Gleichgewichtsübungen

Die Mobilisierung des Bürgers zwischen Markt, Zivilgesellschaft und aktivierendem Staat

Für eine anständige Gesellschaft, erklärte Giddens, brauche man drei Bereiche, die obendrein gleich gewichtet sein müssten.

In einem Interview aus dem Juni 2000 gab Anthony Giddens so etwas wie eine Definition eines wohlgeordneten Gemeinwesens: Für eine anständige Gesellschaft, erklärte er, brauche man drei Bereiche, die obendrein gleich gewichtet sein müssten: "Man benötigt eine gute aktive Regierung. Aber zu viel Regierung wird schnell bürokratisch. Man braucht weiterhin eine anständige Marktwirtschaft. Aber durch einen zu starken Markt wird alles kommerzialisiert, und das ist nicht wünschenswert.
Schließlich braucht man noch eine starke Zivilgesellschaft. Aber falls diese zu stark wird, artet sie in eine Art von Anarchie aus, wie man sie zum Beispiel in Nordirland beobachten kann. Eine gute Gesellschaft hält diese drei Bereiche im Gleichgewicht." (Giddens, 2000, S. 336) Giddens´ Formel ist paradigmatisch für das, was man mit Michel Foucault die Gouvernementalität der Gegenwart nennen könnte.
Mit diesem Begriff bezeichnete der französische Philosoph und Historiker die Rationalitäten und Technologien des Regierens und Sich-selbst-Regierens, deren Transformationen er vor allem in seinen späten Arbeiten nachging. (Foucault 2000) Sein Begriff des "Regierens" greift dabei - im Unterschied zu dem von Giddens - weit über die Sphäre des Staates hinaus bzw. setzt weit unterhalb staatlicher Interventionen ein und bezieht sich auf "die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten". (Foucault 1996, S. 118f.) Foucault sprach in diesem Zusammenhang auch von der "Führung der Führungen", wobei "führen" im Doppelsinn des französischen (se) conduire gleichermaßen "die Tätigkeit des ‚Anführens‘ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmechanismen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten" einschließt. (Foucault 1987, S. 255) Historisch angelegte wie gegenwartsbezogene Gouvernementalitäts- Analysen, wie sie sich insbesondere im angloamerikanischen Bereich als eigenständige Forschungsrichtung etabliert haben, richten ihr Augenmerk auf die Mechanismen der Fremd- und Selbstführung, auf jene Ensembles von Verstehensformen, Zurichtungsstrategien und Selbsttechnologien, aus denen sich die "Menschenregierungskunst" zusammensetzt.
Ausgehend von Giddens´ Bestimmung und methodisch anschließend an die governmentality studies versucht der folgende Beitrag, so etwas wie eine Grammatik zeitgenössischen Regierens herauszupräparieren.
Harmonischer Ausgleich der Sphären Zunächst fällt auf, dass Giddens ein Balancemodell entwirft: Staat, Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft sollen so austariert werden, dass jede Sphäre die Expansion der beiden anderen begrenzt.
Die destruktiven Effekte einer hypertrophen Verwaltung sollen ebenso vermieden werden wie die eines verallgemeinerten Wettbewerbs oder der Auflösung sozialer Kohäsion. Eine gute Regierung - im beschriebenen weiten Sinne des Wortes - ist demnach jene, bei der politische, ökonomische und bürgerschaftliche Steuerungs- bzw. von Giddens´ trinitarischer Formel.
Zeitgenössische Regierungslehren zeichnen sich dadurch aus, dass sie Politik und Ökonomie gleichermaßen dezentrieren und die Sphäre der Zivilgesellschaft aufwerten.
Balancemodelle sind Befriedungsprojekte.
