natürlich ohne Lohnausgleich, man ist ja froh, wenn man überhaupt noch Arbeit hat.
Doch was soll das Alles? Die Produktivität steigt Jahr für Jahr, ein Arbeiter schafft pro Stunde immer größere Werte, in der Produktion wird immer weniger Arbeitskraft benötigt. Trotzdem sollen die, die noch einen Job haben, malochen bis zum Umfallen, und dem Rest wird es als persönliches Versagen angelastet, wenn er oder sie keinen Job mehr findet. Durch Zwangsmaßnahmen und Leistungskürzungen bis unters Existenzminimum sollen die Arbeitslosen "motiviert" werden, endlich wieder eine Stelle zu finden.
Schröder, Stoiber und Clement tun gerade so, als hätte es die technologischen Revolutionen der letzten 30 Jahre nicht gegeben, als wären persönliche Faulheit und moralischer Verfall Ursache für Massenarbeitslosigkeit. Alles ein Vermittlungsproblem - Lächerlich!
Das es diese Arbeit nicht mehr gibt, und nie wieder geben wird, dass ist die Einsicht, der sich nicht nur die herrschende Politik, sondern auch viele Kritiker des Sozialabbaus verweigern.

Ein Blick in die Geschichte zeigt die ganze Absurdität der Mehrarbeitsdebatte. In Deutschland wurde nach den revolutionären Massenstreiks des Jahres 1918 der 8-Stundentag eingeführt. Damals galt noch die Samstagsarbeit, also eine 48-Stunden Woche. Heute beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit in Deutschland 39,9 Stunden und liegt damit im EU-Durchschnitt.
Im nächsten Jahr sollen es dann wieder 42 Stunden sein, und wenn in diesem Geiste weitergewütet wird, sind wir im Jahr 2018 wieder bei der 48 Stunden-woche. 100 Jahre Arbeiterbewegung wie weggewischt.

Und wozu das alles? Clement sagt: für den Standort Deutschland. Auch manch ein Gewerkschafter möchte gerne den Standort stärken, um die Lage der Arbeiter zu verbessern.
Unausgesprochen, weil wir es alle schon in der Schule gelernt und völlig verinnerlicht haben, steht dahinter die Idee: Was für den Standort Deutschland gut ist, ist gut für uns alle. Der Standort Deutschland, das Boot, in dem wir alle sitzen.
Doch wie sieht es denn aus, unser gemeinsames Boot?
Angesichts der ökonomischen Dauerkrise ähnelt es mehr und mehr der Titanic:

337 Passagiere saßen dort in der Erste Klasse - zwei Drittel überlebten den Untergang
285 Menschen in der zweite Klasse - die Hälfte überlebten
1606 Personen stellten die Besatzung und die 3 Klasse - nur noch ein viertel überlebte.

So sieht es aus, das Boot. Wir alle sitzen drin, nur einige sitzen sehr viel näher an den Rettungsbooten in Form von Aktienpaketen und privater Altersvorsorge. Da fragt man sich doch: ist der Kapitalismus genauso unsinkbar wie die Titanic?

Karl Marx schrieb 1847 im Kommunistischen Manifest: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinsamen Geschäfte der gesamten Bourgeoisklasse verwaltet"
Damals wie heute ist dieser Satz eine Provokation. Dennoch: der Wirtschaftsstandort Deutschland, was sind denn das anderes als die gemeinsamen Interessen der Bourgeoisie, oder, moderner ausgedrückt, der Unternehmerschaft?

Aus dieser Sicht wird verständlich, warum CDU und SPD gleichermaßen FDP-Politik machen.
Denn in der ökonomischen Krise besinnt sich der Staat aufs Kerngeschäft, eben das sichern der Geschäfte. Es gibt keinen Überschuss mehr zu verteilen, mit dem die Interessen der abhängig Beschäftigten wenigstens teilweise befriedigt werden könnten.
Diese Interessen werden aufs heftigste missachtet: weder die Rente im Alter ist sicher, und auch das Studium der Kinder wird demnächst gebührenpflichtig. Das sogenannte Studienkontenmodell, das die PDS Delegierten morgen auf ihrem Parteitag in Neukölln beschließen sollen (für allse demonstrationswilligen: ab 10 Uhr in der Wissmannstraße 23-), ist nämlich nichts anderes als die Abschaffung der Studiengebührenfreiheit. So werden wieder einmal in der Geschichte nur noch die Kinder der Elite Zugang zu höherer Bildung erhalten.

Festzuhalten bleibt: die Interessen der abhängig Beschäftigten und ihrer Familien, der Rentner und Arbeitslosen sind im Parlament nicht vertreten, und der Staat wird ihnen - uns - in Zukunft auch die Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse verweigern.

Das bedeutet, daß wir uns nicht auf diesen Staat verlassen können, daß wir von ihm nichts zu erwarten haben.

Wenn es allerdings gar nicht die Aufgabe des Staates ist, sich an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren, dann kann die Lösung auch nicht in einer wieder neuen Linkspartei liegen, sondern nur im Widerstand auf der Straße.
Einige werden vielleicht den Kopf schütteln, wenn ich jetzt das Wort "Klassenkampf" in den Mund nehme. Wieder mal ein Student, der den Arbeitern erzählt, was sie tun sollen. Aber auch ich gehöre zu jenen 2 Dritteln der Studierenden, die neben dem Studium jobben müssen, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Zu jenen 2 dritteln, die sich die zukünftigen Studiengebühren nicht leisten können.
Der studentische Streik im letzten Semester richtete sich explizit gegen Bildungs- UND Sozialabbau, denn nur durch Solidarität zwischen den betroffenen Gruppen der Gesellschaft läßt sich die herrschende Politik stoppen, insbesondere die Arbeiter und Gewerkschaften sind eine Macht, ohne die effektiver Widerstand kaum möglich ist.
Und mit Solidarität meine ich nicht ein irgendwie geartetes Bündnis für Arbeit zwischen Arbeitern und Unternehmern. Diese Burgfriedenspolitik hat, genauso wie die Mitarbeit in der Hartz-Kommission, zur unerträglichen Lähmung der Gewerkschaftsbewegung und des Widerstandes gegen Sozialabbau geführt.

Klassenkampf ist etwas anderes - man schaue etwa nach Frankreich, wo sich die Arbeiter und Arbeiterinnen die 35-Stunden Woche für alle Branchen erstreikt haben.
Das war freilich nur durch Solidarität möglich, durch Generalstreiks, die alle Branchen und Berufe vereinten. Auch in Italien gab es vor kurzem einen Generalstreik. Die Österreicher sind ebenfalls aufgewacht: im letzten Jahr fand dort der erste Generalstreik seit 50 Jahren statt.
Auch in Deutschland muß der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wieder agressiv thematisiert werden. Auch wir brauchen einen Generalstreik. Denn: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren!