Sozialdemokratie und politische Partizipation - eine "wilde Ehe"?

Es ist schon immer ein schwieriges Verhältnis gewesen; und das wird es aller Voraussicht nach bleiben: Die Sozialdemokratie als deutsche Massenintegrations gründet sich auf Ansprüchen nach Beteilig

Es ist schon immer ein schwieriges Verhältnis gewesen; und das wird es aller Voraussicht nach bleiben: Die Sozialdemokratie als deutsche Massenintegrations- und dann - seit 1959 offiziell vermeldet - als Volkspartei gründet sich auf Ansprüchen nach mehr politischer Beteiligung.
Zugleich wehrt sie diese sowohl als große Organisation wie auch als Regierungspartei ein ums andere Mal ab und enttäuscht so ihre AnhängerInnen.
Diesem schwierigen Verhältnis soll im Folgenden nachgegangen werden. Normativen wie funktionalen Betrachtungen über Bedeutung und Reichweite von Partizipation folgt eine Skizze des Verhältnisses zwischen organisierter Sozialdemokratie und Partizipation unter besonderer Berücksichtung zweier gesellschaftspolitischer Lager, in denen ein eher umfassender und normativer Partizipationsbegriff handlungsleitend ist. Die Überlegungen münden in die These, dass zwischen organisierter Sozialdemokratie und diesen gesellschaftspolitischen Lagern (damit dem Anspruch nach mehr Beteiligung) auch zukünftig eine prekäres, aber wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis bestehen wird.
Partizipation als Wert - Normative Perspektiven Warum ist Partizipation thematisch relevant? Grundsätzlich gilt es, normativ geprägte und funktionalistische Antworten auf diese Frage zu unterscheiden. Normativer Kern der Forderung nach politischer Beteiligung ist das gesellschaftsvertragliche Prinzip, dass diejenigen, die von einer Entscheidung betroffen sind, auch diese Entscheidung fällen bzw. die Entscheidungsfindung beeinflussen sollen (Abromeit 2002). Historisch hat sich zunächst in den nord-westlichen Staaten ein ursprünglich liberales Demokratiemodell durchgesetzt, in dem Wahlen, Delegierung, Repräsentation und Gewaltenteilung verankert sind. Sowohl an diesem Demokratiemodell als Ganzem wie auch an den sie tragenden Institutionen sind im Verlauf ihrer geschichtlichen Entwicklung aus einer partizipatorischen Perspektive diverse Kritiken geübt worden.
Grundsätzlicher Natur war die These J.J. Rousseaus, dass sich politische Anliegen nicht delegieren und vertreten lassen, sondern eine Identität von Regierten und Regierenden anzustreben sei. Auf dieser Vorstellung haben sich verschiedene basisdemokratische Politikentwürfe immer wieder gegründet. Repräsentation als Prinzip wird abgelehnt.
Ebenfalls grundsätzliche Kritiken am Modell der repräsentativen Demokratie fokussierten auf die Bestimmung des politischen Raumes, d.h. der Sphäre, in der demokratisch über Normen und deren Realisierung entschieden wird. Eine Kritik setzt - fußend auf der Beobachtung der "doppelten Freisetzung" aus traditionellen feudalen Bindungen und von der Verfügung über Produktionsmittel - an den materiellen Abhängigkeitsverhältnissen im Rahmen kapitalistischer Produktionsweisen an. Politische Partizipation bleibt so lange fundamental eingeschränkt, so lange in Manufakturen, Fabriken, Büros und - aus heutiger Sicht - Call Centern Unterdrückungsverhältnisse herrschen.
Diese beruhen auf dem Zwang, im Rahmen enteigneter Arbeit seine/ihre Reproduktion zu sichern. Diese Kritik mündete in einer Forderung nach sozialer Demokratie und Beteiligung innerhalb der Produktionsverhältnisse (Marshall 1992).
Die betriebliche Mitbestimmung ist das zentrale Beispiel. Dieser Partizipationsanspruch gehört zu den konstitutiven Elementen der deutschen Sozialdemokratie.