Dazu müssen sie einerseits unterstellen, dass jene Sphären, die sie in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringen wollen, sich tatsächlich so voneinander trennen lassen, wie es Giddens´ Drei-Reiche- Lehre suggeriert. Andererseits müssen sie ausblenden, dass die innere Dynamik jedes Bereichs beständig nicht nur diesen selbst zu destabilisieren, sondern auch die Integrationskraft der beiden anderen zu untergraben droht.
Die Gleichgewichtsszenarien sind deshalb weniger deskriptiv als präskriptiv. Sie beschreiben nicht die Realität, sondern geben die Richtung vor, in der diese verändert werden soll. Gleichwohl lassen sich die Good-Governance-Konzepte keineswegs Selbststeuerungsmechanismen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Governance statt Government also.
Darin steckt zugleich eine dreifache Abstoßung: erstens von jeder Form eines politischen Totalitarismus, aber auch von Planbarkeitsutopien sozialdemokratischer Provenienz; zweitens vom ökonomischen Imperialismus der Neoliberalen, schließlich drittens von der kommunitaristischen Verklärung traditioneller Gemeinschaftsbindungen.
An die Stelle der vertrauten Nullsummenspiele - Staat versus Markt, Konkurrenz versus Kooperation, souveräne Ordnung versus Selbstorganisation der Bürger - soll eine Win-win-Konstellation treten, die alle drei Sphären stärkt, indem sie jede ihr Maß an den beiden anderen finden lässt.
Da weder eine Sphäre über die anderen dominieren soll, noch eine übergeordnete Instanz existiert, welche ihr Verhältnis reguliert, kann das angestrebte Gleichgewicht nur aus dem freien Spiel der Kräfte hervorgehen.
Auf diese Weise wird es möglich, mehr Markt und mehr Staat zu fordern, den Wettbewerb zu verschärfen und mehr Solidarität einzuklagen, die Kompetenzen der Administration zu erweitern und den Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteure zu stärken.
In dieser Gleichzeitigkeit von politischer, marktwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Mobilisierung liegt das Paradigmatische auf einen moralischen Imperativ reduzieren.
Sie bezeichnen vielmehr erstens das Telos der Regierungsanstrengungen, zweitens liefern sie eine Vielzahl von Strategien und Taktiken, um dieses Telos zu erreichen, drittens legen sie spezifische Wirklichkeitsbereiche und Wahrheitskriterien fest, in denen bzw. gemäß denen die intendierten Interventionen operieren, schließlich entspricht ihnen viertens ein spezifischer Modus der Subjektivierung, d.h.
sie rufen den Einzelnen in einer spezifischen Weise als Subjekt an. Als mündigen Demokraten beispielsweise, als unternehmerisches Selbst oder als engagiertes Mitglied von Vereinen, Bürgerinitiativen oder Selbsthilfegruppen. Anrufung meint hier, im AlthusserÂ’schen Sinne, dass der Einzelne von den Instanzen, die auf ihn einwirken, immer schon als das Subjekt adressiert wird, zu dem er erst gemacht werden bzw. sich selbst machen soll. Weil die zeitgenössischen Programme des Regierens und Sichselbst- Regierens auf die parallele Mobilisierung und zugleich auf ein Gleichgewicht von Staat, Markt und Zivilgesellschaft geeicht sind, müssen sie die Individuen mit widersprüchlichen Anrufungen konfrontieren.
Der ausbalancierten "guten Gesellschaft" entspricht die von jedem einzelnen immer wieder neu herzustellende Balance zwischen seiner Existenz als Marktsubjekt, als Zivilgesellschaftsakteur und als Staatsbürger.
Konflikte sind dabei vorprogrammiert, doch wenn die Therapie immer schon feststeht, ist auch die Diagnose kein Problem: Wer den an ihn gestellten Anforderungen nicht genügt, dem mangelt es an innerem Gleichgewicht. - Die folgenden Abschnitte umreißen die Konturen der drei Anrufungsfiguren.
