Wanderer zwischen Barrikade und Opernhaus

Der Sonderling, Schriftsteller und Komponist Jürgen von der Wense, geboren am 10. November vor 110. Jahren

Der Sonderling, Schriftsteller und Komponist Jürgen von der Wense, geboren am 10. November vor 110. Jahren

Gäbe es eine Geschichte verborgener Literatur, käme darin Jürgen von der Wense, der am 10. November 1894 in Ostpreußen geboren wurde, als skurrile und wortgewaltige Gestalt an herausragender Stelle vor. Zwar pilgerte er nicht zum Monte Verità, dennoch gehört er zu den frühen Aussteigern des 20. Jahrhunderts: aus der Metropole Berlin nach Warnemünde, Göttingen und in die hessische Provinz.

Was er hinterließ, als er am 9. November 1966 mit Darmkrebs starb, veröffentlichte der Verlag Matthes & Seitz peu à peu in seinen Jahrbüchern »Der Pfahl« und dann auch in umfangreichen, gründlichen und schönen Einzelausgaben: Nach »Blumen blühen auf Befehl - Aus dem Poesiealbum eines zeitunglesenden Volksgenossen 1933-1944« erschien die faszinierende, autobiographische »Geschichte einer Jugend«. Episoden aus Erstem Weltkrieg, Novemberrevolution und Weimarer Republik wechseln sich ab mit für heutige Leser überraschend aktuellen Notizen: »Heiligendamm ist unerträglich. Ein Club der Aufgeblasenheit.« Das ist nicht über das heutige Kempinski-Luxushotel im früheren Ostsee-Sanatorium der DDR-Werktätigen geschrieben, aber Wenses Notiz von 1912 zeigt, daß die Friedliche Revolution 1989 mitunter auch ein Start vorwärts in die Vergangenheit war. Oder eine andere derartige Passage: »Nebenan war die Polizei. Dahin schleppten sie alles, was ihnen verdächtig war, alle Menschen mit schwarzen Haaren. Von den Läden rissen sie alle Schilder mit Fremdwörtern, sprangen in die Schaufenster und zertraten die französische Schokolade.« Kein Bericht über Bushs Terrorkrieg und die Umbenennung der in den USA »French Fries« genannten Pommes frites durch ach-so-patriotische Amerikaner in »Freedom Fries«, sondern eine Szene während des Kriegsausbruchs anno 1914.

Bizarr die Erfahrungen des musischen Pazifisten Wense im Zentrum des Militärs, eingezogen als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in die Generalstabsbibliothek: »Ich werde jedenfalls alle Seiten herausreißen, auf denen das Wort ‚Krieg' steht. - Madrigale von Monteverdi gespielt.« Ausgerechnet dort plagt ihn innere Unruhe in erstaunlich ruhiger Umgebung: »Immer wenn ich vom Dienst zurückkomme, bete ich für die Revolution«, schrieb er 1918 und beschwerte sich über seinen Kriegseinsatz: »Dienst qualvoll. Viel zu leicht.« Einige Tage später schreibt er in sein Tagebuch: »Gesellschaft bei einem Sozialisten. Ihr Ziel ist eine Republik mit Ebert als Präsidenten. Die Gehälter der Abgeordneten werden erhöht. O Gott, hast du Menschen geschaffen oder Bürger?« Die Spießigkeit und die Illusionen vieler Revolutionäre waren ihm zuwider, und so brach er im Februar 1918 mit der linken Zeitschrift, an der er mitgearbeitet hatte: »Die ‚Aktion' abbestellt. Besser sein Vaterland berühmt machen als es wegphantasieren.«