In der aktuellen Debatte zeichnet sich diese ‚alteÂ’ Konfliktlinie in dem Streit zwischen SPD und Union um die betriebliche Mitbestimmung ab. Zum anderen wird im Rahmen der weiteren europäischen Liberalisierungsbeobachtungen deutlich, dass die rot-grüne Bundesregierung dazu tendiert, in den üblichen Kopplungsgeschäften den Erhalt des deutschen Mitbestimmungsmodells als unveränderbare Position anzusehen.
Eine andere grundsätzliche normative Kritik an dem Modell der repräsentativen Demokratie hat demgegenüber erst spät wirklich Eingang in die deutsche Sozialdemokratie gefunden, auch wenn das Thema von August Bebel bereits 1879 in "Die Frau und der Sozialismus" diskutiert wurde.
Die Bestimmung der öffentlich-politischen Sphäre trennte nicht allein die kapitalistische Ökonomie, sondern auch das sog. Privatleben ab. Das westliche Demokratiemodell und seine gesellschaftlichen Grundlagen - so die feministische Kritik - beruht auf einem "Geschlechtervertrag", der die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen festlegte und diese von politischer Beteiligung ausschloss (Pateman 1988). Nun hat sich die deutsche Sozialdemokratie - nicht zuletzt aus (fehlgeschlagenen) wahlstrategischen Motiven - für das Frauenwahlrecht einund es dann 1918 mit umgesetzt. Mit der angemessenen Repräsentation von Frauen in Partei- und Regierungsämtern tat sie sich erheblich schwerer, ebenso im Umgang mit familiären Gewalt- und Ausbeutungsverhältnissen.
Hier hat erst die sog. zweite Frauenbewegung seit den 1970er Jahren zu einer Änderung der Programmatik geführt. Eine erhebliche Ambivalenz zu dem Thema genderorientierter Gerechtigkeit und der damit verbundenen Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten ist geblieben.
Schließlich wird aus einer normativen partizipatorischen Perspektive auch jene organisationssoziologische Entwicklung in den Blick genommen, die unter dem Label des "ehernen Gesetzes der Oligarchie" (R. Michels) firmiert. Knapp beschrieben geht es darum, dass sich in großen Organisationen Eliten mit der Verfügung über wesentliche Ressourcen herausbilden, welche die innerparteilichen Willensbildungsprozesse so präformieren, dass eine politische Mitbestimmung der Basis erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird.
Seit den 1980er Jahren sind zwei weitere Kritiken an den traditionellen Formen der Entscheidungsfindung in repräsentativen Demokratien hinzugekommen. Beide hängen eng mit dem Prozess der Globalisierung zusammen. Zum einen wurden aufgrund von Migration nicht allein Forderungen laut, Flüchtlingen und Einwander/ innen rasch Staatsbürgerrechte und damit Wahlmöglichkeiten zu bewilligen.
Mit Migration waren, zum zweiten, auch Fragen der interkulturellen Beziehungen und einer politischen Beteiligung aufgeworfen, die danach strebt - bekannt geworden ist das Beispiel des Schächtens, die volle Problematik zeigt sich in der sog. Kopftuchdebatte -, kulturelle Praktiken anzuerkennen, die als besonders und erhaltenswert definiert wurden. In der demokratietheoretischen Debatte ist dann von einer Ausweitung von Rechten und politischen Teilhabemöglichkeiten auf die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Praktiken die Rede, kurz von politischer Partizipation auf Basis kultureller Differenz (Honneth/Fraser 2003).
Schließlich verändert und mindert der Prozess der Globalisierung aber auch die Reichweite traditioneller Mitbestimmungsformen.
Je mehr sozio-ökonomische Entwicklungen durch globalisierte Interaktionen - seien diese ökonomischer Natur wie auf dem Finanzmarkt oder bei Betriebsverlagerungen, seien diese politischer Natur im Zuge der Europäischen Union und der Aufwertung internationaler Institutionen - bestimmt sind, umso weniger genügen herkömmliche nationalstaatlich gebundene Wahl- und Entscheidungsprozeduren.
Die Räume der traditionellen politischen Partizipation und die Räume, in denen die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden, fallen auseinander (Zürn 1998, Berndt/Sack 001).
