Nahost-Konflikt: Nach dem Mythos

Neue Regierungen in Israel und Palästina machen leise Hoffnung auf Frieden

Yassir Arafats Tod, die Wahl seines Nachfolgers und die neu strukturierte Regierung Israels könnten dazu führen, dass der Nahost-Konflikt fortan weniger ideologisch und gewalttätig ausgetragen wird

Viel war die Rede von einem "Fenster der Möglichkeiten", das sich nach dem Tod Arafats und der Wahl Mahmut Abbas' zum Präsidenten der Palestinian Authority (PA) geöffnet habe. Schon in Kürze, so die Erwartungen, könnten die direkten Verhandlungen zwischen Israel und der PA wieder aufgenommen werden. Die Zeit, in der Israel zumindest offiziell keine Kontakte zur palästinensischen Führung unterhielt, schien vorbei. Das neue Jahr brachte außerdem nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die Israelis eine neue Regierung. In ihr ist nun wieder die Arbeitspartei vertreten, und sie ist gewillt, den Plan Sharons zum Abzug aus dem Gaza-Streifen umzusetzen. Nach Einschätzung fast aller Beobachter standen zu Beginn dieses Jahres die Zeichen auf einen israelisch-palästinensischen Frühling.
Der Terroranschlag am Grenzübergang Karni zwischen dem Gaza-Streifen und Israel nur wenige Tag nach der Wahl hat diese Hoffnungen alsbald wieder gedämpft. Israel reagierte fast schon routinemäßig mit Militäraktionen in Gaza und brach vorübergehend alle Kontakte mit der PA ab. In der Tat war die Erwartung verfrüht, dass sich durch die palästinensischen Wahlen die Situation auf einen Schlag verändern würde. Die Wahl Abbas' zeigt zwar, dass ein wachsender Teil der palästinensischen Bevölkerung den Krieg mit der israelischen Besatzungsmacht beenden möchte, keineswegs jedoch, dass dies bereits Konsens in der Gesellschaft ist. Im Gegensatz zu Arafat ist Abbas ein schwacher Präsident, der statt der historischen "nur" über eine demokratische Legitimation verfügt. Die radikalen Gruppen werden mit allen Mitteln versuchen, ihren Einfluss gegen denjenigen von Abbas zu stärken. Der Anschlag von Karni, der offenbar gemeinsam von Hamas, Djihad und Al-Aqsa-Brigaden ausgeführt wurde, war in erster Linie ein Anschlag auf den neugewählten palästinensischen Präsidenten.
Ebenso wenig bedeutet die neue Regierungskoalition in Israel einen Bruch mit der bisherigen Politik. Dies liegt nicht nur daran, dass Sharon weiterhin die Leitlinien dieser Politik bestimmt, sondern auch daran, dass die Arbeitspartei keine darüber hinaus weisende Perspektive in die Regierung einbringt. Das erklärte Ziel ihrer Regierungsbeteiligung ist es, Sharons Plan eines Rückzuges aus dem Gaza-Streifen zu unterstützen. Dieser Plan ist jedoch Teil seiner Strategie, weitergehende Zugeständnisse an die Palästinenser zu vermeiden. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Rückzug aus Gaza eine Dynamik in Gang setzen könnte, die dieses Kalkül über den Haufen wirft, und sicherlich setzt die Arbeitspartei darauf. Für eine solche Dynamik wäre es jedoch notwendig, eine politische Alternative zum status quo anzubieten, die eine Mehrheit der Israelis überzeugen könnte. Diese ist derzeit nicht in Sicht.

