Alltägliche Lebensführung und Politik

Alternativen zur Politik des "Ich-und-Jetzt Populismus"

Spiegelte sich im Wahlergebnis vom 22.09.2002 ein sozio-struktureller Wandel wider, der von den politischen Strategen unzureichend analysiert wurde?

Warum haben die Menschen am 22.09.2002 erneut SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Vorrang gegeben haben und nicht der Alternative aus CDU/CSU und FDP, wäre als einzige Frage für die spw-Tagung zu kurz gegriffen: Vielmehr stand im Raum, ob dieses Wahlergebnis eben nicht "zufällig" und durch die äußeren Umstände begünstigt (Oderflut, Kriegsgefahr) zustande kam.
Spiegelte sich im Wahlergebnis nicht auch ein sozi-struktureller Wandel wider, der von den politischen Strategen unzureichend analysiert wurde?
Vom Ende der Politik der "Neuen Mitte"?
Die Wahlkampfplaner des Rot-Grünen Wahlerfolges von 1998 waren davon ausgegangen, dass ihre Politik auf eine soziale Leit-Gruppe orientieren müsse, die jenseits der traditionellen WählerInnenmilieus die entscheidenden zusätzlichen Wählerstimmen einbringen würden. Diese "Leitgruppe" sollte als aufstrebende, technische Intelligenz (qualifizierte Facharbeiter, Angestellte, neue Selbstständige, etc.) den Gegensatz zwischen traditionellen Arbeitnehmern auf der einen sowie dem liberalen Bürgertum auf der anderen Seite in sich auflösen. Demzufolge verband Schröder in seiner Politik die Akzeptanz des neoliberalen Umbauprojekts (Vorherrschaft der Finanzmärkte, Globalisierung, Sozialstaatskritik, etc.) mit der gleichzeitigen Aussicht, dass bei den einzuleitenden "Reformen" diese neue Zielgruppe zu den Gewinnern gehören würde.
Um das traditionelle Stammklientel zu halten, durfte Lafontaine den Globalisierungskritiker und Verfechter der an Keynes orientierten Nachfragepolitik geben, wobei das Absurde darin weniger im Rücktritt Lafontaines im Frühjahr 1999 lag, als darin, dass es doch gerade Lafontaine war, der sich seit den 1980er Jahren immer wieder in der Rolle des Sozialstaats- und Gewerkschaftskritikers gefiel. (Dessen Wiederkehr als Wahlkampfhelfer und Förderer sozialdemokratischen Nachwuchses im Saarland kann fast nur noch als Farce gelten).
Nachdem Lafontaine zunächst - entschlossener als von manchen in der Partei angenommen - die sozialstaatlich und nachfrageorientierte Klientel zu bedienen suchte, um auf einem Viertel des Weges die Flucht in das Rentnerdasein anzutreten, gerieten die Folgejahre mehr oder wenig zu Rückzugsgefechten: Die Gesetze zur Scheinselbstständigkeit und zur geringfügigen Beschäftigung wurden eiligst nachgebessert, Hans Eichel übernahm als Eiserner Hans das Mantra vom Sparen, Schröder bediente die Interessen der Großkonzerne (Stichworte: Körperschaftssteuer, Altautoverordnung, etc.). Mit der Riester-Rente wurde der Stammklientel deutlich gemacht, dass sie auf ihre Rentenbeiträge fürs Altenteil nicht mehr zu rechnen brauchen, während die "Gutsituierten" den steuerlichen Anreiz zur weiteren Vermögensbildung nicht benötigten. Die Aufhebung der Parität in der Sozialversicherung verärgerte also die Stammwähler, ohne dass sie auf anderer Seite Zustimmung organisiert hätte. Auch die große Steuerreform oder die Anhebung des Kindergelds brachte bei der umworbenen Wählerklientel nicht den erhofften Zuspruch, weil sie entweder in der dominierenden Sparrhetorik unterging oder wie die zweite Stufe der Steuerreform mit der Oder-Flut quasi über Nacht hinfort gespült wurde.
Der "Neue Mitte" wurde eine Politik geboten, die genau so vage war, wie das Konstrukt von der Neuen Mitte selbst.
