Das Signal von Melfi

Ein italienisches Provinznest als Hochburg der neuen Arbeiterbewegung

Seit Mitte April ist der Name des süditalienischen Städtchens Melfi (Provinz Potenza in der Region Basilicata) in Italien allgegenwärtig.

Die Linkspartei Rifondazione Comunista hat ihre Plakate zu den am 12. und 13. Juni parallel stattfindenden EU- und Kommunalwahlen mit dem Slogan bedruckt: "Melfi zeigt: Es lohnt sich zu kämpfen". Auch in Mailand oder Turin, den Zentren der italienischen Arbeiterbewegung, spricht man voll Hochachtung von der Belegschaft des FIAT-Werks im tiefen Süden, die entschlossen und militant einen Großteil ihrer Forderungen durchgesetzt hat. Die Stadt Melfi zählt etwa 15.000 EinwohnerInnen; mehr als 5.000 Menschen, darunter viele PendlerInnen aus dem Umland, arbeiten bei FIAT, wo die Modelle Punto und Lancia Y montiert sowie Bleche und Komponenten für andere Fabriken produziert werden. Natürlich hat auch hier die Krise des Konzerns die Sorge um den Erhalt der Arbeitsplätze wachsen lassen. Doch hat die Belegschaft darauf nicht mit Unterwerfung und "freiwilligem" Verzicht zum Wohle des Unternehmens reagiert. Auf einer Vollversammlung beschlossen die ArbeiterInnen im April vielmehr folgende Forderungen: 1. Abschaffung der 12 aufeinander folgenden Nachtschichten ("doppia battuta"); 2. Angleichung des Lohns an die anderen Standorte; 3. Rücknahme diverser Disziplinar- und Strafmaßnahmen. Gleichzeitig wurde nicht nur der Streik beschlossen, sondern auch die Blockade des Betriebes, um den Abtransport von Einzelteilen zu verhindern. Die Blockade aller fünf Zufahrten begann am 19. April und wurde erst zehn Tage später abgebrochen.

FIAT Melfi - ein "glitzerndes Gefängnis"

Zu der Entschlossenheit, mit der in Melfi gekämpft wurde, haben vor allem die extremen Arbeitsbedingungen beigetragen: die zermürbende Zahl von Nachtschichten, verkürzte Pausen, die um Fahrtzeiten von bis zu drei Stunden verlängerten Arbeitstage, der um 20 Prozent geringere Lohn und nicht zuletzt das harte Fabrik-Regime: Allein im vergangenen Jahr gab es 2.500 Disziplinarmaßmahmen bis hin zu Entlassungen; schon wer Brötchenkrümel auf den Boden fallen lässt oder sich aus Sicht seiner Vorgesetzten zu lange auf der Toilette aufhält, muss mit Bestrafung rechnen. Auch Arbeitsunfälle gelten als Verstoß gegen die Hausordnung des "glitzernden Gefängnisses" (der FIOM-Gewerkschafter Giorgio Cremaschi). Das extrem harte Disziplinierungssystem hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Werk in Melfi das produktivste des gesamten Konzerns ist. Hinzu kommen modernste Produktionsanlagen und eine ausgeklügelte Arbeitsorganisation. Gearbeitet wird in Gruppen, einheitliche Betriebskleidung, auch für das leitende Personal, soll zusätzlich zum vollen Einsatz für die "gemeinsame Sache" motivieren. Derzeit liegt das Werk in der Rangliste der produktivsten europäischen Autofabriken auf Platz vier hinter Nissan (Sunderland), Toyota (Burnaston, beide in Großbritannien) und Ford in Saarlouis. Die erst 1994 in Betrieb genommene Fabrik ist für die Konzernleitung Vorzeigebetrieb und Experimentierfeld zugleich. Würde die Belegschaft die extremen Arbeitsbedingungen widerstandslos hinnehmen, wären über kurz oder lang auch die ArbeiterInnen der anderen Standorte damit konfrontiert: Was in Melfi geht, muss auch anderswo möglich sein, so das unternehmerische Kalkül. Durch den Arbeitskampf ist Melfi nun auf ganz andere Weise zum Exempel geworden, als von den Managern geplant. An den Umgang mit zahmen Funktionären der Gewerkschaften FIM, UILM und FISMIC gewöhnt, haben sie die Widerstandsfähigkeit der ArbeiterInnen völlig unterschätzt. Diese haben, unterstützt von der FIOM (der Metallergewerkschaft im Gewerkschaftsbund CGIL) und den Basiskomitees (COBAS), allen Abwiegeleien und Spaltungsversuchen widerstanden und zehn Tage lang die Abriegelung des Betriebes aufrecht erhalten. Die Unternehmensleitung reagierte mit Telefonanrufen bei den Familien der Streikenden, schließlich mit dem Ruf nach der Polizei. Die erschien am 26. April in voller Kampfausrüstung und versuchte, die Blockaden zu durchbrechen, um zwei Busse mit Streikbrechern, hauptsächlich Abteilungsleitern, in die Fabrik zu schleusen. 14 Arbeiter mussten nach dem Knüppeleinsatz im Krankenhaus behandelt werden. Nach dem massiven Einsatz der Staatsgewalt war auch den Wohlmeinendsten klar, dass sich die um den Anschein der Neutralität bemühte Regierung Berlusconi mit aller Konsequenz auf die Seite des Kapitals gestellt hatte. Nachdem Staatssekretär Sacconi den Polizeieinsatz schon vorab als Maßnahme gerechtfertigt hatte, mit der das "Recht auf Arbeit" zu sichern sei, setzte Innenminister Pisanu danach noch eins drauf, als er erklärte: "Wir sind bereit, es wieder zu tun". In einer Solidaritätsadresse aus einem Betrieb in Bologna wurden Parallelen zum "Squadrismus der 20 faschistischen Jahre" gezogen; der FIOM-Sekretär Giorgio Cremaschi fühlte sich an südamerikanische Verhältnisse erinnert. Die von Regierung und Unternehmen erhoffte demoralisierende Wirkung brachte der Einsatz der Staatsgewalt dennoch nicht. Zum Weitermachen ermuntert wurden die Streikenden durch eine breite Welle der Solidarität. Schon im Vorfeld des Streiks waren Kontakte zu anderen Standorten und zu den ArbeiterInnen der Region geknüpft worden. Die KollegInnen von FIAT in Termini Imerese sammelten 25.000 Euro für den Kampffonds, in Melfi selbst gab es zwei Demos mit 10.000 bzw. 15.000 TeilnehmerInnen, auch an anderen Orten wurden Solidaritätsaktionen durchgeführt, darunter ein vierstündiger Streik in sämtlichen FIAT-Produktionsstätten. Auch linksdemokratische und kommunistische Abgeordnete, militante Disobbedienti sowie der Sekretär von Rifondazione Comunista (RC), Fausto Bertinotti, reisten nach Melfi, um ihre Solidarität mit den Streikenden zu demonstrieren.