Ein neuer Stil

Jenseits von den allzu optimistischen kurzfristigen Erwartungen könnte dennoch eine Entwicklung eintreten, die Hoffnungen auf eine Erneuerung des Friedensprozesses rechtfertigen würde. Der neue politische Stil, der mit Abbas in der PA eingezogen ist, wurde bereits von vielen Seiten gewürdigt, zumeist war damit jedoch die größere Kompatibilität zu westlichen Politikformen gemeint. Viel bedeutender ist indes die Tatsache, dass Abbas im Gegensatz zu Arafat nicht das Bedürfnis hat, als palästinensischer Bar Kochba (der mythenbeladene Anführer des Aufstandes von Juden gegen die römische Herrschaft) in die Geschichte einzugehen. Wichtiger als seine eigene Rolle scheinen ihm die praktischen Ergebnisse seiner Politik zu sein.
Auch wenn Abbas derselben Altersgruppe wie Arafat angehört und über Jahrzehnte dessen loyaler Gefolgsmann war, steht er doch für einen Generationswechsel in der palästinensischen Politik. Seine Wahl eröffnet für die Palästinenser zumindest die Möglichkeit, sich nicht mehr nur durch ideologische Radikalität und bewaffnete Militanz als politische Subjekte zu konstituieren, sondern auch durch politische Partizipation. Die demonstrative Unterstützung etwa des Genfer Abkommens durch Abbas - zuletzt durch deren Präsentation im palästinensischen Fernsehen kurz vor der Wahl - ist ein Zeichen dafür, dass die politischen Prioritäten von Abbas entscheidend anders gesetzt werden als von seinem Vorgänger.
Das eigentlich erstaunliche ist, wie schnell sich die palästinensische Gesellschaft von Arafat zu emanzipieren vermochte. Damit ist zweifellos auch ein Problem verbunden. Die symbolische Bedeutung Arafats hinderte die militanten Gruppen, den Machtkampf innerhalb der palästinensischen Gesellschaft offen auszutragen. Diese Schranke ist nun gefallen. Andererseits bot Arafat immer wieder eine Legitimation für deren gewaltsames Vorgehen, einschließlich der Terroranschläge auf israelische Zivilisten. Mit seinem Tod ist nicht nur die Bereitschaft vieler Palästinenser weiter gesunken, sich im verlustreichen Krieg der radikalen Gruppen um einen arabischen oder islamischen Staat in "ganz" Palästina verheizen zu lassen. Er ermöglicht es auch, dass die Frage, welche Gesellschaft in einem zukünftigen palästinensischen Staat bestehen soll, wieder diskutiert werden kann. Auch wenn Abbas den Kampf mit den Islamisten nicht offen führen wird - dafür fehlt ihm neben der innenpolitischen Stärke bislang auch die Unterstützung der israelischen Regierung - so kann er doch die Voraussetzungen dafür schaffen.

Sharon ohne Partner

Sehr viel schwerer hängt der Schatten des toten Arafat über der israelischen Politik, und insbesondere über Sharon. Über Jahre hinweg hatte Sharon in Arafat einen kongenialen Partner, wenn es darum ging, politische Fortschritte zu blockieren. Für beide war der Erhalt des status quo die Voraussetzung für ihren Machterhalt. Solange der Krieg zwischen Israelis und Palästinensern schwelte, konnte Arafat alle Bemühungen, seine autoritäre Position zu beschneiden, erfolgreich abwehren. Ebenso konnte Sharon eine noch so katastrophale politische Bilanz haben - ökonomisch, sozialpolitisch, und was die Opferzahlen des Konflikts anbelangte -, ohne dass ihm die Mehrheit der Israelis die Gefolgschaft verweigerte. Mit Abbas an der Spitze der PA, dessen politisches Überleben davon abhängen wird, ob er die Intifada in einen friedlichen Widerstand gegen die Besatzung verwandeln kann, ist diese strategische Partnerschaft hinfällig. Sharon, soviel ist sicher, wird Arafat schmerzlich vermissen.
Einstweilen übernehmen die radikalen palästinensischen Gruppen die Aufgabe, den Prozess zum Stillstand zu bringen. Doch selbst dieses Argument könnte Sharon abhanden kommen, wenn sich diese Gruppen gezwungen sähen, aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung einen Waffenstillstand einzuhalten. Trotz einiger positiver Signale an Abbas hat die israelische Regierung dennoch bislang keine ernsthaften Versuche unternommen, den politischen Prozess wieder in Gang zu bringen. Noch immer hält sie daran fest, dass die Zerschlagung der militanten Gruppen durch die PA Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen sei, wohl wissend, dass dies eine unerfüllbare Forderung ist. Die Versuche der israelischen Regierung, Abbas als Arafat im dunklen Anzug darzustellen, zielen in erster Linie auf dessen Delegitimierung bei der amerikanischen Regierung. Fataler jedoch ist seine Delegitimierung in der palästinensischen Gesellschaft, sollte er nicht in der Lage sein, konkrete Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse zu erreichen.
Die israelische Regierung könnte sehr viel zur Stabilisierung der Position von Abbas beitragen, scheint aber bisher eher am Gegenteil interessiert zu sein. Insbesondere den Abzug aus dem Gaza-Streifen möchte Sharon weiterhin ohne Zusammenarbeit mit der PA durchführen. Würde nämlich eine solche Zusammenarbeit erfolgreich verlaufen, wäre sie ein starkes Argument für einen weiteren Rückzug auch aus der West Bank, und zwar gerade in den Augen der israelischen Bevölkerung.
Andererseits lässt der Machtwechsel in Ramallah den Abzug aus Gaza in Sharons Sicht nur noch dringlicher erscheinen. Mit Abbas sitzt einer der Unterzeichner der Genfer Initiative auf dem palästinensischen Präsidentensessel, die einst ein wesentlicher Auslöser für Sharons Abzugsplan war. Angesichts der neuen Töne aus der Muqata muss die israelische Regierung versuchen, nicht als das alleinige Hindernis für einen Frieden dazustehen. Es besteht daher kein Zweifel, dass diese Regierung den Abzug durchsetzen wird, auch gegen den militanten Widerstand der Siedlerorganisationen. Die Radikalität dieses Widerstandes ist ein neues Phänomen in der israelischen Gesellschaft. Sie ist ein Hinweis darauf, dass mit dem Abzug in der Tat das Siedlungsprojekt und die Besatzungsherrschaft insgesamt in Frage gestellt werden. Genauso gut wie ein Rückzugsgefecht könnte der Widerstand der Siedler jedoch auch der Vorgeschmack auf die Entstehung eines nationalreligiösen Fundamentalismus in Israel sein, der demjenigen in der palästinensischen Gesellschaft in nichts nachzustehen braucht.

