Metropolenblick

Karl-Heinz Roths

"Perspektiven von oben - Gegenperspektiven von unten" hieß der Text von Karl-Heinz Roth, den wir in der letzten ak abgedruckt hatten - verbunden mit einem Aufruf zu einer breiten Diskussion ...

... über die Rothschen Thesen zur Agenda 2010 und dem globalen Akkumulationsregime. Als erstes folgt Detlef Hartmann unserem Debattenaufruf. Sein grundlegender Einwand: Roth formuliert keine Gegenperspektiven von unten. Die gegenwärtige Akkumulationsoffensive wird hauptsächlich aus den innovativen Zentren der USA, EU und Japan voran getrieben, wobei das alte geostrategische Gefälle erneuert wird. Ihre größte Härte zeigt diese Offensive im Aufprall ihrer Wertschöpfungs- und Anpassungsstrategien auf die Peripherien der drei Kontinente. Gegenperspektiven müssen also von der Frage ausgehen: Wie sieht dieser Aufprall dort aus, wie die Kämpfe? Beispiel China. Hier führt die Akkumulationsoffensive zur Zertrümmerung der Staatbetriebe, zu einem noch stärkeren Druck auf die Agrarpreise und die Steuerlast der etwa 800 Mio. BäuerInnen. Gleichzeitig bedeutet sie eine gnadenlose Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen von WanderarbeiterInnen und ihre Ausbeutung in den Sonderwirtschaftszonen des westlichen Kapitals. Und der kapitalistische Zugriff heißt auch städtische Infrastrukturmaßnahmen, Entfesselung der jungen kapitalistischen Eliten und wachsende Repression. Die Vielfalt der Widerstandsformen reicht von hier zu Lande kaum vorstellbaren Besetzungen ganzer Städte und wilden Streiks bis zu militanten Auseinandersetzungen unter Beteiligung tausender Polizisten und BäuerInnen. Letztere sind das Subjekt einer Gegenperspektive von unten. Oder ein anderes Beispiel: Wie kommt bei Roth der Widerstand in Polen gegen die Schockliberalisierung durch die "roten Thatcheristen", die aus den Kommandoebenen der USA und EU moderiert wird, vor? Ein Widerstand, der sich seit 1999 in den Aktionen der Bergarbeiter und Eisenbahner, der radikalisierten Krankenschwestern mit ihrer Besetzung des Gesundheitsministeriums und den landesweiten Bauernprotesten manifestiert. "Seine (des Akkumulationsregimes) Planer und Vordenker sind sich der Tatsache durchaus bewusst, dass die letzten noch verbliebenen äußeren Wachstumsquellen - vor allem die Rekonstruktionszone in Ostmitteleuropa und der gigantische ,late comer` China - in 10-15 Jahren erschöpft sein werden. Dann wäre (das kapitalistische Weltsystem) zum Untergang verurteilt, wenn ihm der Umschlag zu einer nach innen zurückschlagenden Dynamik nicht gelingen sollte. Hier sehe ich die entscheidende Ursache für die gnadenlose Härte." (Roth in ak 483) Und nun wendet sich der Artikel der mit der Agenda 2010 und der in Deutschland eingeleiteten Sozialpolitik zu.

