Freie Netze und Selbstorganisation

Interview mit Armin Medosch, Mitbegründer von Telepolis

In Metropolen wie London, Wien und Berlin haben sich in den letzten Jahren Freie Netze entwickelt. Diese gemeinschaftlich organisierten, elektronischen Netzwerk-Strukturen ...

... ermöglichen einen nicht-kommerziellen und offenen Zugang zum Internet sowie die Bildung eigener Kommunikationskanäle. Technisches Grundprinzip jedweder internetbasierten Kommunikation sind verlustfreie Kopierbarkeit und einfache Verteilung von Daten. Während sich so heute (digitalisierte) Inhalte leichter erstellen und verbreiten lassen als jemals zuvor, wird im Interesse einer weitgehenden kommerziellen Verwertung von Wissen mit viel Energie und nicht selten ohne Erfolg an der technischen wie gesellschaftlichen Regulation und Eindämmung dieser grundlegenden Eigenschaften gearbeitet.

Im Gegenzug wird die Übertragung des Konzepts Freier Software auf andere Ebenen versucht. Im Rückgriff auf die Allmende, einem vorindustriellen Konzept der gemeinschaftlichen Nutzung von (Nahrungs-)Ressourcen, hat Volker Grassmuck in diesem Zusammenhang den Begriff "Wissensallmende" geprägt. Die Initiativen der Freien Netze zum Aufbau offener und gemeinschaftlicher Netzwerk-Infrastrukturen lassen sich als Teil dieser Entwicklung begreifen. Eine solche "Netzwerk-Allmende", so Armin Medosch, Mitbegründer der Zeitschrift Telepolis und Autor des Buchs "Freie Netze", steht für ein "Experiment in basisdemokratischer Selbstorganisation" und folgt einem "Grundbedürfnis" nach Austausch von Informationen, dessen "Ermöglichung als technische Kommunikation kollektives Handeln erfordert".

Keine Bedingung, aber ein äußerst hilfreiches Moment für den Aufbau Freier Netze ist die preiswerte Funktechnologie WLAN (1), deren Benutzung heute innerhalb des ansonsten weitgehend regulierten Funk-Spektrums (Radio, Fernsehen oder Mobiltelefon) lizenzfrei möglich ist. Mit Hilfe von kostengünstigen Sende/Empfangsgeräten und selbstgebauten Antennen lassen sich leicht einzelne Knoten aufbauen und zu kabellosen Netzwerken ausweiten.

Im Vorfeld der Berliner Konferenz "Wizards of OS 3 - The Future of the Digital Commons", in der zwischen dem 10. und 12. Juni auf breiter Ebene Konzepte einer digitalen Allmende (englisch "Commons") diskutiert werden, wurde Armin Medosch nach kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten freier Netzwerke befragt.
ak: Nach dem Zusammenbruch der Dotcom-Manie ist nicht nur eine weitgehende ökonomische, sondern auch eine kulturelle Ernüchterung eingetreten. Das Internet wird auf die Rolle eines nützlichen Werkzeugs reduziert, während es einer zunehmenden Regulierung unterworfen ist und gleichzeitig kaum noch als Ort für Kritik oder aneignende Praxen genutzt zu werden scheint. Welche Konzepte lassen sich dieser Entwicklung entgegensetzen?

Armin Medosch: Ich glaube, ein Teil dieser "Ernüchterung" ist tatsächlich eine ganz nützliche Entwicklung, weil das bedeutet, dass man sich vom Techno-Determinismus der "visionären" Phase verabschiedet. Das Internet hat eben nicht "automatisch" zu all diesen tollen gesellschaftlichen Veränderungen geführt, die eine Zeit lang prophezeit wurden. Die gesellschaftliche Wirkungsmacht der Technologie wurde überschätzt. Zugleich blühen derzeit gerade ganz viele "Netzkulturen", die versuchen, Ideen oder Prinzipien aus Free- und Open-Source-Software (2) abzuleiten und mit anderen gesellschaftlichen Bereichen kurzzuschließen. Es geht also um so genanntes geistiges Eigentum, aber auch um soziale Prinzipien der Selbstorganisation. Ich sehe das als einen Fortschritt, auch wenn es in dieser "Open-Alles"-Diskussion wiederum einige Schwachpunkte gibt.

An welche Schwachstellen denkst du?

Prinzipiell geht es dabei um die Ökonomien, aber auch um die Erwartungen der Beteiligten, die sehr unterschiedlich sein können. Einerseits wird heute sehr viel Open-Source-Software im Auftrag von und bezahlt durch Firmen wie Sun und IBM entwickelt, andererseits gibt es scheinbar immer noch viele Leute, die glauben, die Welt würde sich zum Besseren wenden, wenn nur alle Open-Source-Software verwenden würden. Außerdem ist es wichtig, an Richard Stallmans Unterscheidung zwischen Freier Software und Open Source zu erinnern: Open Source ist perfekt kompatibel mit Kapitalismus in industriell hoch entwickelten Ländern.

