Sport als 'leerer Signifikant': Die Neutralisierung des Sportes als Bedingung seiner kulturellen Bedeutungen

Habilitationsvortrag

in (28.06.2004)

Der vorliegende Artikel ist eine Überarbeitung des Habilitationsvortrags, den Matthias Marschik unter dem Titel ,,Zeitgeschichte - Popularkultur - Sport: Aspekte eines komplexen Verhältnisses" am 16.6.2003 an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Linz gehalten hat. Habilitationsfach: Zeitgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Cultural Studies.

Der Sport ist ein seltsames Stiefkind unserer Gesellschaft, er wird geliebt und vernachlässigt zugleich: Bildet er auf der einen Seite, und zwar als rezeptive Massenkultur wie als aktiv betriebene körperliche Ertüchtigung, einen wesentlichen und vieldiskutierten Teil der Popular- und Populärkultur, werden ihm auf der anderen Seite keinerlei kulturelle Bedeutungen zugeschrieben: ,,Der Sport findet sich üblicherweise auf den letzten Seiten der Zeitungen, weit weg von allen ernsthaften Inhalten wie Kriegen, Politik und selbst der Skandalberichterstattung. Der Sport bildet eine Welt für sich. Und Menschen, die in den Sport involviert sind, behaupten meist, dass er außerhalb jener Bereiche angesiedelt ist, die unsere Kultur ausmachen." (Beard 1998, 1) Ähnlich der weiblich konnotierten Soap-Opera kann der Sport in seiner scheinbaren Bedeutungs- und Konsequenzlosigkeit als deren männliches Pendant, als ,,soap with balls" (O'Connor/Boyle 1993), gesehen werden, als unpolitische und von ökonomischen Voraussetzungen kaum beeinflusste gesellschaftliche Sphäre.

Ganz im Gegensatz zu dieser ,Neutralität' des Sportes steht einerseits das Wissen darum, wie stark der Sport von politischen und ökonomischen Prämissen bestimmt ist, und andererseits die Einsicht, dass der (Massen-)Sport kulturelle Werte und Normen teils wiedergibt, teils aber auch selbst maßgeblich beeinflusst. Zu fragen ist daher, ob die neutrale Konstruktion des Sportes nicht eine wesentliche Bedingung dafür darstellt, dass er in seiner spezifischen Bedeutungskonstruktion und in seinen Bedeutungszuschreibungen überhaupt funktionieren kann. In der Folge sollen vier Aspekte genauer herausgearbeitet werden, um zu zeigen, welche Funktionen die Formation Sport in der (speziell österreichischen) Gesellschaft einnimmt und welche Bedeutungen sie entwickelt: Zunächst sollen kursorisch die eminenten alltags- und popularkulturellen Bedeutungen des Sportes behandelt werden. In weiterer Folge soll dann die permanente unpolitische und von ökonomischer Beeinflussung unabhängige Inszenierung des Sportes dargestellt und illustriert werden. Ein dritter Schritt wird sich mit der Frage des wissenschaftlichen Umgangs mit dem Thema Sport und der Verdoppelung dieser ,neutralen' Inszenierung beschäftigen. Abschließend soll thesenhaft die theoretische Fundierung jener Konstruktion des Sportes als ökonomie- und politikfreie Sphäre formuliert werden, wie sie nicht nur in Österreich konstatiert werden kann.

