Täter und Opfer

Befreiung oder Katastrophe? 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scheint es weitgehend unumstritten: Der 8. Mai 1945, Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, ist ein Freudentag ...

... für die Menschheit, die nachgeborenen Deutschen eingeschlossen. Wer das offen anzweifelt, stellt sich ins Abseits.

Unter der Hand aber ist die These von Zusammenbruch und Katastrophe allgegenwärtig, vor allem in den visuellen Medien. Eichingers Film "Der Untergang" lockte nicht nur mit der "morbiden Faszination" des zusammenbrechenden Reiches, er sollte - so Hitler-Darsteller Bruno Ganz - ausdrücklich auch "Verständnis für diesen Mann" wecken; Ganz selbst habe bei der Arbeit gar Mitleid mit Hitler empfunden. Wo der "Führer" als armes Schwein erscheint, krank und verlassen, und das deutsche Volk hilflos dem "Untergang" entgegen taumelt, bleibt für die simple Wahrheit kein Platz: Der "Zusammenbruch" Nazi-Deutschlands bedeutete die Befreiung der Welt von einem historisch einzigartigen Mordsystem.

Nachdem "Der Untergang" ein Millionenpublikum anlockte, kommt nun "Napola - Elite für den Führer" in die Kinos - ein Film, der einmal mehr das "Faszinosum" Nationalsozialismus thematisiert und mit einer wirklichkeitsfremden Wende zum Guten endet: dem Aufbegehren der NS-Eliteschüler gegen die - wenigen? - wirklich bösen Nazis.

Wer sich von derlei Machwerken fern hält, den oder die ereilt die Botschaft vom deutschen Opfergang zu Hause vor dem Fernseher, überbracht etwa durch Deutschlands TV-Historiker und Volkspädagogen Nr. 1, den unvermeidlichen Guido Knopp und seine historische Albtraumfabrik. Knopps vierteilige ZDF-Serie - mit den bezeichnenden Titel "Der Sturm", "Die Russen kommen", "Die Todesfalle" und "Bis zum bitteren Ende" - zeigt den ungleich gewordenen Kampf an der Ostfront Anfang 1945, die nach Westen vordringende Rote Armee, desillusionierte, erschöpfte deutsche Landser und verängstigte Mütter, die sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen versuchen.

Die von Andreas Hillgruber im Historikerstreit vertretene - und damals höchst umstrittene - These erscheint da geradezu als zwingend notwendige und moralisch gebotene Konsequenz: Es sei richtig gewesen, gegen die im Osten drohende "Orgie der Rache" die Front möglichst lange zu halten. Wer gegen Knopps suggestive Bilderflut darauf besteht, die Ursachen der deutschen Leiden stets mit zu benennen, erscheint fast schon als Unmensch. "Links, wo kein Herz ist" hatte der Spiegel Ende 2003 eine Polemik überschrieben, in der Günter Franzen die "moralische Eindeutigkeit" der antifaschistischen "Bekenntnisliteratur" geißelte, insbesondere ihre "strikte Zweiteilung der Welt in Spreu und Weizen, Täter und Opfer, Freund und Feind".

Weitere Zumutungen sind zu erwarten, nicht nur in den Medien. Auf den Trauermarsch zur Erinnerung an die Bombardierung Magdeburgs folgt am 13. Februar die Gedenkfeier in Dresden, wo vor 60 Jahren 25.000 Menschen bei den Angriffen der Alliierten starben. Die legitime Trauer um die Opfer wird sich auch hier wieder mischen mit einer historisch inakzeptablen Aufrechnung: Dass doch "beide Seiten" Unrecht getan hätten und die "einseitige" Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Völkermorde und Vernichtungskriege nun ein Ende haben müsse. Beflügelt durch ihren Wahlerfolg in Sachsen, werden die Neonazis hierbei mehr als eine Randerscheinung sein. Das finden auch staatstragende PolitikerInnen lästig, weil es das Ansehen der von den nationalbraunen Horden befallenen Regionen schädigt. Aber die inhaltliche Abgrenzung fällt ihnen auch in der geschichtspolitischen Debatte schwer. Denn was jetzt zum gesellschaftlichen Mainstream wird, haben die Rechten immer schon gesagt: Dass "nun endlich" die Leiden der Deutschen in den Mittelpunkt gerückt gehören und Schluss sein muss mit den "Selbstvorwürfen".

Eine zu einseitige Sichtweise? Sicherlich wird es 2005 auch viele politisch korrekte Gedenkfeiern und Veranstaltungen geben. Überlebende der Shoah, AntifaschistInnen und ehemalige ZwangsarbeiterInnen werden noch einmal vor größerem Publikum auftreten, auch in offiziellem Rahmen. Zu den erinnerungspolitischen Errungenschaften gehört auch das nunmehr fertig gestellte Berliner Holocaust-Mahnmal. Mag es auch den falschen Eindruck erwecken, das heutige Deutschland stelle sich auf vorbildliche Weise seiner Geschichte - das Mahnmal bleibt ein unübersehbares und im besten Sinne provozierendes Ärgernis für diejenigen, die von den deutschen Menschheitsverbrechen nichts mehr hören wollen.