Ein Streik, der zum Modell werden könnte

Spaltungsversuche der "gemäßigten" Gewerkschaften blieben erfolglos; ihre separat abgeschlossene Übereinkunft mit dem Unternehmen interessierte kaum jemanden, und an einer von ihnen organisierten Demonstration für die Beendigung der Blockaden beteiligten sich kaum mehr als 100 Menschen, vor allem leitende Angestellte. In eine heikle Phase geriet der Kampf erst, als FIOM und RC dazu aufriefen, die Blockaden auszusetzen. Grund für diesen Appell war die strikte Weigerung der Unternehmensleitung, mit der FIOM zu verhandeln, solange der Betrieb belagert werde. Nach hitziger Debatte auf einer Betriebsversammlung wurde schließlich beschlossen, die Fabriktore zu räumen - ein Wagnis, das sich auszahlte. Denn in den Verhandlungen sah sich FIAT gezwungen, den Forderungen der Belegschaft weitgehend nachzugeben. Die Zahl der aufeinander folgenden Nachtschichten wird reduziert; die ArbeiterInnen erhalten, über mehrere Stufen bis Januar 2006, eine Lohnerhöhung von 105 Euro; die in der Vergangenheit verhängten Disziplinarmaßnahmen werden von einer Kommission überprüft. Jenseits aller Besonderheiten zeigt das Beispiel Melfi einmal mehr die Anfälligkeit der modernen Just-in-time-Produktion: Sehr schnell geriet durch die Blockaden auch in anderen Werken des Konzerns die Produktion ins Stocken, weil der Nachschub an Einzelteilen ausblieb. In Melfi selbst wurden durch den Streik 38.000 Autos weniger gebaut; der streikbedingte operative Verlust des ohnehin hochverschuldeten Konzerns wird auf 50 Mio. Euro beziffert. Den will FIAT nun bis Ende des Jahres wieder hereinholen - was ohne verschärfte Arbeitshetze anderenorts nicht gelingen kann und damit neue Arbeitskämpfe heraufbeschwört. So wird auch die Geduld derjenigen ArbeiterInnen strapaziert, die prinzipiell für die Agitation der Unternehmer und der "moderaten" Gewerkschaften empfänglich sind: Die Arbeitenden müssten Opfer bringen, um die Wettbewerbsfähigkeit des "eigenen" Unternehmens zu stärken und ihre Arbeitsplätze zu sichern. Auf die Maßlosigkeit der Bosse ist allemal Verlass, und weil das so ist, könnte "Melfi", wenn schon nicht "überall", dann zumindest doch bald auch anderswo sein - vielleicht nicht nur in Italien. Js. Quellen: La Repubblica, La Gazzetta del Mezzogiorno, Il Manifesto, L'Espresso, Handelsblatt aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 485 / 18.06.2004