In diesen sechs skizzierten Perspektiven erscheint politische Beteiligung einerseits als ein uneingelöstes Versprechen, da sie durch Delegation, hierarchische Organisationsstrukturen, ökonomische Ausbeutung, genderspezifische Unterdrückung und kulturelle Ausschlüsse begrenzt wurde und wird. Anderseits erweisen sich in der Globalisierung auch die bisher durchgesetzten Formen als eine angegriffene Errungenschaft. In jedem Fall ist diese partizipatorische Perspektive dadurch charakterisiert, dass politische Beteiligung als unbedingter Wert angesehen wird; eine Perspektive, die uns bei der Charakterisierung der Einstellung gesellschaftspolitischer Lager wieder begegnen wird.
Partizipation für Soziales Kapital - Funktionalistische Perspektiven In der aktuellen Debatte um Beteiligungs- und Mitbestimmungsformen wird dieses normative durch ein funktionalistisches Verständnis von Partizipation ergänzt, mitunter gar abgelöst. Im Kern soll dann durch die Gewährung von Mitbestimmung die Stabilität des existierenden politischen Systems aufrechterhalten werden. Dies geschieht im Wesentlichen durch vier Funktionen von Beteiligung.
Durch die Einführung kooperativer Prozeduren und sog. Konfliktvermittlungsverfahren - wie z.B. bei der Mediation am Frankfurter Flughafen - sollen umstrittene politische Entscheidungen durch die Einbindung aller als relevant erachteter Akteure so eingedämmt werden, dass sie nicht in eine - in Wahlenthaltungen oder Wechselwählen messbaren - Entlegitimierung politischer Parteien münden (Sack 2001). In der Regel wird die Einführung solcher Verfahren jedoch auch damit begründet, dass es nicht allein um Akzeptanz, sondern auch um den Austausch von Expertise und Wissen geht. Auf diese Weise sollen bessere Problemlösungen ermöglicht werden (Zilleßen u.a. 1993). Beteiligung wird also, zweitens, als Element einer Kooperation zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren verstanden, aufgrund derer ‚bessere ProdukteÂ’ oder ‚InnovationenÂ’ entstehen.
So zeigt gerade die Stadtentwicklung, dass z.B. in "Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf" Bürgerinitiativen und Vereine zur Zusammenarbeit mit der Verwaltung und den lokalen Unternehmen aufgefordert werden, um angemessene Maßnahmen zu entwickeln. Hier ist dann der Übergang fließend zu der dritten Funktion von Beteiligung, die gerade im Rahmen des sog. bürgerschaftlichen Engagements offenbar wird. Beteiligung von Vereinen, Bürgerinitiativen und Einzelpersonen wird mitunter schlicht auf eine Ersatzfunktion im Rahmen der Reduzierung öffentlicher Dienstleistungen reduziert.
Das ‚klassische BeispielÂ’ ist das von der Schließung bedrohte Freibad, welches dann von einem örtlichen Verein übernommen wird, der eine Mindestnutzung und die Pflege der Anlagen garantiert. Mit der Förderung von Partizipation im Rahmen Bürgerschaftlichen Engagements wird dann ein viertes verbunden: die Unterstützung und Bildung von sozialem Kapital, d.h. von direkten netzwerkartigen Beziehungen in der Gesellschaft.
Damit soll ein kommunitaristischer, also ein gemeinschaftlicher Geist gefördert werden, der den gesellschaftlichen Desintegrationserfahrungen entgegenwirkt und so auch das politische System stabilisiert (Putnam 2000).
Sozialdemokratie, politische Beteiligung und gesellschaftspolitische Lager Dieser Überblick über normative wie funktionalistische Sichtweisen des Stellenwertes politischer Beteiligung hat nicht allein deren erhebliche Vielfalt offenbart; er führt zugleich auf das schwierige Verhältnis der SPD zu Fragen der Partizipation hin. Politische Beteiligung und deren Ausweitung gehört zu den grundlegenden inhaltlichen Ausrichtungen der Sozialdemokratie, aber der alltägliche Umgang hat sich stets als schwierig erwiesen.