Popularkulturelle Bedeutung des Sportes

Das 20. Jahrhundert war, so lässt sich formulieren, auch ein Zeitalter des Sportes. Hatten die bürgerlichen Revolutionen um 1850 die Turnbewegung in Europa populär gemacht, war es der technisch-industrielle Modernisierungsschub, der die britische Sportbewegung entstehen ließ und in der Folge über den gesamten Kontinent verbreitete. Ab 1860 trat der englische Sport auch in Österreich neben die Turn- und Gymnastikbewegung (Bruckmüller/Strohmeyer 1998). Dem Pferdesport, Tennis, Rudern und Schwimmen folgten bald Teamspiele wie etwa Fußball, wobei stets die bürgerliche entschärfte Amateur- und nicht die Profivariante rezipiert wurde. Binnen etwa 15 Jahren entwickelte sich der Sport zum Massenphänomen: Einerseits wurde er von der proletarischen Vorstadtjugend erobert, die zunächst unorganisierte, bald auch vereinsmäßig Sport ausübte, andererseits eroberte das Militär den Sport als Vorübung in männliche Tugenden und als Ablenkung vom Kriegshandwerk (Marschik 1997). Seit den 1920er Jahren konnten einige Sportzweige in Österreich eine eigenständige Massenkultur ausbilden (Horak/Maderthaner 1997). Seither steht der Sport zwar weiterhin mit den Sphären des Ökonomischen und Politischen in stetem Austausch und ist von deren Vorgaben als Rahmenbedingung bestimmt, doch vermag er seitdem genuine kulturelle Formationen auszubilden und Normen und Werte in die Gesellschaft abzugeben: Nur wenige Historiker wie Norbert Elias oder Eric Hobsbawm oder Soziologen wie Pierre Bourdieu haben den Sport allerdings als Paradebeispiel für soziale Praxen in Aktion und als Metapher der Verkörperlichung von Regeln und Codes erkannt und in seinen Kontexten, Beziehungen und Relationen ernst genommen.

Dem Sport kommt keine Autonomie oder `Essenz' zu, doch als populares Massenereignis werden seine Werte dem kollektiven Gedächtnis und den körperlichen Praktiken eingeschrieben. Sportzweige, die an konkreten Orten zu massenkulturellen Attraktionen werden, überschreiten den Raum des Sportes. Als Massenphänomen eröffnen sie Räume des Symbolischen und entwerfen mythische Bedeutungen. Sie reproduzieren und produzieren ein Wissen über die Welt, kreieren oder verändern Wertvorstellungen und prägen oder relativieren Normensysteme. Sport ist als eigenständige Kultur zu sehen; als Teil der Welt, nicht als ihr Abbild.

Gleichzeitig spannen der Sport und seine Praxen ein gesellschaftliches Feld auf, das wesentlich von politischen und ökonomischen Diskursen geprägt ist, in deren Rahmen aber eigenständige Entwicklungen möglich sind.

So wird das Terrain des Massensportes permanent als eigenständiges soziales Phänomen konstruiert, obwohl es massiven politischen und ökonomischen Ein- und Zugriffen ausgesetzt ist; zugleich greifen konkrete Sportpraxen diese Zuschreibung auf und entfalten tatsächlich spezifische Eigenarten. Im Gegensatz zum britischen Forschungsstand ist jedoch im übrigen Europa noch viel Arbeit zu leisten, um diese Bedeutungen, kulturellen Wertigkeiten und Normsetzungen zu analysieren und zu zeigen, wie sie auf dem Terrain des Massensportes teils in prägnanter Weise zum Ausdruck kommen, teils übernommen, verändert und verstärkt, teils konterkariert oder vorweggenommen werden. Politische und ökonomische Bedingungen bilden den notwendigen Rahmen dieser Analysen, Daten, Akten und Statistiken die ebenso unabdingbare Folie, vor der die kulturellen Vorgänge betrachtet werden müssen.