Konturen des unternehmerische Selbst Die inflationäre Rede von Ich AG´s, Intrapreneuren und Arbeitskraftunternehmern zeichnet den Menschen als Shareholder seines individuellen Humankapitals, der in aller unternehmerischen Freiheit, aber auch bei vollem Geschäftsrisiko sein Leben managt.
In dieser Figur verdichten sich eine Vielzahl gegenwärtiger Subjektivierungsprogramme.
Die Anrufung des unternehmerischen Selbst erschöpft sich nicht in politischer Semantik, sie bündelt nicht nur einen Kanon von "Du sollst dieses"- "Du darfst nicht jenes"-Regeln, sondern definiert auch die Wissensformen, in denen Individuen die Wahrheit über sich erkennen, die Kontrollund Regulationsmechanismen, denen sie ausgesetzt sind, sowie die Praktiken, mit denen sie auf sich selbst einwirken. Das unternehmerische Selbst bildet den Fluchtpunkt jener Kraftlinien, die - unter anderem - in institutionellen Arrangements und administrativen Regelungen, in Arbeits- und Versicherungsverträgen, in Trainingsprogrammen und Therapiekonzepten, in medialen Inszenierungen und alltäglichen Performanzen wirksam sind.
Nach Foucault ist die Gouvernementalität neoliberaler Prägung generell dadurch gekennzeichnet, dass der Markt als "eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal gegen die Regierung" (Foucault 2004, S. 342) fungiert, vor dem sich alle Formen menschlichen Handelns und Sich-Verhaltens zu verantworten haben: "Das Ökonomische ist in dieser Perspektive nicht mehr ein fest umrissener und eingegrenzter Bereich menschlicher Existenz, sondern sie umfasst prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns und Sich-Verhaltens." (Foucault 1979, 248f.) Die Fähigkeit der Individuen, als freie und rationale Marktsubjekte zu agieren, erscheint - anders als im Liberalismus des 18.
Jahrhunderts - nicht mehr als gegebene anthropologische Konstante, die lediglich freizulegen, auf die im übrigen aber nicht weiter einzuwirken ist. Der homo oeconomicus des Neoliberalismus ist vielmehr ein künstliches, behavioristisch formbares Wesen, das permanenter Konditionierung bedarf, die wiederum keine Instanz effizienter leisten können soll als der Markt selbst.
Dessen Omnipräsenz, so die suggestive Botschaft, lässt nur die Alternative, sich entweder rückhaltlos dem Wettbewerb zu stellen oder als Ladenhüter zu verstauben.
Erfolg hat nur, wer sich der Dynamik des Marktes mimetisch angleicht oder sie gar zu überbieten sucht, mit anderen Worten: wer beweglich genug ist, seine Chance zu ergreifen, bevor ein anderer es tut.
Das unternehmerische Selbst ist deshalb zunächst auf Findigkeit, Innovation und die Übernahme von Unsicherheit geeicht, aber es soll zugleich die minutiöse Kontrolle und vorausschauende Planung nicht preisgeben.
Auf der einen Seite soll es ein detailbesessener Rationalisierer und Risikomanager des eigenen Lebens sein, auf der anderen Seite ein Motivationsgenie, das unablässig nach neuen Höchstleistungen strebt und ein Dauerfeuerwerk kreativer Ideen abbrennt.
Die Anrufung des unternehmerischen Selbst radikalisiert den Individualisierungssog moderner Gesellschaften - und zeitigt die gleichen anomischen Effekte. Für den Markterfolg gilt die Maxime: Jeder könnte, aber nicht alle können. Es ist diese Kombination von allgemeiner Möglichkeit und ihrer selektiven Realisierung, welche die ökonomische Bestimmung unternehmerischen Handelns zum Telos individueller Optimierungsanstrengungen macht und zugleich jenen, die im täglichen survival of the fittest unterliegen, die alleinige Verantwortung für ihr Scheitern aufbürdet. Niemand ist ein immer und überall Entrepreneur, aber jeder kann und soll seine unternehmerischen Tugenden ausbauen. Ob das gelingt, erweist sich allein am Vorsprung gegenüber den Konkurrenten.