Dafür war über lange Jahre eine auch ausschließende, eher hierarchisch orientierte und männlich dominierte Organisationskultur innerhalb der Partei mitverantwortlich. Diese ist erst dann von Seiten der Partei grundsätzlicher in Frage gestellt worden, als die offenkundigen Mitgliederverluste eine Öffnung nahe legen mussten; allein aus organisationserhaltendem Interesse, nicht aufgrund einer Werteorientierung. Vor dieser Einsicht sind jedoch bei einfachen Parteimitgliedern mitunter negative Erfahrungen mit der innerparteilichen Demokratie in der SPD gemacht worden, die sich tief eingeschrieben haben. Wer sich mit ausgetretenen SPD-Mitgliedern unterhält, ist in der Regel mit zwei Argumenten konfrontiert: dass die Regierungspolitik nicht ihrer Parteiprogrammatik entspreche und dass sich in der Partei nichts bewegen lassen.
Die traditionell eher hierarchische Organisationskultur wird zudem durch einen Effekt in der Mediengesellschaft verstärkt: die starke Personalisierung von Politik in Funk und Fernsehen. Es wäre jedoch keinesfalls hinreichend, das schwierige Verhältnis der SPD zu Fragen der politischen Partizipation auf Aspekte der eher hierarchischen innerparteilichen Organisationskultur und der - in einer Mediengesellschaft notwendigen - Personalisierung zu reduzieren. Das Problem liegt tiefer.
Es liegt in der politisch-kulturellen Struktur von Mitgliedschaft und Wähler/ innen.
Der sozialstrukturelle Spagat der SPD zwischen denjenigen Gruppen, die von der Bildungspolitik der 1970er Jahre und einher gehender sozialer Mobilität profitiert haben, und denjenigen Schichten, die bei formal geringer Qualifikation zu den Verlierern von Deindustrialisierungsprozessen gehören, ist hinreichend beschrieben worden (zum Folgenden s. Sack 2002). An dieser Stelle geht es um das spezifische Verhältnis unterschiedlicher SPD-naher sozialer Gruppen zu Fragen der politischen Partizipation. Hier zeichnet sich in politischen Deutungsmustern ein Zielkonflikt zwischen materieller Sicherheit und politischer Einheit ab. Für die einen gilt das Primat der ökonomischen Sicherheit durch den Zugang zur Erwerbsarbeit, die mitunter in das neu- Köhlersche Diktum mündet, dass sich alles dem Erhalt und dem Gewinn von Arbeitsplätzen unterzuordnen habe.
Dahinter liegen dann politische Einstellungen, in denen Fragen eines erweiterten Partizipationsverständnisses, wie sie etwa im Rahmen der Debatte um genderspezifische und interkulturelle Fragen auftauchen, bestenfalls sekundär sind.
Auch menschen- bzw. bürgerrechtliche Aspekte werden als nachrangig eingestuft.
Die Debatte innerhalb der SPD um das Anti-Diskriminierungsgesetz wirft einen symptomatisches Licht auf diesen Teil der SPD. Mitunter - hier repräsentiert O. Schily durchaus einen relevanten Teil der Mitglieder und der Wählerschaft - ist dieses Primat der materiellen Sicherheit durchaus mit eher autoritären Einstellungen verbunden.
Dieser politischen Orientierung stehen dann durchaus Gruppen entgegen, die eine Ausrichtung am Primat der sozialen Sicherheit nicht in dieser Form vollziehen. Materielle Fragen und Arbeitsverhältnisse bleiben - hier liegt der zentrale Unterschied zu der inhaltliche Orientierung bündnisgrünorientierter "Radikaldemokraten" - wichtig, aber sie verdrängen nicht Fragen der politischen Partizipation und erweiterter gesellschaftlicher Rechte.