Während freie Software mittlerweile ein weitgehend positiv besetzter Begriff ist, denken viele bei Funknetzen eher an böse "Hacker", die in fremde Computer eindringen. Was aber verbindet Freie Software und Freie Netzwerke?

Erstens eine ganz pragmatische Ebene. Es gibt zwar keine Vorschriften, wie ein Freies Netz aufzubauen ist, doch es gibt einen breiten Konsens, ausschließlich Freie Software zu benutzen. Darüber hinaus geht es darum, Wissen zu dezentralisieren, Protokolle, ob in technischer oder sozialer Hinsicht, sowie Arbeitsergebnisse im Sinne von "best practice" zu publizieren und damit frei zugänglich zu machen. Zweitens lehnt man sich schon begrifflich deutlich an Freie Software an. Die Bezeichnung Free Networks wurde ja von der Szene selbst gewählt, auch zur Abgrenzung von dem von der Industrie geschürten Wi-Fi-Boom (3). Die verwendete Technologie steht nicht im Zentrum, sondern die Methodik und das Ziel. Zugleich gibt es auch Unterschiede, wovon ein ganz wesentlicher ist, dass Software diese wunderbare Eigenschaft hat, quasi mühelos unendlich kopiert und verteilt werden zu können, sofern sie einmal existiert. Ein Freies Netz hingegen beinhaltet erstens physisch-materielle Komponenten, die sich nicht so einfach vervielfältigen lassen, und zweitens einen fortwährenden Einsatz von Arbeit. Diese Netze wollen in Betrieb und in Stand gehalten werden. Das lässt sich nicht wegrationalisieren, und es ist auch wichtig, diesen Aspekt menschlicher Arbeit zu betonen.

Wenn im Zusammenhang von freien Netzen von "Organischem Wachstum", "kollaborativer Strategie" und dem "Selbstmanagement sozialer Systeme" die Rede ist, wiederholen sich hier die Mythen und Utopien aus den Anfangszeiten des Internets? Und sind das nicht die Visionen, die auch bei progressiveren Wirtschaftsmagazinen wie "Wired "oder "brand eins" (4) für glühende Wangen sorgen?

Ich fühle mich nicht berufen, solche Wortwahl nebst ihrer möglicherweise eingebauten ideologischen Neigungen zu verteidigen, aber was ist denn so "mythisch" an Kollaboration, wenn sie frei, also selbstgewählt ist und nicht primär von einem monetären Impuls getrieben? Welche Chance haben wir denn zu einer grundlegenden Reform der Gesellschaft, wenn nicht durch Prozesse, die man lose mit Selbst-Organisation umschreiben kann, was zugleich auch Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung bedeutet?

Wenn wir auf das Negativ-Beispiel des Scheiterns solcher Ideen blicken wollen, dann bieten sich hier auch weniger die vom Internet-Hype geblendeten 1990er Jahre an als die 1960er Jahre und die so genannten Neuen Sozialen Bewegungen, die Kommunen, die selbstverwalteten Häuser und basisdemokratischen Ideen. Wenn da auch vieles den Bach runtergegangen ist, so beinhalten diese Dinge doch viele Werte und Motivationen, für die es nach wie vor lohnt zu kämpfen, weil es da im Prinzip um das große Versprechen der westlichen liberalen Demokratien geht: die Verbindung von individueller und kollektiver Freiheit. Dass solche Begriffe auch vom progressiven Flügel der Wirtschaft angeeignet werden können - ich würde brand-eins-Leser als Kapitalisten mit schlechtem Gewissen bezeichnen -, dagegen kann ich nichts machen. Ich kann auch nichts dagegen machen, dass George W. Bush behauptet, die Freiheit zu verteidigen. Mein Verdacht ist, dass sich Selbstmanagement in diesem Kontext als postfordistische Optimierung wirtschaftlicher Wertschöpfungszusammenhänge übersetzen lässt. Damit bleibt jedoch die "Herrschaft des Kapitals" (wenn man das so altmodisch ausdrücken will) unangetastet ebenso wie die Dominanz der bürokratischen Management-Klasse.
In einer Studie zu den Nutzungsgewohnheiten des Filesharing-Systems Gnutella (5) ist zu lesen, dass der Großteil aller verfügbaren Dateien von nur einem Prozent der NutzerInnen angeboten werden, während 70 Prozent keine einzige Datei zum Download freigeben. Hier drängt sich der Verdacht auf, dass offene, kollaborative Konzepte nur funktionieren, weil einige wenige sehr viel in eine gemeinsame Basis einbringen, während andere sich eher parasitär beteiligen. Freie Netze, dem Prinzip Filesharing an diesem Punkt ähnlich, bauen auf das Konzept gegenseitiger Unterstützung auf. Du bringst in diesem Zusammenhang den Begriff "Netzwerk Allmende" ins Spiel, wie praxistauglich sind dessen Grundlagen?