Dass man in allen Lagen unternehmerisch agieren soll, die unternehmerischen Qualitäten aber immer nur relational zu jenen der Mitbewerber zu bestimmen sind, verleiht dem Handeln den Charakter eines sportlichen Wettkampfs. Diesem Wettkampf kann sich niemand entziehen, aber nicht alle spielen in der gleichen Liga. Mögen die Aufstiegschancen noch so ungleich verteilt sein, jeder kann seine Position verbessern - sofern und solange er findiger, innovativer, selbstverantwortlicher, führungsbewusster usw. ist als die anderen. Umgekehrt droht jedem der Abstieg, unter Umständen bis ins Bodenlose, wenn die Konkurrenz ihn überholt. Für spielerische Leichtigkeit und noble Fairness bleibt dabei wenig Raum; es herrscht das bedingungslose Diktat des Komparativs. Das unternehmerische Selbst ist nicht nur Leitbild, sondern auch Schreckbild. Was alle werden sollen, ist zugleich das, was allen droht.
Governing (by) community Die Marktvergesellschaftung braucht deshalb Widerlager, und hier kommt die Zivilgesellschaft ins Spiel. Sie bildet, so Gerhard Schröder in einem Aufsatz, auf den sich auch Giddens in seinem Interview bezieht, den "wichtigsten Ort sozialer Teilhabe". In ihr müsse "die Identifikation geschaffen werden, die den Einzelnen an die Gesellschaft bindet."(Gerhard Schröder 2000, S.
204) Auch hier ein Mobilisierungsdiskurs und der gleiche appellative, wenn nicht imperativische Ton wie bei der Beschwörung des unternehmerischen Selbst: Eine Enquete- Kommission des Bundestags widmet sich der "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements", das der fraktionsübergreifende Antrag zu ihrer Einrichtung vorab schon zur "unverzichtbaren Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft" erklärt.
( Deutscher Bundestag, Drucksache 14/2351 vom 14.12.1999) Der Deutsche Sportbund startet zusammen mit der Commerzbank eine Kampagne "Sport braucht Dein Ehrenamt" (www.ehrenamt-imsport.
de), und eine "Aktion Gemeinsinn e.V." prämiert unter der Parole "Hier wird Deutschland verändert" die besten Vorschläge, "was man im Sinne des Gemeinwohls tun kann". Kritische Stimmen, so etwa Claus Offe (1999, S. 119), halten solche Strategien der moral suasion für kontraproduktiv und favorisieren statt dessen "‚weiche‘ und indirekt wirkende Methoden", z.B. ein verändertes Vereins- und Stiftungsrecht oder die Bereitstellung von Infrastruktur für selbstorganisierte Bürgeraktivitäten. Die Einwände beziehen sich jedoch allein auf die Art und Weise der Mobilisierung. Hinterfragt werden die Steuerungsinstrumente, nicht das Ziel einer starken Zivilgesellschaft.
Sie stellt ein Konstrukt von enormer Anziehungskraft dar, das über politische Fraktionierungen und soziale Milieus, Diszi plingrenzen und fachliche Zuständigkeiten hinweg fraglose Plausibilität beanspruchen kann.