Neutralisierungstendenzen des Sportes

Seine Praxen haben den Sport im Laufe des 20. Jahrhunderts also als wesentliches Terrain der Popularkultur festgeschrieben, auf dem gesellschaftliche Werte und Normen inszeniert, transportiert oder auch geschaffen werden, auf dem Emotionen paradigmatisch gelebt werden können, auf dem durch das besondere Naheverhältnis zum Körper Authentizität augenscheinlich wird und auf dem Vergnügen - ebenso wie Leid und Verzweiflung - inszeniert und rezipiert wird. Dennoch hat sich der Sport nicht zu einem gleichberechtigten gesellschaftlichen Feld parallel zu anderen entwickelt, denn seine Konstruktionsprinzipien positionieren den Sport nicht neben, sondern geradezu antithetisch zu Politik und Wirtschaft. Das zeigt schon die Platzierung des Mediensportes: In Zeitungen steht der Sport am anderen Ende der Politik und auch im TV bekommt die Sportnachricht, im Gegensatz zur Hochkultur, einen eigenen Sendeplatz: Wie das Wetter steht sie außerhalb des Nachrichtenblocks und erhält so eine vergleichbare Unbeeinflussbarkeit zugesprochen (Morley 2001, 22-23).

Die Abgrenzung zu Politik und Ökonomie legt es nahe, Sport als das ,Andere` zu interpretieren, ihn mit Unterhaltung, Vergnügen und Freizeit, aber auch mit Authentizität und Emotionalität zu verbinden - als eigene Welt mit eigenen Regeln. Darauf verweisen auch die konkreten Sport-Inszenierungen: Sport ermöglicht das paradigmatische Erleben von Unsicherheiten und die Konstruktion von Geschichten und Mythen, zugleich von Wahrheit in Form von Tabellen und Rekorden. Die Praktiken in diesem Feld stellen sowohl genuine Schöpfungen der Sport-Gemeinde als auch Zuschreibungen ökonomischer und politischer Interessen dar, wobei beide Seiten ihre Wirkkraft aus der Verortung des Sportes in einer politik- und ökonomiefreien Sphäre zogen: Sie eröffnete im Zusammenspiel realer Freiräume und zugeschriebener Autonomie, nach Stuart Hall (1999, 24), widerspenstige Kulturen ,,in Opposition gegen die residuale und widerspiegelnde Rolle, die dem Bereich des Kulturellen oft zugewiesen wird".

Es lässt sich eine Übereinkunft konstatieren, den Massensport trotz der Evidenz seiner politischen und ökonomischen Beeinflussungen als ökonomie- und politikfreie Sphäre zu inszenieren. Diese Inszenierung des Sportes ist ein globales Phänomen, das sich etwa an den Konstruktionspraxen der Olympischen Bewegung ablesen lässt. Die Spiele waren Teil einer neuen Sinngebung des Menschen, leistungsorientiert, national konnotiert und sozialdarwinistisch strukturiert; ihr sakraler und ritualisierter Charakter sollte sie von Politik und Alltag absetzen (Alkemeyer 1996).

Es war die bürgerliche Sportauffassung, die den Sport als Demonstration der Zweckfreiheit, als ,,Ausdruck einer unpolitischen Hingabe" (Mikos/Nutt 1998, 191) definierte und bis heute definiert. Das bedeutet nicht das Fehlen der Einsicht in bzw. des Wissens über die Grundlagen des Massensportes, aber es heißt, dass Sportpraxen von politischen und ökonomischen Artikulationen freigehalten wurden. Wie gebrochen auch immer diese Erfahrung ist, soll der Massensport so gesehen werden, als wäre er ein genuines, von Politik und Ökonomie abgehobenes Terrain, weder im Sinne falscher Bedürfnisse, noch verstanden als Beeinflussung oder Manipulation, Subversion und Resistenz, sondern als hegemoniale Praxis, eine von allen Involvierten akzeptierte und oft unhinterfragte Routine.