Die Gegenperspektive beginnt in China

Die chinesischen und osteuropäischen Unterklassen stehen für mehr als fünf Milliarden Menschen - Subjekt des Kampfs und Quelle der Erkenntnis im weltweiten sozialen Antagonismus (Walter Benjamin). Bei Roth werden sie verkürzt und abgeschrieben - als versiegende Quelle des Wachstums und Objekt des sich erschöpfenden Verzehrs. Denn nun geht es mit gnadenloser Härte ins Innere Deutschlands. Das ist nicht "Gegenperspektive von unten". Die müsste an den Erwartungen, Hoffnungen, Gerechtigkeitsvorstellungen anknüpfen, die die trikontinentalen Unterklassen in ihren Kämpfen zur Geltung bringen und bis in die metropolitanen Perspektiven übertragen. Die Zirkulation ihrer Kampferfahrungen und -inhalte globalisiert sich in Anbetracht der beispiellos entwickelten Mobilität von Menschen und Informationen stärker als in jedem früheren Zyklus und sprengt die Grenzen in den metropolitanen Köpfen. Diese perspektivische Verkürzung hat ihren konzeptionellen Grund in fragwürdigen Vorstellungen vom Umbruch des Akkumulationsregimes. Das Neue daran sei "der Weg ins Innere der Gesellschaft", die "Kontrolle über Produktion und Verteilung auf die gesamte Gesellschaft." Das ist grundsätzlich alles andere als neu. Es ist die historische Tendenz des Kapitalismus, den Ausweg aus zyklischen Krisen verschärften Zugriffen auf die lebendigen Ressourcen der Wertschöpfung zu suchen. Vor allem Fordismus und Taylorismus waren davon geprägt. Die Fabrikkämpfe belehrten uns über die arbeitsorganisatorischen Zugriffe auf die sozialen und psychischen Dimensionen des Arbeitsverhaltens (Fließband, Psychotechnik). Die Kämpfe der Frauen und Jugendlichen legten die Steigerung des patriarchalen Kommandos offen, die die Durchsetzung der fordistischen Kernfamilie bedeutete. Und die Hausbesetzungen und Stadtteilkämpfe offenbarten die intensivierte Enteignung, die sich hinter den stadtplanerischen Konzeptionen und dem Leitbild der maschinisierten Stadt verbarg. In allen sozialen Bereichen entwickelten die Kämpfe um Emanzipation und Befreiung, Gegenperspektiven zur "Fabrikisierung der Gesellschaft" und zur "inneren Landnahme"; Gegenperspektiven für eine Wiederaneignung des eigenen Lebens, die über die Lohnfrage weit hinaus gingen. In den Ländern der "Dritten Welt" enthüllten die Kämpfe gegen die Politik von IWF und Weltbank die "blutige Taylorisierung" (Alain Lipietz), die zerstörerische Intensität des kapitalistischen Zugriffs. Insgesamt hat der Fordismus gewaltige Reservearmeen der Massenarmut mobilisiert. Roths nostalgische Berufung auf eine angebliche "Vollbeschäftigungsmaxime" wirbt für ein Produkt aus den fordistischen Ideologiefabriken. All diese Kämpfe brachten "die Perspektive von unten" zur Geltung und das Regime in die Krise. Das Kapital wich in die transnationale Reorganisation aus und veränderte die Strategien des sozialen Kriegs. In einer Kette "neoliberaler" Schockoffensiven wurde der korporatistische Kompromiss zwischen Kapital und Gewerkschaften aufgesprengt und die Rahmenbedingungen der Ausbeutung dereguliert. Roth beschränkt sich weitgehend auf die Zerstörung der sozialen Garantien, die in diesen Kompromiss eingebundenen waren.

Alte Tendenz, neue Strategien

Doch dies ist nur ein Aspekt. Aus den neuen Kathedralen der Wissensindustrie und -ökonomie werden völlig neuartige Diktate von Arbeitsunterwerfung und sozialer Zurichtung ins soziale Gewebe der Weltarbeitskraft getrieben; nichts fundamental Neues, sondern eher eine Intensivierung der Zugriffsgewalt auf "neuer Stufenleiter" (Marx). Die Kapitalisierung der immateriellen Triebkräfte von Produktivität und Herrschaft ist nach der Managementrevolution des Fordismus eine weitere Stufe in der kapitalistischen Entwicklung von Kontrolle. Die informatischen Schlüsseltechnologien verdichten durch "smarte" Zugangskontrollen das globale Kommando über die Arbeit und über den öffentlichen Raum (biometrische Überwachung). Sie führen zu flexiblen Grenz- und Lagerregimen bis zur Vernetzung militarisierter "Entwicklungsstrategien" in der Kooperation von privaten NGOs, privatem und staatlichem Militär. Die ökonomische und technisch-soziale Seite dieser umfassenden Innovationsoffensive sind nicht zu trennen. Eine ökonomische Verkürzung wäre verhängnisvoll. In der Auffächerung des weltweiten Antagonismus sind es die Kämpfe selbst, die die revolutionären Strategien und Vorstellungen einer gerechten Welt neu erfinden. Erkenntnisse sind aus reduzierten metropolitanen Positionen allein nicht, ja nicht einmal vorrangig zu entwickeln. Darum ist die bei Roth entwickelte mittlere "Gegenperspektive" sehr problematisch. Dazu einige Punkte: Die "Rückkehr" der "Massenarmut im Prozess der Deindustrialisierung in die Metropolen" ist ein falsches Katastrophenszenario. Es geht vielmehr um die Etablierung eines weltweit mehrfach gebrochenen Ausbeutungs- und Elendsgefälles. Mehr noch als die fordistischen Industriezentren füttern die neuen wissensindustriellen Zentren ihre globalen Avantgarden mit den höchsten Einkommen. Sie beruhen auf einem Gefälle aus gehobenen Dienstleistungen mit mittleren Einkommen bis hin zur Überausbeutung der illegalen ArbeiterInnen in einem umfassenden Servicegeflechts (Reinigung, Pflege, Sexarbeit etc.). Dabei sind die kostspieligen und störungsanfälligen "weichen" Standortvorteile im Service derart wichtig, dass amerikanische Informatikunternehmen inzwischen die Auslagerung nach Bangalore oder Poona rückgängig machen; das Umfeld sei für die Optimierung der Elitenkreativität ungenügend. Die "Auslagerung" der industriellen Produktion in lohngünstige Armutszonen folgt allerdings auf neuem Niveau den historischen Vorbildern der Reorganisation weltweiter Arbeitsteilung. Die Durchsetzung neuer Akkumulationsstrukturen erfordert gewaltige Kapitalmassen. Sie werden aus der Zerstörung alter Existenzgarantien, aus Zwangsersparnissen und aus der Steigerung des absoluten Mehrwerts genauso gewonnen wie aus neuen Formen der Defizitfinanzierung. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der postfordistische Zyklus wenig von vorausgegangen Zyklen. Er unterscheidet sich auch nicht darin, dass die Verkürzung der sozialen Frage auf die Metropolen immer auch darauf zielte, die metropolitane Bevölkerung in die aggressiven Strategien zur Intensivierung der weltweiten Ausbeutung hineinzuziehen. Hier sehe ich auch die größten Gefahren der Rothschen Verkürzungen auf die ökonomischen Härten in Deutschland. Auch seine Klage über die Selbstzerstörung der historischen Sozialdemokratie trifft nicht. Die tut genau das, was sie seit ihrer reformistischen Wende immer getan hat, bis hin zur Steigerung ihrer imperialistischen Kriegsbereitschaft. Darum liefert auch Roths Auseinandersetzung mit der Agenda 2010 ohne Blick auf die von rot-grün zugleich betriebene Beteiligung an der kriegerisch-sozialarbeiterischen Entwicklung der Welt ein schiefes Bild.