Milieus und Lebensweise
Mehrfach hat es in der Vergangenheit auch in spw Beiträge gegeben, die versuchten die soziale Basis der Neue-Mitte-Politik" zu ergründen. Dabei haben wir uns im wesentlichen auf die Arbeiten zur Milieuforschung bezogen. Thomas Westphal stellte in seinem Vortrag nun ein Konzept vor, das sich mit dem Milieuforschungs-Ansatz nicht grundsätzlich widersprechen muss, aber doch gegenüber deren Blick auf die "langen Linien der Milieuentwicklung", möglicherweise kurzfristig wirksame Veränderungen in der Lebensweise erklärt, die quer zu den von Vester u. a. analysierten Milieus liegen, diese möglicherweise verändern oder aber von diesen absorbiert werden.
Das Konzept der Lebensführung beschreibt eine Form der Konstruktion des eigenen Ichs, der seelischen und der soziokulturellen Identität der jeweiligen Person. Sie stellt sich als konkrete alltägliche Konstruktionsleistung der Person dar, in der sie die Balance zwischen seelischer und kultureller Identität zu bestimmen versucht: Die Innensicht - die Möglichkeit aufgrund eigener, individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten des Selbst-Bestand - soll mit den Anforderungen und Vorbildern von Außen in Übereinstimmung gebracht werden. Die Identitätsbildung erfolgt über die Auseinandersetzung mit Modellen der Lebensführung.
In der historischen Betrachtung lassen sich nach Jurczyk/Voß drei Grundtypen der Lebensführung unterscheiden:
· Die strategische Lebensführung (Planung aller Ressourcen, Ziele und Wege)
· Die traditionale Lebensführung (Orientierung an unhinterfragten Werten die das Handeln vorgeben)
· Situative Lebensführung (situative Einstellung, auf sich zukommen lassen, geschickt lavieren, Lebensführung als Lebenskunst etc.)
Diese erstgenannten grundlegenden Lebensführungsstile, die an die Handlungstypologie Max Webers anknüpfen, lassen sich durchaus in das Milieukonzept (vgl. die Grafik von Michael Vester, im Schwerpunkt auf S. 16) einfügen, in dem wir jeweils diagonal vom Zentrum des Schaubilds ausgehend die strategische Lebensführung eher im linken oberen Drittel ansiedeln, während die traditionale Lebensführung im unteren Drittel zu verorten wäre. Zu den "Ecken" der Grafik hin würde die situative Lebensführung ausfransen, links oben bezogen auf diejenigen, die aufgrund der materiellen und kulturellen Ausstattung unabhängig genug sind, situativ zu entscheiden, rechts unten als situative Lebensführung aufgrund des Mangels an kulturellem und sozialem Kapitals - also diejenigen, die "von der Hand in den Mund" leben.
Im "flexiblen Kapitalismus" wird Lebensführung schließlich zum entscheidenden "Schlachtfeld" im Kampf um sozial-kulturelle Hegemonie. Neue Wirtschaftssektoren gewinnen an Bedeutung. Der gesellschaftliche Gesamtarbeiter wird weiblicher, akademischer und leistet seine Arbeit in flexibleren Strukturen und Verantwortungen.
Die Vertreter des Konzepts der Lebensführung gehen nun davon aus, dass sich aufgrund der Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen eine erhebliche Verschiebung von den traditionalen und strategischen Lebensführungskonzepten hin zur situativen Lebensführung als zwar nicht empirisch dominierende, aber kulturell ausstrahlungsfähigste Konzeption kommt, denn sie suggeriert, sich in einer Welt, die als sich ständig verändernd wahr genommen wird, immer wieder anders entscheiden zu können.