Geht man von einer globalen Inszenierung eines unpolitischen Sportes aus, die das Ereignis aus den ökonomischen und politischen Sport-Diskursen ausklammert, so wird dies doch in Österreich ganz besonders evident - bedenkt man etwa die eminente Bedeutung der Dachverbände und die intensive Verknüpfung von Sport und Wirtschaft, wie sie sich etwa im Konnex von Skiverband, Eigentumsrechten an Skipisten, TV-, Werbe- und Merchandising-Rechten sowie der Sportartikel- und Tourismusindustrie manifestiert (siehe dazu den Beitrag von Barbara S. Schmidl in diesem Band). Daher lässt sich in der Zweiten Republik (im Gegensatz zur Ersten Republik und zum Ständestaat) nicht nur eine Abgrenzung von Politik und Ökonomie konstatieren, sondern geradezu von einem neutralisierten Sport sprechen; Neutralität ist hier analog gesellschaftspolitischer Praxen der Zweiten Republik zu verstehen, Sachverhalte im Interesse aller Beteiligten, nach Abwägung der gemeinsamen Interessen und im Sinne eines höheren Zieles nicht beim Namen zu nennen. Obwohl permanent darüber gesprochen wird, etwa über die Auswirkungen des Engagements Frank Stronachs oder über die zu hohen Spielergehälter im Fußball, wird doch in der Diskussion und Kommentierung der Sportpraxen darüber mehr als beredt geschwiegen. So kann in einem Fernseh-Format wie ,,Sport am Sonntag" durchaus über ökonomische Prämissen oder Auswirkungen des Sportes diskutiert werden, die konkreten Übertragungen der Sportereignisse werden aber so inszeniert, als ob es diesen ökonomischen Konnex nicht gäbe. Das Ergebnis ist die Entstehung von Gerüchten, von Widersprüchen nach innen wie nach außen und die letztliche Ausblendung der offensichtlichen Verquickung des Sportes mit den ökonomischen und politischen Terrains. Damit können unterschwellig politische und ökonomische Botschaften umso besser via Sport vermittelt werden, weil er ja nach außen hin neutral und unpolitisch dargestellt wird.

Diese Neutralisierung steht in engem Zusammenhang mit der eminenten Bedeutung, welche die - nicht nur politische - Neutralität für die Selbstwahrnehmung Österreichs nach 1945 spielte

. Sie zeigt Parallelen zur Beschreibung des ,,unpolitischen Aktes", wie sie Clifford Geertz (1969; 1987) in seinen ,Dichten Beschreibungen` und seinen Analysen zur javanischen Kultur liefert: Es geht um permanente Aktivität, die Unveränderlichkeit suggerieren soll. Im Gegensatz zur globalen Inszenierung einer politik- und ökonomiefreien Sphäre des Sportes ist die österreichische Variante der Neutralisierung nicht nur durch eine Ausblendung der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen aus den Sportpraxen, sondern durch aktive und bewusste Tabuisierung charakterisiert.

Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich bereits in der NS-Zeit, im Sport der ,Ostmark` finden: Nur für die sechs Wochen zwischen dem ,Anschluss` und der Volksabstimmung am 20. April 1938 wurde der Sport vom Regime vordergründig instrumentalisiert. Sportbewerbe wurden zur politischen Propaganda genutzt, SportlerInnenaufmärsche abgehalten und in den Medien bejubelten Sportstars - freiwillig oder unfreiwillig - die neue Ordnung. Doch nach kurzer Zeit kam es zur Aufspaltung: Wurde der Sport einerseits in den Dienst der Politik gestellt, indem speziell der Breiten- und der Schulsport der Volksgemeinschaft, Rassenpflege und Wehrerziehung dienen und die Inszenierung des Spitzensports nationale Überlegenheit demonstrieren sollte, gab es andererseits Bereiche eines staatsfreien Sports, der Sport wurde geradezu zur Normalisierungsmacht (Marschik 1998; 1999). Wenn zum einen Organisationsformen, Rahmenbedingungen und Sportpraxen radikal verändert wurden, wurden zum anderen manche Praxen des Massensports als Vorweis der Aufrechterhaltung von Normalität genutzt. Das Regime ließ einige massensportliche Terrains unangetastet, SportlerInnen und Vereine arrangierten sich oft vorauseilend mit dem Regime, um ihr sportliches Refugium nicht zu gefährden. Dass das Lavieren zwischen Vereinnahmung und Resistenz einen aktiven und bewussten Akt darstellte, zeigt sich daran, dass auch nach Verkündung des totalen Krieges und selbst zu Zeiten der Rekrutierung des Volkssturms zehntausende offensichtlich gesunde Männer auf den Sportplätzen aktiv waren (Marschik 1998, 192ff).