Vester u.a. haben zwei entsprechende gesellschaftspolitische Lager mit einer gewissen SPD-Nähe identifiziert. Sie sprechen zum einen von einem "sozialintegrativen Lager". Hier handelt es sich um jüngere und mittlere Altersgruppen in eher modernen Berufen, die eher aus einem Facharbeitermilieu stammen und ein "Politikmodell universaler Gerechtigkeit" vertreten, d.h. dass es neben Ökologiefragen zentral um Gleichstellungen und Berechtigungen von Frauen, Ausländer/innen, Arbeitnehmer/ innen und sozial Schwachen geht. Zum anderen wurde das Lager der "Skeptisch-Distanzierten" identifiziert, die bei einer ähnlichen Altersstruktur eher von mittleren Lagen von Facharbeitern und Angestellten mit einer Herkunft aus einfachen Arbeitermilieus gekennzeichnet sind. Hier wird soziale Gerechtigkeit als selbst erkämpfter Anspruch gesehen, hier gibt es eine starke solidarische Orientierung und hier wird ebenfalls Wert auf die Chancenverbesserung für Frauen, Ausländer und sozial Schwache gelegt (Vester u.a.
2001: 58-67).
Was charakterisiert diese beiden SPD-nahen gesellschaftspolitischen Lager darüber hinaus? In Abstufungen zeigen sie solidarische und normativ-partizipatorische Einstellungen mit einem weiten inklusiven Verständnis; sie sind gewissermaßen diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die sich die eingangs skizzierten normativen Beteiligungsperspektiven angeeignet haben und diese inhaltlich vertreten. Ihre politische Desillusionierung beruht auf zweierlei: Einerseits werden hierarchisch-ausschließende Organisationskulturen und das "eherne Gesetz der Oligarchie" (R. Michels) als wesentliche Schranke für eine Ausweitung der politischen Partizipation wahrgenommen.
Andererseits markiert Globalisierung als Prozess der Entgrenzung und des nationalstaatlichen Souveränitätsverlustes aufgrund der fehlenden Entsprechung der Räume der Entscheidungsfindung und Entscheidungsbetroffenheit eine wesentliche Hürde. Mit der politischen Desillusionierung geht jedoch keine politische Passivität einher. Im Gegenteil: Hier ist nicht allein eine erhebliche Sympathie für auch unkonventionelle Politikformen mit der breiten Palette von Unterschriftensammlungen über die Gründung von Bürgerinitiativen bis hin zur Organisation von Demonstrationen festzustellen. Diese gesellschaftspolitischen Lager sind basispolitisch ausgesprochen aktiv (Vester u.a. 2001: 58-67).
Zur wechselseitigen Abhängigkeit von Sozialdemokratie und Partizipation Entgegen dem oft zu hörenden Lamento, dass eine allgemeine Politikverdrossenheit mit einer passiven Haltung vorherrsche, zeigen Studien etwas anderes: Partizipation ist weiterhin weit verbreitet, sie hat nur ihre Form verändert. Sie tendiert dazu, sich nicht mehr kontinuierlich in Parteien, stabilen Wahlpräferenzen und Verbänden zu artikulieren, sondern - mitunter in Konjunkturen - in unterschiedlichen Vereinen und Initiativen, kurz in eher unkonventionellen Politikformen (Bertelsmann-Stiftung 2003).
Es zeigt sich zudem, dass politische Beteiligung nicht einfach funktionalistisch verstanden wird, sondern - in verschiedenen Varianten - normativen Erwägungen folgt, also auch Ausdruck einer grundsätzlichen demokratischen Haltung ist. Insbesondere für die SPD stellt sich das Verhältnis zu politischer Partizipation als problematisch heraus. Diese zählt einerseits zur grundsätzlichen Programmatik, wird aber über eine eher geschlossene Organisationskultur, eine kompromissorientierte Regierungs praxis und eine medienorientierte Personalisierung immer auch abgewiesen. In ihrer Mitglieder- und Wählerstruktur muss die Partei - das ist ihr zusätzliches strukturelles Problem - gesellschaftspolitische Lager einbinden, die deutlich unterschiedliche Haltungen zu Fragen der politischen Partizipation aufweisen.
Wie wird sich das Verhältnis zwischen parteiorganisierter Sozialdemokratie und dem gesellschaftlich verankertem Drang zu politischer Partizipation weiter entwickeln? Knapp gesagt: Sie bleiben aufeinander angewiesen.