Positiv zu vermerken ist auch, dass allzu dreiste geschichtspolitische "Tabubrüche" immer noch juristische Sanktionen nach sich ziehen. So kassierte der Bundesgerichtshof kürzlich den Freispruch des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundes der Vertriebenen, Paul Latussek. Auf einer Verbandssitzung hatte Latussek "Lügen über die Opfer in Auschwitz" beklagt; nun muss er sich erneut einem Verfahren wegen Volksverhetzung stellen.

Als Beweis für die "Wachsamkeit" der gesamten deutschen Gesellschaft reicht das sicher nicht aus. Repräsentativ sind hier am ehesten die gewählten ParlamentarierInnen und die Regierung. Im Gedenkjahr 1995, noch unter der Kohl-Regierung und der Präsidentschaft Roman Herzogs, blieben größere Skandale aus - keine Selbstverständlichkeit nach der Show über den SS-Gräbern in Bitburg und Kohls Diktum zum D-Day-Jubiläum 1994, Deutschlands Niederlage im Weltkrieg sei "kein Grund zum Feiern". Auch der amtierenden Bundesregierung wird es wohl gelingen, im Gedenkjahr 2005 weitgehend skandalfrei über die Runden zu kommen. Sie hat ihren Beitrag zur Entsorgung der Geschichte schon geleistet - ohne dass es dagegen größere Proteste gegeben hätte. Siehe die "Entschädigung" von ZwangsarbeiterInnen: Den Sinn des Gesetzes zur Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" definiert die Bundesregierung so: "Die Stiftung soll (...) ein abschließendes Zeichen für die umfassende Wiedergutmachung und Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland setzen. Die bisherigen Regelungen und Leistungen ergänzend, soll sie die Diskussion über weitere Maßnahmen beenden." Das ist der viel beschworene "Schlussstrich", der den deutschen Unternehmen, die von der mörderischen Ausbeutung von NS-ZwangsarbeiterInnen bis heute profitieren, die lang ersehnte "Rechtssicherheit" gibt: Man zahlt in den Fonds ein und wird dann nie wieder mit Schadenersatzforderungen behelligt.

Während die Regierung Schröder/Fischer das Entschädigungsproblem von ihrer Vorgängerin übernommen und "im deutschen Interesse" gelöst hat, stellt der Fall der Berliner Flick-Collection einen eigenständigen rotgrünen Beitrag zur Erinnerungspolitik dar: Auf Betreiben der Bundesregierung und der Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer wurde Friedrich Christian Flick (geboren 1944), dem Enkel des Großkapitalisten und Kriegsverbrechers Friedrich Flick (1883-1972), ein staatliches Museum für "seine" Bildersammlung zur Verfügung gestellt. Sein Vermögen hat Flick vom Großvater geerbt, in dessen Werken 40.000 bis 60.000 ZwangsarbeiterInnen ausgebeutet wurden. Eine moralische Verpflichtung, wenigstens in den Entschädigungsfonds einzuzahlen, sieht der Enkel trotzdem nicht. Er fühlt sich als Wohltäter und zeigte sich "zutiefst verletzt", als öffentliche Kritik geäußert wurde.

Das geschah im Übrigen erst nach einer Intervention Salomons Korns, des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. In einem offenen Brief an Flick schrieb Korn: "Sie können den historisch belasteten Teil Ihres Erbes - die Verbrechen Ihres Großvaters - nicht einfach vom vermeintlich neutralen materiellen Teil - das durch diese Verbrechen erworbene Blutgeld - sauber abtrennen." Zugleich kritisierte er die beteiligten PolitikerInnen: "Die Verantwortlichen in Berlin haben sich emotional abgeschottet gegenüber der Zumutung, die eine Flick-Collection für ehemalige Zwangsarbeiter darstellt."

Bei dieser Abschottung ist es geblieben. Die Eröffnung der Ausstellung nahm Kanzler Schröder zum Anlass, Flick ausdrücklich zum Vorbild für alle Deutschen zu erklären. Die taz kommentierte völlig zu Recht, damit habe Schröder den Umgang der Flick-Familie mit ihrer Geschichte "ausdrücklich anerkannt und als politisch akzeptable Haltung geadelt". Das ist die "Normalisierung" der deutschen Verhältnisse, so wie Rotgrün sie versteht, ein "unverkrampfter" Umgang mit der eigenen Geschichte, wie ihn Roman Herzog bei seinem Amtsantritt 1994 gefordert hatte.

Dass die rotgrüne Regierung auch dort mit den Wölfen heult, wo es um weitgehend kostenneutrale Symbolpolitik geht, ist bezeichnend. Es sollte diejenigen aufschrecken, die sich 1998 zumindest in diesem Bereich einen Bruch mit dem System Kohl erhofft haben.

Js.

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 491/21.1.2005