"Die Mühen, seine eigene Lebensführung zu organisieren und sein Leben in die Hand zu nehmen, beinhaltet jedoch auch die Abgrenzung zu anderen Formen der Lebensführung (Selbstbestand durch Fremdabgrenzung). Neben den Mechanismen der Selbststeuerung, der Arbeitsleistung an einem selbst, werden die Mechanismen der sozialen und ideologischen Ausgrenzung, die gesellschaftliche Platzanweisung für andere, (der Arbeitsleistung durch Fremddefinition), immer stärker. Sie erfolgt immer stärker über Rituale, Werte und Symbole nach denen im Alltag unterschiedliche Modelle der Lebensführung sozial-kulturell sortiert werden." (Westphal)
Flexibilität ersetzt Planungen und Zielsetzungen. Leben und Arbeit wird flexibel gemischt. Persönliche Emotionalität wird in den Beruf getragen und umgekehrt. Grenzen zwischen der Lebenswelt und der beruflichen "Systemwelt" werden aufgeweicht. Vermittelt über die verschiedensten Medien (Printmedien, Fernsehen, Internet) die gleichzeitig immer "schneller" werden und den RezipientInnen immer kürzerer Reaktionszeiten abverlangen, entwickelt sich so ein veränderter Modus der (Selbst- wie Fremd-) Zuschreibung zu einer Gruppe. Weniger die in der persönlichen Auseinandersetzung bzw. Kommunikation mit dem räumlichen sozialen Umfeld zu "erfahrenden" Zuschreibungen an das Selbst, sondern die durch Medien vermittelte "Zuschreibungsmöglichkeiten" bieten den Fundus für die Herausbildung des eigenen Stils. Es entsteht ein persönliches Gesamtarrangement, in dem die Welten personal verknüpft werden (Ally McBeal-Effekt). Stabilität und Sicherheit wird für die seelische Identität auch in dieser Lebensführung benötigt. Sie speist sich jedoch in dieser Form nicht aus Werten und Planungen, sondern aus den Kräften und Fähigkeiten der Person selbst. Gebraucht wird das Selbstvertrauen und die Kompetenz situativ richtig reagieren zu können.
Dies geschieht jedoch keineswegs "herrschaftsfrei", sondern im vorgegebenen Rahmen des kapitalistischen Verwertungsprozesses. Die Wahlfreiheit reduziert sich auf die Elemente, die im flexiblen Kapitalismus den Weiterbestand des Selbst sicher stellt.
Während die Lebensführung also einerseits gesellschaftlich de-kontextualisiert wird, indem die Verbindungen zum eigenen sozialen Raum (zur Herkunft, Tradition, etc.) gelockert werden und ausfransen, stellt die kapitalistische Verwertungslogik durch die neoliberale Hegemonie sicher, dass die Lebensführung den vorgegebenen Rahmen nur um den Preis der Ausgrenzung gesprengt werden kann.
Die Rationalität individuellen Handelns orientiert sich damit überwiegend an den Komponenten "Zeit" und "Verwertung", es wird die Handlung bevorzugt, die in der kürzesten Frist den größtmöglichen Gewinn verspricht. Längerfristige Überlegungen und Bindung verlieren dem gegenüber an Bedeutung, ohne dass sie jedoch vollständig aufgelöst werden.
Der situativen Lebensführung wohnt dabei ein spezifischer Antagonismus inne: Nämlich zwischen individueller Autonomie einerseits und dem Verlust persönlicher Stabilität andererseits. Leben und Lebensführung wird provisorischer, Alltag und Weltanschauung kontextloser. Das persönliche, soziale Vermögen zur Arbeit an sich selbst wird unter den Bedingungen des flexibilisierten Kapitalismus zur entscheidenden sozialen Spaltungslinie.
Identität, Ideologie und hegemoniale Anrufung
Mit den Arbeiten von Antonio Gramsci und Louis Althusser wissen wir, dass bei der Herausbildung einer kulturellen Identität des Subjektes ideologische Auseinandersetzungen eine wesentliche Rolle spielen. Auf dem Feld der Deutungen, der kulturellen Symbole und der ideologischen Diskurse wird die Hegemonie in der Gesellschaft reproduziert und gefestigt. Sozial-kulturelle und politische Hegemonie in der Gesellschaft wird nicht mit der Durchsetzung einer einheitlichen, monolithischen Ideologie errungen, sie ist auch nicht der einfache Ausdruck der herrschenden ökonomischen Klasse. Hegemonie erreicht ein herrschender ideologischer Diskurs nur durch die Integration ideologischer Elemente der Beherrschten.
Für Althusser sind Individuen nur Träger von Strukturen, sie bedürfen der ideologischen Formatierung zur Subjekt-Werdung. Diese Formatierung geschieht durch die "Anrufung": Durch Artikulation (Verkoppelung, zum Ausdruck bringen) verschiedener (auch gegensätzlicher) ideologischer Elemente, die an sich keine notwendige Zugehörigkeit zu einer Ideologie besitzen (z.B. Anti-Imperialismus und Nationalismus) wird ein ideologischer Diskurs herausgearbeitet. "Die isolierten Elemente eines Diskurses haben für sich genommen keine Bedeutung. Entscheidend ist, wie aus der verwirrenden Vielfalt unterschiedlicher Anrufungen und angerufener Subjekte ein ideologisch hegemoniales Gesamtsystem, ein Diskurs entsteht." (Westphal) und dieser am Alltagsbewusstsein der Individuen anknüpft.