Israel hat die Wahl

Von allergrößter Bedeutung für die weitere Entwicklung des Konfliktes wird daher sein, ob dieser Fundamentalismus ein marginales Phänomen am Rande der Gesellschaft bleibt, oder ob er Einfluss auf die israelische Politik gewinnt. Da die "gemäßigte" Rechte vor allem im Likud aus machtpolitischen Gründen stets bereit war, mit der radikalen Rechten zu paktieren, bleibt diese Marginalisierung Aufgabe der Linken, einschließlich ihrer liberalen und sozialdemokratischen Fraktionen. Für die Arbeitspartei stehen in diesem Jahr weitreichende Weichenstellungen an, insbesondere die Wahl ihres Vorsitzenden im Juni. Die relative Einmütigkeit, mit der sie dem Koalitionsbeitritt zugestimmt hatte, täuscht darüber hinweg, dass hier heftige innere Kämpfe toben. Wenig hingegen deutet darauf hin, dass sich dabei eine explizite Alternative zur Politik der Likud-geführten Regierung herausbilden wird. Aller Voraussicht nach heißt das Duell am Ende Shimon Peres gegen Ehud Barak. Der Mythos, auf dem die Popularität der Politik Sharons zu einem guten Teil basiert, dass es nämlich auf palästinensischer Seite keinen Partner für einen Frieden gäbe, ist von diesen beiden Politikern in die Welt gesetzt worden. Es besteht wenig Hoffnung, dass ausgerechnet sie diesen Mythos nun zerstören könnten.
Unter diesen Voraussetzungen bleibt die israelische Politik weit mehr als die palästinensische weiterhin der Ära Arafats verhaftet. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die radikale Linke in Israel. In ihrer Solidarität mit Arafat hat sie vielfach die tiefen Spaltungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft nicht wahrnehmen wollen. Arafats Selbststilisierung als Opfer der israelischen Besatzung wurde von vielen oppositionellen Israelis kritiklos übernommen. Die radikale Linke hat verzweifelt versucht, das stereotype Bild von den terroristischen Palästinensern zu dekonstruieren, dabei aber häufig die innerpalästinensische Kritik an den tatsächlich vorhandenen reaktionären Tendenzen unfreiwillig zu delegitimieren geholfen. Dabei hätte der Hinweis auf die Konflikte innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und die Unterstützung dissidenter Positionen sicherlich mehr zur Dekonstruktion des Mythos des ein brira - wir haben keine Wahl - beitragen können. Um der israelischen Gesellschaft eine Perspektive jenseits der desaströsen Politik Sharons zu weisen, muss sich die gesamte Linke von Arafat emanzipieren. Wenn ihr das gelingt, könnte dessen Tod in der Tat der Anfang einer neuen Epoche sein.

Artikel in iz3w 283 (März 2005).