Die Differenz zwischen der ökonomie- und politikfreien Konstruktion des Sportes und der österreichischen Variante der Neutralisierung nach 1945 liegt darin, dass es nicht um Ausblendung im Sinne der Konstruktion von Vergnügen geht, sondern um aktive Tabuisierung, wie an zwei Exempeln illustriert werden soll: Als Karl Schranz 1972 von der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sapporo wegen einer Dressenwerbung bei einem Fußballspiel ausgeschlossen wurde, hieß es von Seiten des IOC, dass im Prinzip alle Spitzenläufer disqualifiziert hätten werden müssen, an Schranz also nur ein Exempel statuiert worden sei. In Österreich dagegen wurde der Ausschluss als individueller und vor allem kollektiv-nationaler Affront gesehen, 200.000 Menschen protestierten auf dem Heldenplatz (Tantner 2003). Noch in seiner aktuellen Biografie (König/Zimmer 2002) verlangt Schranz eine Entschuldigung des Olympischen Comitees, das einen Fehler gemacht und ihn ungerechtfertigt behandelt habe. Das international schon 1972 bekannte Faktum, dass Schranz ab 1970 einen Vertrag in Millionenhöhe mit der Skifabrik Kneissl abgeschlossen hatte und - wie alle Spitzenläufer - längst Profi war, wird in Österreich bis heute kaum diskutiert und kann auch in der Biografie nur erahnt werden. Noch ein anderes Beispiel: Während es etwa im britischen oder italienischen Fußball Pflicht ist, die Vereinsbudgets offenzulegen, kursieren in Österreich über solche Facts nach wie vor nur Gerüchte. Die Beispiele ließen sich, gerade was Sprache und Inhalt der Sportberichterstattung betrifft, beliebig fortsetzen. Zwar werden international die Praxen des bürgerlichen Spitzen- und Massensportes generell als ökonomie- und politikfreie Sphäre inszeniert: Trotz des Wissens um politische und ökonomische Prämissen wird das Ereignis davon abgehoben, damit die jeweiligen Interessengruppen, von den Sponsoren über die Aktiven bis zu den Fans, ihre unterschiedlichen Anforderungen an den Sport realisieren können. In Österreich existiert diese Inszenierung aber in einer umfassenderen Ausprägung, die in Anlehnung an die neutrale österreichische Identität als Neutralisierung bezeichnet werden kann. Gerade weil dieses Land, wie Untersuchungen zum österreichischen Nationalbewusstsein belegen, in besonderer Weise auf den Sport und seine Helden rekurriert, muss der Sport als neutrale Sphäre konstruiert werden, um seine Wirkkraft in der Erhaltung oder Veränderung der nationalen, aber auch lokalen Identitäten entfalten, und Emotionalität, Authentizität und Vergnügen repräsentieren zu können. Wie die schöne Landschaft oder die herrliche Musik eines Mozart oder Schubert muss der Sport von den Terrains der Politik und Wirtschaft abgehoben werden.