Ideologische Diskurse sind verkoppelt mit den sozialen und ökonomischen Strukturen und Entwicklungen einer Gesellschaft und somit an die sozial-kulturellen und historischen Entwicklungspfade einer Gesellschaft gebunden. Nach Ernsto Laclau ist Klassenkampf daher nichts anderes als eine spezifische ideologische Anrufungsstruktur, die darauf abzielt, die Beschäftigten im Produktionsprozess, als Träger der ökonomischen Struktur (Klasse an sich), durch den Diskurs des Klassenkampfes als Subjekt (als Klasse für sich) zu konstituieren.
Damit ist Klassenkampf nur das, was Klassen als solche konstituiert und daher ist nicht jeder Widerspruch ein Klassenwiderspruch. In dieser Lesart wird der Klassenkampf in der marxistischen Theorie auf seine eigentliche Bedeutung und Funktion zurückgestuft. Die deterministische Sichtweise, die davon ausgeht, dass jeder ideologische Inhalt eine Klassenkonnotation hat und jeder Widerspruch auf einen Klassenwiderspruch reduziert werden kann, wird abgelöst von einer Sichtweise, in der Klassenwiderspruch auf der ökonomischen Ebene existiert und dort nachhaltig wirkt, aber in der gesellschaftlichen Realität durch eine Vielzahl anderer relevanter Widersprüche durchdrungen wird.
Rot-grün und der "Ich-und-Jetzt"-Populismus
Neben den "Basistrends" aus der Milieuforschung werden nun im Ansatz der "Lebensführung" darüber liegende, "modische" Ausdrucksweisen, Symbole und Re-Kontextualisierungen (in sehr fragilen Strukturen) sichtbar, die - so der Eindruck - alltagswirksamer zu werden scheint, als die "längerfristigen Überzeugungen und Zuschreibungen", die im Rahmen der Milieuforschung auch heute noch bei den gleichen Personen ermitteln würde.
Um ein aktuelles Besipiel aus der Wetterberichterstattung zu nehmen: Bei starkem Wind werden Temperaturen als kälter empfunden, als sie es in Wirklichkeit sind (wind-chill-effect). Ähnliches erlebten wir bei der Einführung des Euro - die "gefühlte Teuerung" war deutlich höher als die emprisch festgestellt Teuerung.
Wie lässt sich darauf politisch reagieren? Die Wahl bleibt nur zwischen "Dein Gefühl ist falsch, die Temperatur ist plus 2 Grad und nicht minus fünf (wahlweise, die Teuerung ist deutlich unter 2 % und nicht über 10 %, etc.)" oder aber zu akzeptieren, dass die Temperatur als kühl (der Euro als Teuro) erfahren wird, obwohl (!) das Gegenteil empirisch richtig ist.
Politisch mobilisierbar nur ist eine Strategie, die die Menschen zunächst so annimmt, wie sie ist. Aufklärung sollte nicht belehrend daher kommen (wie es in der Linken leider noch zu oft der Fall ist, ersatzweise "entlarvend"), sondern im klassischen "aufklärerischen" Sinne der eigenen Befreiung aus der Unwissenheit. Alternativen müssen konkret sein, erfahrbar werden.
Meine These ist nun, dass die Politik von rot-grün in den ersten vier Jahren zu unentschlossen und zu wenig ausgeprägt war, als dass sie damit in der Lage gewesen wäre, entweder derart für eine Polarisierung zu sorgen, die die eigenen Anhänger mobilisiert (und natürlich damit auch weitere Erwartungshaltungen erzeugt) hätte, oder aber tatsächlich eine soziale Brückenfunktion ausgeübt hätte, die ihre Politik und die sie vertretenden Akteure als alternativlos hätten erscheinen lassen.
Der Versuch, auf der Klaviatur der Mediengesellschaft zu spielen, hat sich sogar als verhängnisvoll heraus gestellt. Die Allianz aus "Bild, BamS und Glotze", mit der Schröder die Republik regieren wollte, hat sich nicht vor dessen Karren spannen lassen, sondern vor allem die Springer-Presse gehört zum kaum abschwellenden Chor derjenigen, die vom Verrat des Kanzlers Schröder, vom "Wahlbetrug" schreiben.