Angerufen wird in den Aktivierungskampagnen nicht der individuelle Nutzenmaximierer, sondern das verantwortliche und solidarische social being. Intermediäre Instanzen wie Familie, Vereine, durch ethnische Herkunft oder religiöse Bekenntnisse geprägte Gemeinschaften, Special-Interest- Gruppen und Betroffenen-Initiativen aller Couleur sollen jenen "sozialen Kitt" bereitstellen, auf den die Marktwirtschaft, aber auch das politische System angewiesen sind, ohne ihn selbst - zumindest in ausreichendem Maße - produzieren zu können. Dem neoliberalen governing by market tritt als Korrektiv und Kompensation ein governing by community, der utilitaristischen Moral des unternehmerischen Selbst eine mutualistische Gemeinschaftsethik zur Seite. (Rose 2001) Dieses Regieren durch Gemeinschaft unterliegt ebenfalls der Tendenz zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, die sich Signum des 20. Jahrhunderts ausmachen lässt und die sich im 21. fortsetzt. Die Zivilgesellschaft muss - als sozialer Raum wie als sozialer Handlungsmodus - erst "erfunden" d.h. definiert, sichtbar gemacht und so modelliert werden, dass auf sie gezielt eingewirkt werden kann. Ebenso wie das unternehmerische Selbst bedürfen ihre Akteure fortwährender Stimulation und Unterstützung.
So sammeln Forschungsinstitute Daten über Umfang und Breite des bürgerschaftlichen Engagements, entwerfen Think tanks Leitbilder, während Sozialarbeiter zu Community organizers promoviert werden und Anstellung in Freiwilligenagenturen, Nachbarschaftszentren oder Selbsthilfenetzwerken finden, die wiederum durch Scharen von Evaluatoren und Supervisoren beraten und beforscht werden. Die "technologies of citizenship" (Cruikshank 1999, S. 67ff.), die dabei zum Einsatz kommen - Konzepte wie Empowerment, Partizipation oder Selbstorganisation, Verfahren wie Runde Tische, Open Space, Zukunftswerkstätten, Aktionsforschung oder Mediation -, bauen auf informellen Formen der Meinungs- und Entscheidungsbildung auf und überführen sie in wissenschaftlich angeleitete, häufig professionell betriebene und institutionell abgestützte Methoden.
Wie der Markt neben den erfolgreichen Unternehmern auch ein Heer von Überflüssigen produziert, so definieren die communities der Zivilgesellschaft nicht nur Zugehörigkeiten, sondern auch Andere, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und im Extremverfall gewaltsam verfolgt werden. Auf diese "schwarze Seite" zielt Giddens´ Verweis auf Nordirland.
Bürgermilizen, Jugendgangs, Mafia-Syndikate, Warlords und ihre Banden organisieren sich nicht nur ebenfalls jenseits staatlicher Strukturen, sie nutzen auch ähnliche Kohäsionskräfte, etwa ethnische, religiöse und familiäre Bindungen oder Netzwerke gegenseitiger Hilfe, wie die "zivilen" Akteure der Zivilgesellschaft. Sie mögen die staatlichen Institutionen erschüttern oder erobern wollen oder aber keinerlei politischen Ambitionen hegen, sie mögen als "Gewaltunternehmer" ökonomische Interessen verfolgen oder sich selbstlos für welche Ziele auch immer aufopfern, sie agieren jedenfalls im "weitgehend selbst-regulierten sozialen Raum bürgerschaftlichen Engagements zwischen Staat, Ökonomie und Privatsphäre", so sehr ihr Handeln auch dem widerspricht, was Zivilgesellschaft ausmacht, wenn man diese darüber hinaus noch als "ein noch immer nicht eingelöstes Zukunftsprojekt menschlichen Zusammenlebens in der Tradition der Aufklärung" (Kocka 2001, S. 1) definiert. Die normative Aufladung ist gewiss ein Grundzug des Zivilgesellschaftsdiskurses, aber sie verweist ex negativo auch darauf, in welchem Maße die Realität bürgerschaftlicher Selbstorganisation von gegenläufigen Kräften geprägt war und ist. Diese zivilgesellschaftlichen Destruktions- und Exklusionspotentiale sind selbst wiederum normativ aufgeladen, und die Moral der Zivilgesellschaft oszilliert ständig zwischen dem Universalismus des Citoyen und den (Gruppen-)Egoismen der "Rackets".