Dies gilt bis heute, auch wenn die letzten etwa 20 Jahre massive Neuerungen in der Sphäre des Sportes mit sich brachten. Trend- und Funsport lassen weder Organisationsstrukturen noch architektonische Rahmenbedingungen, weder Rezeptionskulturen noch die vom Sport produzierten Wertigkeiten unbeeinflusst (Norden 1998; Moser 2003). Trotz Unterstützung der Medien vermögen traditionelle massensportliche Praxen ihren Stellenwert kaum mehr zu behaupten. Individualisierung, Globalisierung und Ökonomisierung führen zu sportlichen Trends, die zu den Praxen des Massensportes quer liegen, aber parallel laufen mit der Erosion politischer Lagerbindungen, dem ökonomischen Primat über die Politik und der Infragestellung der österreichischen Neutralität. Der Sport läuft damit im Gleichklang mit anderen gesellschaftlichen Tendenzen, macht manche soziale Entwicklungen mit und nimmt andere vorweg. Indem die - österreichische - Neutralität für obsolet erklärt wird, zeigt sich parallel dazu auf sportlicher Ebene eine Ersetzung der neutralen durch eine ,unilaterale' Inszenierung des einzig wahren Sportes. Je mehr der kapitalisierte, neoliberale Fun-Sport in seiner aktiven Form Werte wie Freiheit und Individualität, oder in seiner rezeptiven Form, ungenierter denn je, kapitalistische Normen von Leistungsmaximierung und Sensationalismus propagiert, desto weniger verweist er auf seine politische und ökonomische Verwobenheit.

Die wissenschaftliche Verdoppelung der Neutralisierung

Es ist auffällig, dass die ökonomie- und politikfreie Inszenierung des Sportes - auch in der österreichischen Variante der Neutralisierung - von wissenschaftlichen Analysen wesentlich mitgetragen wird. Trotz seiner kulturellen Bedeutungen war die Analyse des Massensportes doch nie ein bevorzugtes Terrain geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. Sie hat diesen Bereich oft an die Sportwissenschaft delegiert, dort wiederum beschränkt sich die historische und gesellschaftliche Analyse des Sportes, so sie nicht überhaupt verdrängt wurde, auf sportimmanente Themen, die den Repräsentationen und Artikulationen des Sportes geringes Augenmerk schenken. Erst manche Ansätze der Kultur- und Sozialwissenschaft sowie die Cultural Studies messen dem popularen Sport mehr Bedeutung bei (Hargreaves/McDonald 2000).

Betrachten wir jedoch den Mainstream der Untersuchungen, die sich mit Sportkulturen und Sportpraxen beschäftigen, dann zeigt sich bezüglich der wissenschaftlichen Zuschreibungen an den Sport eine auffallende Parallele zu den Befunden, die Lawrence Grossberg (1997) im Hinblick auf die Diskurse zum Rock'n'Roll erhob. Offenbar ist trotz aller Differenzen die Koinzidenz der wissenschaftlichen Behandlung beider popularkultureller Felder so groß, dass sich die vier von ihm genannten Analysestränge (bezüglich des US-amerikanischen Rock) grosso modo auch auf das Terrain des (europäischen) Sportes übertragen lassen.

Ein erster Strang analysiert den Sport dabei in einem manipulativen Verblendungszusammenhang: Er werde als Ware konsumiert und seine Wirkung bestünde in der Erzielung maximaler Gewinne, im Eskapismus und in der Produktion der RezipientInnen als ,,kapitalistische, nach Genderkriterien differenzierte und rassistische Subjekte". Ein zweiter Strang orientiere sich am Vergleich von Sport und Kunst bzw. Hochkultur und konstatiere die Unvergleichbarkeit des Sportes aufgrund mangelnder Kreativität und Originalität. Die Popularkultur wird dabei aus dem Blickwinkel eines Genialitätsdiskurses interpretiert, der aber keine Parallelisierung von ,wahren' KünstlerInnen und den Beatles, Matthias Sindelar oder Hermann Maier erlaube. Die dritte Lesart fokussiere auf die Lesarten des Phänomens und konzentriere sich auf den Entertainment- und den Fun-Faktor, übersehe daher aber zwangsläufig die Momente von ,,Opposition, Kampf und Verzweiflung". Ein solcher Ansatz kann allerdings weder die Widersprüche der Funktionen sportlicher Texte noch Differenzen in den Beziehungen zwischen den RezipientInnen und dem Gebotenen erkennen. Der vierte Strang schließlich stelle auf den Text als Repräsentation sozialer Realität und auf politische, ökonomische und psychologische Erfahrungen der RezipientInnen ab. Zentral wären dabei die ,authentischen' Momente, in denen sich Opposition Ausdruck verschaffe. Sobald jedoch das kapitalistische Element Überhand gewinne, führe dies zu einer Verwässerung, Professionalisierung und zur Produktion des Immergleichen. Die Kraft der autonomen und/oder resistenten provokativen Kräfte des Sportes finde sich in den Momenten der Auflehnung gegen Entfremdung. Dies negiere aber konkrete Kontexte ebenso wie das Faktum, dass der Sport Teil hegemonialer Strukturen ist.