Keine halben Sachen

Es folgt der Logik dieser Verkürzungen, wenn Roth unvermittelt zu einem unausgewiesenen Katalog von geradezu verfassungstechnischen Organisationsmaximen und Werten übergeht. Wenn man sich nicht an der weltweiten Entfaltung der Kämpfe und der in ihnen hervorgebrachten Gerechtigkeitsvorstellungen orientiert, bedient man sich leicht aus dem abgenutzten Korb alternativer Ideale und landet bei einer Propaganda für eine Art Sozialparlament oder gar bei "runden Tischen zur sozialen Frage": "breites soziales Bündnis", "demokratisch", mit "Delegations- und Rotationsprinzip", das bis in die Gewerkschaften reicht, wobei darauf zu achten sei, dass "die extrem hohen Gehälter der Gewerkschaftsspitzen auf ein vertretbares Niveau zu senken" sind; ein Bündnis, das , "auf mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit" zielt und Flüchtlinge und MigrantInnen als Brücke zur "weltweiten Vernetzung mit anderen Standorten und Bewegungen" nutzt. Die Maßstäbe für dieses Szenario bleiben unklar. Dem ungekürzten Text (abrufbar unter www.materialien.org) sind einige überraschende Hinweise zu entnehmen. Die brasilianische Führung wird als "unbezweifelbar integer" dargestellt, wo Lula doch derzeit die Hoffnung des Kapitals für seine lateinamerikanischen Perspektiven ist. IWF, Weltbank und Vereinte Nationen sollen uns in ihrer ursprünglichen Konzeption als "brauchbare Ausgangspunkte dienen", sie seien lediglich deformiert und missbraucht worden. Hier erübrigt sich jeder Kommentar. Der Kapitalismus ist nicht reformierbar. Seine sozialen Angriffe bilden eine Totalität und fordern den Widerstand in allen Bereichen heraus: sicher auch gegen die Agenda 2010, aber als ökonomischer Ausdruck der globalen sozial-technischen Bemächtigungsstrategien in der Produktion, im öffentlichen Raum, der Sozialkontrolle, in der Entfesselung eines neuen Sexismus und Rassismus und auf dem Weg in der kriegerischen Durchbruch. Auch wenn jede Auseinandersetzung an einem Punkt beginnt, sie bewegt sich notwendig ins Ganze. Die Reduzierung auf eine verkürzte, mittlere Lösung ist nicht Befreiung, sie birgt die Gefahr der Beteiligung. Detlef Hartmann Aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 484 / 21.05.2004