Vom Vorsorgestaat zum aktivierenden Staat Die dritte Säule von Giddens´ "guter Gesellschaft", der Staat, unterliegt unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher wie zivilgesellschaftlicher Mobilisierung einem tiefgreifenden Wandel. Die Stichworte sind geläufig: Postuliert wird ein aktivierender und befähigender Staat, der fordert und fördert, der vom "Verantwortungs-Imperialismus" früherer Tage Abschied nimmt und stattdessen die Eigenverantwortung der Bürger stärkt. Gerhard Schröder inseriert ihn im bereits zitierten Aufsatz als "Instrument, die Zivilgesellschaft an die Strukturen der modernen Ökonomie heranzuführen".
(Schröder 2001, S. 202, 207) Das bedeutet gewiss eine Verschlankung seiner Aufgaben wie seines Apparats, doch handelt es sich bei der gegenwärtigen Transformation des politischen Systems keineswegs um eine Deregulierung, sondern um eine Neubestimmung staatlicher Regulierungziele und -mechanismen: So gelangt das altehrwürdige Subsidiaritätsprinzip mit seiner Ordnung gestaffelter Verantwortlichkeiten wieder zu Ehren, und der "Vorsorgestaat", wie ihn François Ewald (1993) in seiner historischen Rekonstruktion der Sozialversicherung beschrieben hat, weicht flexibleren und privatwirtschaftlich organisierten Modellen des Risikomanagements. Diese lockern (bzw. zerschneiden) das Netz verpflichtender Sicherungssysteme und schaffen stattdessen Anreize für eine individuelle "Sorge um sich".
Den Anrufungen des enterprising self wie des Gemeinschaftswesens korrespondiert hier die eines Souveräns seiner selbst, der den mehr oder minder permanenten Ausnahmezustand persönlicher Fährnisse kontrolliert und in diesem Sinne sein Leben führt, wozu die staatlichen Instanzen geeignete Gelegenheitsstrukturen bereitzustellen haben. Dieses autonome politische Subjekt kommt, so zumindest die Ratio des Aktivierungsdiskurses, seinen Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen ebenso bereitwillig nach wie es mit seinem bürgerschaftlichen Engagement das Sozialkapital mehrt und die öffentlichen Haushalte entlastet.
Wie die marktwirtschaftlichen und die zivilgesellschaftlichen changieren allerdings auch die auf den Staat bezogenen gouvernementalen Strategien zwischen einer Grammatik der Sorge und einer Grammatik der Härte. Die Lo- gik der Partizipation wird durchkreuzt von Strategien des Paternalismus, der Disziplinierung und Repression. Ohne Beschwörung von Opferbereitschaft, ohne selektive Exklusion der Nicht-Staatsbürger, ohne präventive Kontrollmechanismen und sanktionierende Gewalt kommt auch der aktivierende Staat nicht aus. Nicht nur "Fördern", sondern eben auch "Fordern", und wo das nicht fruchtet, auch "Überwachen und Strafen".
Der Partizipationsimperativ Die Anrufungen des unternehmerischen Selbst, des sozial verantwortlichen Zivilgesellschaftsakteurs und des mündigen Staatsbürgers verhalten sich komplementär zueinander, gleichwohl lassen sich unschwer eine Reihe übereinstimmender Merkmale ausmachen: "Gefordert und gefördert" werden in allen drei Bereichen Kompetenzen wie Selbstverantwortung, Eigeninitiative, Kooperationsfähigkeit und Flexibilität. Als Schlüsselqualifikationen sollen sie gleichermaßen die Türen zum marktwirtschaftlichen Erfolg wie zum zivilgesellschaftlichen Engagement und zur staatsbürgerlichen Teilhabe öffnen können. Gemeinsam ist ihnen nicht zuletzt das Prinzip der Unabschließbarkeit.