Die Wiederbelebung der zivilgesellschaftliche Suche nach Alternativen zum Herrschenden hat nicht stattgefunden. Parteiveranstaltungen werden zur Akklamationsmaschine, in denen nicht mehr um politische Positionen selbst auch im Detail gerungen wird, in denen Beteiligung von Mitgliedern gewünscht und als demokratisch legitimiert betrachtet wird. Selbst die Abweichungen im Detail bei Zustimmung im Grundsatz wird als Dissonanz gewertet, die eiligst ein Kanzlerwort erfordere. "There is no alternative" - die Negation aller Alternativen gegenüber den von den jeweiligen Parteiführungen als richtig erkanntes wird zum Maßstab der Geschlossenheit und Führungsfähigkeit der politischen Elite.
Die Modernität und Offenheit im Aufritt und Gestus des Kanzlers war nur die attraktive Kehrseite eines mediengerechten, faktisch aber autoritären Politikstils. Politik wird nicht - wie gehofft wurde - im zivilgesellschaftlichen Raum diskursiv entwickelt, sondern in der Pressekonferenz ex Cathedra verkündet.
Die Hintergründe und Motive für die Entscheidungen werden als alternativlos dargestellt, die Handlung selbst erscheint aber - um die Begrifflichkeiten des Lebensführungs-Konzeptes zu übernehmen - nicht als "strategisch-planende Regierungspolitik", sondern vielmehr "situativ". Ähnlich wie bei der situativen Lebensführung zeichnet sich rot-grüne Politik durch "Alltagslogik (was ist die Schlagzeile in der Presse? Worüber redet Christiansen?)" aus, nach der bei Bedarf ad-hoc und intuitiv entschieden wird. Es herrscht eine dynamische Situativität vor, eine Reaktion auf permanenten Gestaltwandel der Alltagsanforderungen. Komplexe Fragestellungen wie die Reform des sozialen Sicherungssystems werden zwar einerseits in eine der zahlreichen Sonder-Experten-Kommissionen verwiesen (und damit als Diskurselement aus dem Alltag verbannt), gleichzeitig werden aber andererseits immer wieder Vorstöße im Detail lanciert, die die Ernsthaftigkeit der Kommission unterminiert.
Gepaart mit dem Egoismus der Generation Westerwelle kann diese Form der Politik als "Ich-und-Jetzt"-Populismus beschrieben werden.
Rot-grün verfügt damit über keine eigene "Anrufungsstruktur", um Zustimmung aus der eigenen sozio-kzulturellen Basis zu organisieren. Der Absturz für die SPD in den Umfragen bei gleichzeitig phänomenalen Zustimmungswerten für die CDU/CSU (als habe es nie 16 Jahre Kohl, Reformstau, Schwarzgeld-Affäre, etc. gegeben) deutet weniger auf gewachsenes Vertrauen in die Kompetenz der Konservativen hin, als darauf, dass sich die Wähler von rot-grün so wenig ernst genommen, sondern "verarscht" vorkommen, wie es Elmar Brandt mit seinem Steuer-Song ausdrückt. Die Menschen fühlen sich von der Politik - und erst recht von rot-grün - nicht ausreichend respektiert.
Ist ein demokratischer Populismus möglich?
Die Rolle des Populismus wird in Deutschland überwiegend dem "Rechtspopulismus" zugewiesen und als anti-aufklärerisch, als Spiel mit den Emotionen und Gefühlen als Gegensatz zur Aufklärung definiert.. Laclau weist jedoch darauf hin, dass der Populismus als Teil der Ideologiebildung ein wesentlicher Bestandteil hegemonialer Auseinandersetzungen ist. Klassen können ihre Hegemonie nicht gewinnen ohne das Volk ihrer Gesellschaft in ihrem Diskurs zu artikulieren. Die Verkoppelung des eigenen Diskurses mit dem Volk, als echte und einzige Wahrer der Interessen des einfachen Volkes gegen die Herrschenden der Macht, geschieht über den Populismus, als Ensemble unter-schiedlicher Appelle an das Volk (populare Anrufungen). Der Populismus ist also nicht die rückständigste Form der Ideologie sondern die höchste Stufe der Artikulation von Klasse und Volk.
