Muezzin Clement

Vor 40 Jahren starb der marxistische Gewerkschaftstheoretiker Viktor Agartz

Vierzig Jahre nach seinem Tod am 9. Dezember 1964, kennt ihn kaum noch einer - Schweigen in den Medien: Viktor Agartz, ein wichtiger Theoretiker für Gewerkschaften und Sozialdemokratie...

Foto: Friedrich-Ebert-Stiftung

Vierzig Jahre nach seinem Tod am 9. Dezember 1964, kennt ihn kaum noch einer - Schweigen in den Medien: Viktor Agartz, der im Westen des Nachkriegsdeutschlands ein wichtiger Theoretiker für Gewerkschaften und Sozialdemokratie war. Bei der Wiedergründung der SPD 1946 in Hannover war der Neunundvierzigjährige einer der Hauptredner und erhielt bei den Parteivorstandswahlen die höchste Stimmenzahl nach dem Vorsitzenden Kurt Schumacher.

Bis 1947 wirkte der Wirtschaftswissenschaftler als Generalsekretär des Bizone-Wirtschaftsamts in Minden/Westfalen. Gegen die Stimmen der CDU empfahlen Anfang Dezember die Mitglieder des Ausschusses für Bauen, Umwelt und Verkehr in Minden eine Straße nach Agartz zu benennen - Einen entsprechenden Antrag hatte die ostwestfälisch-lippische Region des Deutschen Gewerkschaftsbunds im Oktober 2001 gestellt. Merk-würdiger Widerspruch kam von seiten des CDU-Ortsvorstehers: Der Weg ohne postalischer Bedeutung werde AgartzÂ’ Bedeutung nicht gerecht.

Vom DGB, dessen Wirtschaftswissenschaftliches Institut der promovierte Volkswirt leitete, in vorzeitigen Ruhestand gedrängt, gründete Agartz 1956 die Zeitschrift WISO, die Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die bis 1961 als ein wichtiges Organ der Westlinken erschien.

Allerdings mit DDR-Starthilfe: Mit dem FDGB waren Sammelabonnements vereinbart, nach deren Bekanntwerden Agartz verhaftet wurde und vor dem Bundesgerichtshof einen Landesverratsprozeß bekam. Seine Verteidiger, die Sozialdemokraten Diether Posser und Gustav Heinemann, erreichten zwar einen Freispruch, aber die Ächtung AgartzÂ’ blieb, ausgeschlossen aus SPD und Gewerkschaft.

An diese Kalte-Kriegs-Justiz erinnert derzeit eine Ausstellung in der Zentrale der Gewerkschaft ver.di in Berlin. Aber vor allzu schneller Parallelenkonstruktion bezüglich politischer Justiz in BRD und DDR sei gewarnt: Nicht nur unterschieden sich die Zahlen, Anlässe, Verfahrensweisen und Strafen, bei denen Marxisten nicht den von Friedrich Engels hervorgehobenen Umschlag von Quantität in Qualität vergessen sollten, sondern auch die nicht-juristischen Nachwirkungen. Während der alte Antifaschist Götz Berger, der es gewagt hatte, den kommunistischen DDR-Dissidenten Robert Havemann zu verteidigen, dies mit dem Verlust seiner Anwaltszulassung büßen mußte, wurde AgartzÂ’ (und der vieler BRD-Kommunisten) Verteidiger Posser Justizminister der 18 Millionen Nordrhein-Westfalen, Heinemann wurde gar Bundespräsident.

Nach frustrierenden Versuchen, eine Linkspartei jenseits von BRD- und DDR-Kommunisten zu gründen, beendete Agartz sein politisches, publizistisches Engagement. Bei seinem Tod war der Zurückgezogene bereits vergessen.

AgartzÂ’ Schriften - derzeit nur noch antiquarisch erhältlich - bleiben lesenswert wegen seinen Polemiken, unorthodoxen Gedanken und bizarren Fehlprognosen. "Die Wirtschaftsminister in den kapitalistischen Staaten sind vergleichbar den Muezzins als Rufer zum Gebet, die vom Minarett der Moschee herabrufen: ‚Es gibt keinen Mammon außerhalb des KapitalismusÂ’". Wie ein Kommentar zu aktuellen Debatten über das Scheitern des Mitbestimmungsmodells liest man bei Agartz über Aufsichtsräte, die nichts beaufsichtigen: "Aus kämpfen sollenden Gewerkschaftsvertretern wurde nach und nach ein Verein der Tantiemenempfänger."

Agartz wetterte gegen Genossen, die ihr Heil eher in kalifornischen Apfelsinenhainen als bei ostdeutschen Kommunisten suchten: "Wer Kontakte mit dem FDGB ablehnt, wer darauf verzichtet, in regelmäßiger Beratung mit Organen des FDGB die Interessenlage der gesamtdeutschen Arbeiterklasse zu besprechen, wer keine Studienkommissionen in die Länder von Berlin bis Peking entsendet, wohl aber in die Länder des absterbenden Kapitalismus, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, noch Sozialist genannt zu werden."

Nicht weniger aktuell Agartz Einwand gegen das damalige Arbeitskostenlamento: "Natürlich kann man über den Kostencharakter des Lohnes und seinen Anteil an den Gesamtkosten debattieren, aber nur und unabdingbar nur, wenn die Gesamtkosten zur Aussprache stehen." Zum Verständnis der Nachkriegsentwicklung dient, was Agartz über "Amerikanisierung" oder "Vier Jahre Umerziehung in Westdeutschland" berichtete: "In diese gleiche Zeit [1949, als zwar der Gewerkschaftsbund gegründet wurde, man aber nicht wagte, das Grundgesetz als Verfassung dem Volk zur Abstimmung vorzulegen - GPl] fiel eine mit allen modernen Mitteln der Soziotechnik arbeitende Propaganda gegen Sozialismus, Marxismus und Kommunismus, die in dieser Totalität die nationalsozialistische Propaganda in den Schatten stellte. Die im Faschismus mit Gewalt erreichte Konformität von Literatur, Presse und Rundfunk ist heute im Ergebnis weit übertroffen mit der gleichzeitigen Anwendung von Methoden, die bei Wahrung einer Optik scheinbarer Freiheit und unter Aufbietung eines gewaltigen Apparates von Agentenzentralen die Isolierung, Diffamierung und gesellschaftliche Verächtlichmachung aller Personen und Gruppen betreibt, welche sich um eine objektive Meinungsbildung bemühen. Geschaffen wurde eine Psychose, wie sie normalerweise nur gegen Sittlichkeitsverbrecher bestehen kann."

Siehe auch: "SoZ"-Artikel von Christoph Jünke sowie derselbe - ausführlicher - in junge Welt vom 9.12.04 und junge Welt vom 10.12.04