Erzeugt wird ein Sog, der antreibt, ohne dass die Angetriebenen je ankommen könnten: Selbstverantwortlich, initiativ, kooperationsfähig und flexibel ist man nie genug. Es ist dieser Sog, der die wenn nicht prästabilierte, so doch stets von Neuem zu stabilisierende Harmonie von Staat, Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft sichern soll, die Giddens postuliert.
Fluchtpunkt der Aktivierungsanstrengungen in allen drei Sphären ist der Imperativ der Partizipation. Es fällt auf, dass sich in dieser Ausrichtung gegensätzliche Kräfte treffen, wenn auch ihre Ziele durchaus voneinander abweichen. Vereinfacht könnte man sagen: Die Linke setzt auf Partizipation, um politischen Widerstand gleichermaßen mündiger wie solidarischer Bürgerinnen zu mobilisieren; Konservative erhoffen sich die Stärkung von Nachbarschaft, Familie und anderer Gemeinschaften, um so die Kluft zwischen Individuum und staatlichen "Megastrukturen" zu überbrücken; Liberale schließlich sehen Partizipation als eine Strategie, um von staatlicher Unterstützung unabhängige, ökonomisch rationale Akteure hervorzubringen, die ihr Leben als Unternehmer in eigener Sache führen.
Partizipation, und das ist es, was die widerstrebenden Positionen miteinander verbindet, hat nicht nur etwas mit Macht, sondern auch mit Freiheit zu tun, und die Ambivalenzen der Partizipation sind die der Freiheit selbst. Betrachtet man das Verhältnis der beiden Begriffe genauer, so lassen sich drei unterschiedliche Varianten sowohl von Freiheit wie von Partizipation identifizieren: Freiheit kann erstens Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung, Kampf gegen Fremdbestimmung bedeuten. Partizipieren in diesem Sinne heißt, dass diejenigen, deren Stimme bis dahin nicht zählte, sich Gehör verschaffen, dass sie nicht länger nur Befehle entgegennehmen, sondern selbst über ihr Leben entscheiden, mit anderen Worten: dass sie sich selbst regieren. Hier geht es um Auflehnung und Emanzipation.
- Partizipation als Selbstermächtigung. Freiheit kann zweitens so etwas wie freiwillige Zugehörigkeit bedeuten, die Bereitschaft, sich in ein größeres Ganzes einzufügen und einzubringen. Partizipieren heißt in diesem Zusammenhang teilhaben, sich für die Gemeinschaft zu engagieren, als deren Teil man sich begreift. "Frag nicht was Dein Land für Dich tun kann, frag, was du für Dein Land tun kannst", lautet die zeitgemäße Parole.
- Partizipation als Selbstbindung.
Drittens meint Freiheit Wahlfreiheit, die Möglichkeit und die Notwendigkeit, sich zwischen unterschiedlichen Optionen zu entscheiden. Wer wählen kann und muss, kann seine Erfolge und Misserfolge auf niemanden abwälzen. Partizipieren in diesem Sinn ist deshalb gleichbedeutend mit eigenverantwortlichem und am individuellen Interesse ausgerichtetem Handeln. Hier geht es weniger um Teilhabe als um Teilnahme, und zwar um aktive Teilnahme an den allgegenwärtigen Arbeits-, Beziehungsund Aufmerksamkeitsmärkten. Auf diesen Märkten kann sich nur behaupten, wer unternehmerische Qualitäten zeigt, also innovativ ist, Kosten und Nutzen nüchtern kalkuliert und zugleich Mut zum Risiko beweist. - Partizipation als Selbstrationalisierung.