Zur Zeit zielen unterschiedliche Maßnahmen, die von sozialdemokratisch geführten Regierungen initiiert wurden, darauf ab, Partizipation funktionalistisch zu nutzen, d.h. im Sinne der Konflikteindämmung, der Problemlösungsorientierung und der Bildung des sozialen Kapitals. Das ist mitunter angemessen, das ist aber aus dem Blickwinkel eines normativen Partizipationsverständnisses auch durchsichtig.
Die SPD muss schon allein aus wahlstrategischen Motiven der letztgenannten Beteilungsperspektive etwas anbieten, sie ist diejenige Partei, die von einer möglichen Wahlenthaltung der beschriebenen gesellschaftspolitischen Lager negativ betroffen sein wird.
Aber worin liegt die Wechselseitigkeit begründet? Können sich die benannten gesellschaftspolitischen Lager nicht einfach anderen Parteien zuwenden? Sie könnten. Aber angesichts des deutschen Politikangebotes erscheint es nur bedingt wahrscheinlich. Gegenüber den Bündnisgrünen gibt es in den benannten Lagern aufgrund der starken Betonung sozialer Gerechtigkeit und von Arbeitsthemen eher Vorbehalte. Der Beleg, ob die WASG eine wirkliche Wahlalternative darstellt, steht aus. Die PDS ist im Westen nicht angekommen. Es bliebe eine Form der Desillusionierung, die sich bei Wahlen der Stimme enthält. Zu vermuten ist aber, dass gerade diejenigen, die diskontinuierlich in Initiativen aktiv sind, ein Verständnis davon entwickeln, dass für eine Verstetigung von Anliegen und Normen deren Institutionalisierung im politischen System relevant ist und dass unterschiedliche Parteikonstellationen durchaus unterschiedliche Einflussmöglichkeiten bieten.
Dies gilt auch für jene Formen politischer Partizipation in transnational agierenden Netzwerkgeflechten, die sich global artikulieren wollen, aber ihre Einfallstore nicht allein in einer weltweiten Mediengesellschaft oder bei Welt-Konferenzen haben, sondern notwendig weiterhin dominierende intergouvernementale Verhandlungen beeinflussen müssen. Es erscheint also durchaus plausibel, dass der ‚wilden EheÂ’ zwischen Sozialdemokratie und politischer Partizipation noch Einiges ins Haus steht.
Literatur Abromeit, Heidrun 2002: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie. Opladen Berndt, Michael/Sack, Detlef 2001: Glocal Governance? Voraussetzungen und Formen demokratischer Beteiligung im Zeichen der Globalisierung.
Wiesbaden Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2003: Politische Partizipation in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage. Bonn Hennig, Eike/Lohde-Reiff, Robert/Sack, Detlef 2001: Wahlenthaltung in der Großstadt: Das Beispiel Frankfurt am Main; in: frankfurter statistische berichte, Jg. 63, Heft 3, S.224-251 Honneth, Axel/Fraser, Nancy 2003: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main Marshall, Thomas H. 1992: Bürgerrechte und soziale Klassen. Frankfurt am Main Pateman, Carol 1988: The Sexual Contract. Cambridge Putnam, Robert D. 2000: Bowling Alone. New York Sack, Detlef 2001: Glokalisierung, politische Beteiligung und Protestmobilisierung. Zum Mediationsverfahren Flughafenerweiterung Frankfurt am Main, in: Klein, Ansgar; Koopmans, Ruud; Geiling, Heiko (Hrsg.): Globalisierung - Partizipation - Protest. Opladen, S. 293-317 Sack, Detlef 2002: Machtverlust durch Wahlenthaltung? Risiko für die rot-grüne Koalition, in: Vorgänge 1/2002, S. 41-49 Vester, Michael et al. 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Zweite vollständig überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassung, Frankfurt am Main Zilleßen, Hort/Dienel, PeterC./Strubelt, Wendelin (Hrsg.) 1993: Die Modernisierung der Demokratie.
Internationale Ansätze Zürn, Michael 1998: Regieren jenseits des Nationalstaats.
Frankfurt am Main