Nachdem die Politik der "Neuen Mitte" sowohl an der Unentschlossenheit einer Politik für die eigene soziale Basis wie an der Unschärfe der "Neuen Mitte" als stabiles Milieu selbst gescheitert ist, steht rot-grün am strategischen Scheideweg: modifiziert sie ihre Politik lediglich gegenüber Stoiber, Koch und Merz "modern aufgepeppt", oder erkennt insbesondere die Sozialdemokratie, dass es konkrete Erwartungen ihrer originären sozialen Basis gibt, um deretwillen sie gewählt wurde und auch bereit ist, diese Basis massenwirksam für sich (nämlich die Basis) einzusetzen .
Diese, von Michael Vester skizzierten, Erwartungen zu erfüllen erfordert ein größeres Maß an Konfliktbereitschaft gegenüber den Interessen des Kapitals, als dies gegenwärtig erkennbar ist. Die aktuellen Proteste des Mittelstandes und der Industriellen resultieren ja weniger daraus, dass es ihnen tatsächlich an den Kragen ginge, sondern dass sie hier eine durchaus erfolgreiche Anrufungsstruktur aufbauen konnten, die die "Krämerseelen" mit dem "Geiz-ist-Geil"-Faktor (vgl. das aktuelle Kurzum von Thomas Westphal auf S. 2) verbindet und letztlich nur die eigenen Interessen bedient, ohne aber ein eigene politische Alternative aufzubauen.
Der Rückgriff auf das Konzept der Lebensführung zeigt, dass neben der unmittelbar sozial-ökonomischen Abkopplung einiger Bevölkerungsgruppen die soziale Frage durch Stigmatisierung weniger dynamischer Lebensführungen verschärft wird. Hinzu kommt die Überforderung traditioneller Milieus durch laufend wechselnde Anforderungen, die etwa eine traditionale Lebensführung permanent in Schwankungen bringen.
Die Herausforderung für rot-grün besteht nun gerade darin, ausgehend von den in den Milieus verankerten Grundüberzeugungen (z. B. soziale Gerechtigkeit, Demokratieorientierung) eine Politisierung und auch Konfrontation der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst zu organisieren und damit an den situativen Alltagbedürfnissen anzuknüpfen, die auf der Suche nach Stabilisierung (was etwas anderes als Stillstand oder Rückschritt ist) sind.
Diese Strategie muss Ross und Reiter nennen - wer profitiert warum von welcher Maßnahme? Wer hat welche Interessen? Und warum werden die einen Interessen bedient, andere aber vernachlässigt? Eine solche Strategie erfordert, aus dem verordneten neoliberalen Konsenssystem der Marktdominanz und der Strangulation der Staatsfinanzen insoweit auszubrechen, als dass das Bedürfnis nach Sicherheit für die eigene Klientel wiederhergestellt werden muss: also eine Befürwortung investiver Haushaltsausgaben zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu Lasten der Maastricht-Kriterien, also z. B. eine Steuerreform mit Stärkung niedriger gegenüber hohen Einkommen und nicht-reinverstierter Gewinne, etc.
Gewiss, all die konkreten politischen Forderungen klingen nicht neu - und sie werden bedeutungslos bleiben wenn es nicht gelingt, sie mit den Alltagserfahrungen, mit der Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben organisieren, verknüpfen können. Ohne Leidenschaft für die konkrete Auseinandersetzung um die Lebensführung und die Akzeptanz, wie Menschen ihr eigenes Leben sehen und führen wollen, wird es keinen demokratischen Populismus geben können.

Literatur
Klaus Dörre u.a., Die Strategie der "Neuen Mitte", Hamburg 1999
Ernesto Laclau, Kapitalismus - Faschismus - Populismus, Berlin 1981
Loccumer Initiative, Rot-Grün - noch ein Projekt?, Hannover 2001
Reinhold Rünker, u.a., Parteien und Populismus, spw 113, Dortmund 2000
Margit Weihrich, G. Günter Voß (Hg.), tagaus - tagein, München/Mering 2001
Dies., tag für tag, München/Mering 2002

Der Text bezieht sich an einigen Stellen auf ein Thesenpapier von Thomas Westphal, das im Vorfeld der spw-Tagung vom 07.12.2002 entstanden ist.

Der Beitrag ist erschienen in spw 129, Januar/Februar 2003