Die drei Varianten lassen sich unschwer den genannten linken, konservativen und liberalen Positionen zuordnen, auch wenn sie sich nur selten trennscharf voneinander abgrenzen lassen, sondern in wechselnden Verbindungen amalgamieren. Dass der Ruf nach mehr Partizipation fraglose Plausibilität beanspruchen kann, ist nicht zuletzt dieser Vieldeutigkeit geschuldet. Die Antwort auf die Frage "Warum sollen Menschen teilhaben?" fällt ganz unterschiedlich aus, je nach dem, ob man darunter ein Projekt der Selbstermächtigung, der Selbstbindung oder der Selbstrationalisierung versteht. Die einen erhoffen sich größere individuelle Autonomie, die anderen einen Zuwachs an sozialer Integration, die dritten mehr Effizienz und Entscheidungsrationalität.
Auch auf die umgekehrte Frage, welchen Übeln denn mittels Partizipation begegnet werden soll, gibt es mehr als eine Antwort: Einmal geht es gegen Unmündigkeit und Fremdbestimmung, das andere Mal soll dem Zerreißen des sozialen Bandes entgegengewirkt werden, im dritten Fall schließlich gilt der Kampf der Trägheit, Unflexibilität und Ineffizienz hierarchischer Führungsmodelle. In allen drei Fällen steht das geforderte partizipative Regieren und Sich-selbst-Regieren nicht in Opposition zur Freiheit, vielmehr handelt es sich um ein Regieren durch Freiheit - governing by freedom.
Freiheit ist hier nicht das, was durch Regierungspraktiken begrenzt, beschnitten oder kanalisiert wird, sondern eine Ressource, die nutzbar gemacht und deshalb gestärkt werden soll.
Den gewährten Partizipationsmöglichkeiten steht deshalb ein Partizipationsdruck gegenüber. Wer sich weigert mitzumachen, sieht sich leicht als autoritätshörig, verantwortungslos oder entscheidungsschwach gebrandmarkt. Man kann Teilhabe und Mitbestimmung nicht erzwingen, aber man kann für ein Klima sorgen, dass darauf hinwirkt, und verfügt auch über die Mittel, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. In der Sprache der Sozialbürokraten: Wer seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt, verliert seinen Leistungsanspruch. Niemand muss den Partizipationsforderungen nachkommen, der Preis für Verweigerer ist jedoch hoch: der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Menschen guten Willens. Ist das Ideal des Mitbestimmens erst einmal als moralische Pflicht verankert, wird das Nicht-mitmachen-Wollen oder -Können zum Sündenfall schlechthin.
Literatur: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004.
Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/ M. 2001.
Barbara Cruikshank, The Will to Empower Democratic Citizens and Other Subjects, Ithaca/London 1999.
Mitchell Dean, Liberal government and authoritarianism, in: Economy and Society 31 (2002), S. 37-61 François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993.
Wolfgang Fach, Partizipation, in: Bröckling/Krsamann/ Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, S. 197-203.
Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, Frankfurt/M. 2004 Ders., In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/M. 1999.
Ders., Die "Gouvernementalität", in: Ulrich Bröckling/ Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, S. 41-67.
Ders., Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M. 1996.
Ders., Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M.
1987.
"Es wird ziemlich schwer, öffentlichen Raum zurück zu gewinnen". Gespräch mit Anthony Giddens, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 47 (2000), H. 6.
Jürgen Kocka, Vorwort, in: Neues über Zivilgesellschaft.
Aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, WZB-Paper P 01 - 801, Dez. 2001 Thomas Lemke, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien.
Ein kritischer Überblick über die ‚governmentality studies‘", in: Politische Vierteljahresschrift 41 (2000), S. 31-47.
Claus Offe, "Sozialkapital". Begriffliche Probleme und Wirkungsweise, in: Ernst Kistler u.a. (Hg.), Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts. Empirische Befunde, Praxiserfahrungen, Meßkonzepte, Berlin 1999.
Nikolas Rose, Powers of Freedom. Reframing Political Thought, Cambridge 1999.
Gerhard Schröder: Die zivile Bürgergesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 47 (2000), H. 4.

Dr. Ulrich Bröckling, Soziologe, lebt in Freiburg