Im Januar 1919, er steckt inmitten der Revolution in Berlin, hörte er »die Baßtuben der Kanonen, Xylophone der MG's und Pauken der Handgranaten« und sah die Spaltung der Linken, Sozialdemokraten und Bolschewiken nebeneinander oder gar gegeneinander: »In der Wilhelmstraße Scheide-Männer, in der Sieges-Allee die Lieb-Knechte. Adlon vergittert. Ich ging Zeitungen lesen ins Café. Eine Bombe knallt herein. Glas, Marmor und Blut. Drei Tote. Die meisten blieben sitzen. Einer neben mir, schmatzend, stößt mit dem Fuß etwas Klebriges - wohl Gehirn - beiseite, ruft: ‚Ober! Nehmen Sie mal den Dreck hier weg, das inkommodiert mich.'« Abends ging Soldatenratsmitglied Wense ins Konzert. In isländischen Sagen entdeckte Wense »Revolutionsmanifeste«: »Der erste Bolschewist, der erste Liebknecht war Grettir, war Egil«.

Nach dem Sieg der Konterrevolution und der Uraufführung eines expressionistischen Stücks von Hanns Johst, der später Präsident der Nazi-Reichsschrifttumskammer wurde, verlor Wense den letzten Rest seines Glaubens an den Neuen Menschen: »Wir sind nicht die ‚neue', immer nur wieder junge Generation. Wir sind Revolutionäre, nur weil wir ein- und ausatmen, wir sind das unbemitleidete Leiden selbst.«

Die Tagebücher sind zwar kein Who-is-who-Nachschlagewerk, aber sie sind spannend nicht zuletzt wegen der Namen deren, denen schon der junge Wense begegnete. Die Aufzeichnungen der Jahre 1918/19 machen aus ihnen ein außergewöhnliches Zeitdokument der deutschen Revolution – weniger hinsichtlich des Ablaufs der großen Ereignisse, eher wegen der darin ausgedrückten Atmosphäre. Wense kannte offenbar Gott und die Welt - Carl Sternheim, Georg Kaiser, Kurt Hiller, den Komponisten Arnold Schönberg... Auch Hans Heinz Stuckenschmidt, der später Musikgeschichtsprofessor und Musikkritiker der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« wurde, dieser rühmte damals Wense: »Musik ist für ihn, der malt, historisch-politische Bücher schreibt, Jura studiert und Kräuter sammelt, nur die letzte befreiende Ausdruckmöglichkeit. Mit Erik Satie, Sergei Prokofjew, Igor Strawinsky, Béla Bartók und Schönberg gehört er heut in eine Reihe.«

Doch Wense landete im Abseits. Nach Warnemünde, von wo ein Großteil der Tagebuchaufzeichnungen stammt, zog er sich zurück. Begegnungen mit Erfolgreichen lösten Gemütskatastrophen, sogar Suizidgedanken aus; in Wanderungen entfloh er dem Juste Milieu der stromlinienförmig Angepaßten. Er brach mit Metropolen und wurde zum Enzyklopädisten der deutschen Provinz, wozu 2005 bei Matthes & Seitz ein Reisebuch erscheinen soll.

Bevor Wense sich zurückzog, besuchte er in Tübingen das Grab Hölderlins und traf die Kommunistin Clara Zetkin in ihrem Landhaus südlich Stuttgarts: »Ich will diesen letzten Menschen noch sehn, ehe er von Pharisäern ermordet wird. Ich werde Clara viel vorspielen, Bruckner vor allem, denn den liebte Rosa Luxemburg sehr, die selbst außerordentlich gespielt haben soll.» Mit der Siebzigjährigen (»der ungeheuerste Mensch, den ich je sah«) fuhr er am 16. Februar 1919 in einer Kutsche nach Reutlingen, und da erzählte sie ihm ihr Leben »wie eine alte Wahrsagerin« und »heimatlos wie der Sturm«, so Wense über sie und ihre Söhne, gestand sie ihm: »Wenn ich hier alles erreicht habe, dann wandere ich aus.«

Jürgen von der Wense: Geschichte einer Jugend. Tagebücher und Briefe. München 1999, Matthes & Seitz Verlag. 488 Seiten, geb. zahlreiche Abb., 34 Euro.