Nach der Flut

Politische Dimensionen einer Naturkatastrophe

Der Tsunami im Indischen Ozean wird in manchen Medienkommentaren inzwischen als "größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken" gehandelt. Nachzuweisen, dass diese Behauptung sachlich kaum haltbar ist, ist leicht. Festzustellen, dass diese Art des Katastrophen-Rankings in der Regel sensationsheischend und deshalb elend ist, ist ebenfalls leicht. Gleichwohl reflektiert eine solche Äußerung auch die Schwierigkeit, das Ereignis Tsunami schreibend zu erfassen. In der Tat: Will man es nicht bei der Be-Schreibung von Leid und Not belassen, stellt sich die Frage nach der politischen Dimension dieses Ereignisses. Diese ist zunächst wenig sichtbar, handelt es sich doch um eine Naturkatastrophe - und eine solche fällt zunächst aus dem Rahmen all jener "gesellschaftlichen Katastrophen", die, z.B. in dieser Zeitung, normalerweise Gegenstand politischen Schreibens sind.

Allerdings hält diese Differenz - von "der Natur" versus von "der Gesellschaft" gemachte Katastrophe - nicht nur in diesem Fall einem zweiten Blick nicht stand. Denn auch wenn die Flutwelle selbst nur ihrer eigenen und somit keiner Logik von Macht, Herrschaft oder Ausbeutung folgte, so trafen doch spätestens im Moment des Aufpralls der Flut an den Küsten beide Logiken zusammen. Dass so viele Menschen sterben mussten, ihre Existenzgrundlage verloren, liegt eben nicht in der Natur der Welle, sondern vor allem in der gegenwärtigen Struktur der Welt begründet - und die ist nun mal alles andere als "natürlich". Wie auch immer man die Herrschaft der reichen kapitalistischen Industriestaaten über den Rest der Welt bezeichnet - als post- oder neokolonial, als imperial oder imperialistisch - sicher ist, dass sie nicht zuletzt da vom Abstraktum zum Konkreten wird, wo auf Grund fehlender Vorwarnsysteme und unzureichender Infrastruktur aus einer Naturkatastrophe eine soziale Katastrophe wird.

Am nahe liegendsten ist sicherlich - zumindest für Linke - eine politische Bezugnahme auf den Tsunami, die sich vor allem darauf konzentriert, hinter den internationalen, (supra-)staatlichen Hilfsmaßnahmen die vielfältigen geostrategischen, ökonomischen und militärischen Interessen freizulegen, denen die Flutkatastrophe nunmehr leicht(er)es Spiel macht, lassen diese sich doch jetzt - moralisch abgesegnet von der imaginierten "Weltgemeinschaft" - umso leichter durchsetzen. So notwendig und richtig diese Kritik, so klar ist andererseits auch: Selbstverständlich stehen die reichen Industrienationen in der Pflicht, massiv Wiederaufbauhilfe zu leisten. Misstrauen ist jedoch angebracht, trotz aller vollmundigen Bekundungen, dass diese Hilfe den Betroffenen zukommen und langfristig wirken soll. Denn: Um dies sicher zu stellen, müssten die Betroffenen über die Verwendung von Geldern und Infrastrukturressourcen mitentscheiden können. Gerade das scheint aber nicht in Sicht.

Über diese konkrete Situation hinaus jedoch stellen sich uns außerdem Fragen, die zwar keineswegs neu, aber leider mitnichten geklärt sind: In welchem Verhältnis steht etwa die Forderung nach partizipativ orientierter, lokal verankerter Hilfe zur Notwendigkeit umfassender, staatlicher bzw. suprastaatlicher Wiederaufbauleistung? Welche Reichweite und welches politische Potenzial hat gerade in dieser Situation die Forderung nach bedingungsloser Entschuldung - die nicht zuletzt auch gegen Teile der Regierungen und Eliten in den betroffenen Ländern durchgesetzt werden müsste? Und, allgemeiner noch: Geht es letztlich um die alte Parole "Zerschlagt den IWF" - oder um eine radikale Demokratisierung und damit Aneignung der supranationalen Organe "von unten" - wie es die in ak kontrovers diskutierten Thesen von Karl Heinz Roth (siehe ak 482 ff.) nahe legen?

Diese Fragen sind ebenso wenig neu, wie es auf sie eine schnelle Antwort gibt. Sicher ist aber: Wenn es stimmt, wie nicht zuletzt in dieser Zeitung immer mal wieder nahe gelegt wird, dass "die soziale Frage" in der Linken seit einiger Zeit wieder mehr Konjunktur hat, dann ist das ebenso begrüßenswert wie andererseits klar ist, dass eine "soziale Frage" nur als solche gestellt werden kann, wenn sie die oben genannten "transnationalistischen" Themen einbezieht.

Das Ereignis Tsunami ruft aber noch mehr "alte Fragen" neu in Erinnerung. Zum Beispiel die nach dem Umgang mit Bildern. Tragisches Einzelschicksal in tausender Auflage lässt sich verkaufen, das ist klar. Tödliches umso mehr. Verbrannte Leichen, verstörte Überlebende, entstellte Körper auf allen Kanälen - wen und was erreicht man mit solchen Bildern? Die Frage stellt sich umso mehr, wenn die Bilder bei den Überlebenden der Katastrophe zur permanenten Verlängerung des Schockzustands beitragen (siehe nebenstehenden Artikel). Doch eine - zudem völlig unrealistische - Forderung nach einem Bilderverbot erklärt noch nicht, welche Art der Berichterstattung der Tragweite eines solchen Ereignisses gerecht wird, ohne es andererseits in eine vierundzwanzigstündig konsumierbare TV-Horror-Soap zu verwandeln. Nicht zuletzt ließe sich wohl ohne eine - eben auch bildliche - Dokumentation der Katastrophe kaum eine nennenswerte internationale Aufmerksamkeit erreichen - und diese Aufmerksamkeit schlägt sich nicht zuletzt auch in der in diesem Ausmaß überraschenden privaten Spendenbereitschaft nieder.

A propos Spendenbereitschaft. Die ist sicherlich gerade hier zu Lande so enorm hoch, weil eben auch Deutsche von der Flut betroffen sind. Das von links als Betroffenheitsnationalismus abzuwatschen ist leicht. Aber ist damit alles gesagt? Diese Frage führt wieder zurück zum Anfang. Denn wenn auch richtig ist, dass die politische Dimension der Naturkatastrophe Tsunami auf das Nord-Süd-Herrschaftsverhältnis zurückverweist, so ist diese Trennungslinie, was das Maß der Not betrifft, einerseits so klar, wie sie andererseits eben auch durch die Gleichzeitigkeit des Schocks "hier" und "dort" brüchig wird. Und möglicherweise reflektiert die Spendenhöhe gerade auch diese der Globalisierung eigene Merkwürdigkeit: nämlich, dass die Herrschaftslinien im selben Maße schärfer konturiert werden wie die räumliche und damit auch visuelle, alltägliche und emotionale Ausgrenzung der "Anderen" zusehends schwieriger wird. Eben dies reicht möglicherweise nicht nur über chauvinistische Betroffenheitsethiken hinaus, sondern könnte sie hie und da sogar mal unterlaufen.

Sicher ist jedenfalls: Schlagwortartige Antworten auf das Ereignis Tsunami liegen nahe, helfen aber nicht viel weiter. Gerade weil es eben keine "einfache" Naturkatastrophe ist.

ak-Redaktion

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 491/21.1.2005