Letztlich erweist sich also die wissenschaftliche Behandlung des Themas Sport meist als inadäquat: Sind es die kritischen, oft marxistisch argumentierenden Theorieentwürfe, die den Sport in seinen Bedeutungen zu wenig ernst nehmen und als falsches Bedürfnis abtun, sind es die eher konservativen Ansätze, die ihn zwar respektieren, ihm aber dafür eigene und wahre Qualitäten absprechen. Seine unmittelbare Verquickung mit den Ebenen des Politischen oder Ökonomischen wird überhaupt nur in Ausnahmefällen angesprochen und problematisiert.

Theoretische Fundierung der Neutralität des Sportes

Eine sich reflexiv und kontextuell verstehende Wissenschaft besitzt einen erklärenden Impetus. Daher ist es in jedem gesellschaftlichen Terrain wesentlich, gerade das zu untersuchen, was so selbstverständlich scheint, dass es kaum mehr Eingang in öffentliche oder auch private Diskussionen findet. Die Inszenierungen des Massensportes fallen in diese Kategorie. So ist abschließend zu fragen, was dazu führt, dass fast niemand, der am Sport Interesse findet, egal ob als Aktive/r, als ZuschauerIn, als JournalistIn oder als Sponsor, daran Interesse besitzt, die politischen und ökonomischen Bedingtheiten des Massensportes offenzulegen; er wird weder von den ProduzentInnen und RezipientInnen noch von der Wissenschaft auf seine kulturellen Leistungen hin befragt, was auf eine, im Sinne Ernesto Laclaus, hegemoniale Praxis schließen lässt, die aktiv versucht, das unsagbar zu machen, was jenseits der Grenze liegt.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Ausblendung der politischen und ökonomischen Bedingtheiten des Massensportes aus den Sportpraxen darauf beruht, dass der Sport dann seine je spezifischen Wirkkräfte nicht mehr entfalten könnte. Folgen wir dem Modell Ernesto Laclaus, so können wir im Sport einen leeren Signifikanten erkennen. ,,Es kann leere Signifikanten innerhalb des Felds der Signifikation deshalb geben, weil jedes Signifikationssystem um einen leeren Platz herum konstituiert ist, der aus der Unmöglichkeit resultiert, ein Objekt zu produzieren, welches die Systemhaftigkeit des Systems trotz alledem einfordert. So haben wir es nicht mit einer Unmöglichkeit ohne bestimmten Ort zu tun, wie im Fall eines logischen Widerspruchs, sondern mit einer positiven Unmöglichkeit, einer realen Unmöglichkeit" (Laclau 2002, 70).