Ich begreife "Netzwerk Allmende" nicht als Gegebenes, das sich nachträglich analysieren lässt, sondern als Fragestellung, die es erlaubt, eben diese von dir angesprochenen Probleme zu thematisieren. Wie lässt sich eine freie Ressource aufbauen und erhalten, ohne dem Commons-Dilemma, also der Zerstörung durch Übernutzung egoistischer Einzeltäter, anheim zu fallen? Welche Mechanismen sollten vorhanden sein, damit sich die Chance erhöht, dass die "tragische Selbstzerstörung der Gemeingüter" nicht eintritt? Lassen sich diese Mechanismen als Prinzipien vorstellen, die nicht von oben herab verordnet werden müssen, im Sinne von "Gesetzen" , also von fremdbestimmten Regeln?

Ein paar Schritte weiter in die Zukunft gedacht, mit dem steten Fortschreiten von Miniaturisierung und Vernetzung elektronischer Geräte, werden sich neue Dimensionen der elektronischen Kommunikation entwickeln, die noch stärker als bisher auch auf physikalische Räume einwirken werden. Wie bewertest du perspektivisch das Konzept Freier Netze? Wie können darauf aufbauende Möglichkeiten kultureller und emanzipativer Praxen aussehen?

Im Augenblick wird um "Locative Media", also ortsbezogene "glokale" Netzapplikationen viel heiße Luft gemacht, und ich möchte mich vorerst jeden Kommentars enthalten, bevor da nicht die Spreu vom Weizen getrennt ist. Wichtiger finde ich, dass sich mit der Praxis Freier Netze ein Prozess verbindet, der von der Technik-Mystifizierung wegführt und den Ausblick auf eine basisdemokratische und emanzipatorische Formulierung techno-politischer "Zukünfte" erlaubt.

Was uns heute immer noch als Zukunft im Sinne einer "Informations- und Wissensgesellschaft" verkauft wird, ist im Prinzip die Zukunft von vorvorgestern, der kybernetische Postfordismus des Kalten Krieges, der seinen militaristisch-elitären Kern hinter den versprochenen Segnungen immer besserer, kleinerer, billigerer Konsumprodukte verbirgt. Heute haben wir jedoch die Chance, Zukünfte ohne solche Kontrollgesellschafts-Phantasmen zu erdenken und mit praktischen Werkzeugen zu improvisieren, wie zum Beispiel mobile Ad-hoc-Mesh-Networks (6). Wir können die Entwicklung zwar nicht bestimmen, aber konsequente Arbeit auf diesen Gebieten stellen sicher, dass die Großen auf der Hut sein müssen und die Uhren nicht wieder zurückgestellt werden können.
Interview: Ulf Treger

Armin Medosch: Freie Netze - Geschichte, Politik und Kultur offener WLAN-Netze. Telepolis/Verlag Heinz Heise, 240 Seiten, 16,- Euro.

Anmerkungen:
1) WLAN (Wireless Local Area Network) sind kabellose Computer-Netzwerke, die auf Funktechnologie passieren.
2) Free- und Open-Source-Software: Der englische Ausdruck Open Source steht für "quelloffen" (in dem Sinne, dass der Quelltext eines Programms frei erhältlich ist und frei verändert werden darf). Freie Software ist ebenfalls frei verfügbar und änderbar, aber nach Richard Stallmann in Abgrenzung zu Open Source nicht im Sinne einer Optimierung von Produkten und ihrer Marktförmigkeit, sondern vielmehr entsprechend grundlegender Ideen von Informationsfreiheit und Gemeinschaft.
3) Wi-Fi ist ein spezieller Industriestandard für drahtlose Netzwerkkommunikation.
4) Wired ist das führende Medium für die Verbreitung marktförmiger Technikkultur aus Kalifornien, brand eins ein deutsches Wirtschaftsmagazin.
5) Die Musiktauschbörse Napster war wohl das bekannteste Filesharing-System. Allgemein versteht man darunter Computer-Netzwerke, mit denen es möglich ist, Dateien wie Musikstücke, Texte oder Filme über das Internet zu tauschen, also gegenseitig anzubieten und herunterzuladen.
6) In einem Mesh-Netzwerk können Mobiltelefone, Kleincomputer oder Laptops Verbindungen zueinander aufbauen, ohne dass es eine übergeordnete Infrastruktur gibt. Jedes Gerät dient nicht nur als Sende- und Empfangsstation für Sprache oder Datenübertragung, sondern auch als Router für andere Geräte.

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 485 / 18.06.2004