Nur als ein seiner zahlreichen und differenten Bedeutungen entkleideter Signifikant vermag der Sport sich zum gemeinsamen Ausdruck unterschiedlicher Interessen und zum Begriff für unterschiedliche Sportpraxen auszubilden. Konkrete Praxen des Sportes werden ausgelöscht im Hinblick auf seine umfassende Inkarnation und Mythologisierung etwa im ,,Wunderteam" oder in der Figur Toni Sailers: Beide wurden trotz ihrer lokalen Verortung zum nationalen Symbol und zur österreichischen virtuellen Heimat. Der populare Massensport bildet also eine Leerstelle, deren konkrete Inhalte negiert werden und die gerade über diese Negation eine gemeinsame Identität ermöglicht. Ein Beispiel: Die ,Wiener Schule` des Fußballs, oft überhaupt gleichgesetzt mit dem mitteleuropäischen ,Calcio Danubiano` (Marschik/Sottopietra 2000), speist sich aus einem Amalgam von Prager und Budapester Eigenheiten, vermischt mit einem von Hugo Meisl forcierten schottischen Element, und bringt so unterschiedliche Erscheinungsformen wie den SK Rapid als Exempel der proletarischen, den FK Austria als Vertreter der bürgerlichen Stadt und des liberalen Bürgertums hervor. Rapid bleibt topografisch trotz Stadionwechsel immer in Hütteldorf verankert, während die Austria symbolhaft für den ,rastlosen Juden' quer durch Wien zieht und nirgends und zugleich überall heimisch ist. Doch diese konkreten Stile des Sportes werden ausgelöscht im Hinblick auf seine umfassende Inkarnation im ,,Wunderteam" und seiner Mythologisierung (Skocek/Weisgram 1996, 23ff.), die es sogar geschafft hat, vom Sinnbild Wiens zum nationalen Symbol und zur österreichischen ,,virtuelle(n) Heimat" zu werden.

Es ist der ,Trick' der Neutralisierung des Sportgeschehens, der allen in den Sport involvierten Personen und Interessengruppen, also den Akteuren aus Ökonomie und Politik ebenso wie den Aktiven und Fans, die Möglichkeit bietet, den Sport in eigener Weise zu verwenden und ihm unterschiedliche Bedeutungen zuzuschreiben. So kann ein simples Sport-Trikot vom Sponsor als Werbebotschaft, vom Politiker als Ausdruck des Nationalbewusstseins, vom Fan als Zeichen seiner Religion und vom Spieler als Signal seines persönlichen Erfolges gesehen werden. Nur eine gesellschaftliche Übereinkunft, den Sport zu neutralisieren, kann dazu führen, dass zugleich unterschiedlichste Zuschreibungen und Wertigkeiten existieren, ohne in unvereinbare Kollisionen zu geraten. Nicht die Neutralität sportlicher Popularkulturen an sich ist spannend, sondern die Bedeutungen eines Sportes, der ,,von der Gesellschaft separiert" (Messner 1992, 9) gesehen wird. Es ist seine Neutralität, die es erlaubt, den Sport als spezifischen Aspekt kultureller Praktiken zu positionieren; sie gestattet es, der Gesellschaft oder einzelnen Subgruppen via Sport Normen und Werte anzubieten und zu vermitteln, und ermöglicht es zugleich, abweichende oder widerständige Lesarten gesellschaftlicher Wertigkeiten zu finden und zu leben. Hier finden sich die dynamischen und produktiven Kräfte des Sportes, die den gesellschaftlichen Konsens festigen und ebenso unterlaufen können. Die Neutralisierung des Sportes bildet ein kulturelles Phänomen aus, das aus einer Konstruktionspraxis aller Beteiligten entsteht. In einem ideologiekritischen Sinn das Eindringen von Politik und Ökonomie in das sportliche Terrain zu beklagen, greift ebenso zu kurz wie eine Individualisierung in Gestalt von Rezeptionsanalysen konkreter Ereignisse. Vielmehr sollte die Erforschung des Sportes auf eine interdisziplinäre, kontextuell orientierte und interventionistische Forschungspraxis im kulturtheoretischen Sinn aufbauen. Nur so kann herausgearbeitet werden, was die ,,Neutralität" verschweigt.

Literatur

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