Organizing is Mobilizing

Gewerkschaften auf dem Weg zu neuen Ufern

"Never work alone" war das Motto einer Veranstaltungsreihe und "Organizing-Woche", zu der ver.di und der DGB Hamburg, die Hans-Böckler-Stiftung und die Cornell University NY ...

... vom 25. bis zum 28. April eingeladen hatten. Von US-amerikanischen Organizing-Ansätzen wollte man lernen, und die rund 100 BesucherInnen im Hamburger Gewerkschaftshaus erlebten im Vorfeld des 1. Mai genauso ungewöhnliche wie spannende Tage. Das Ziel der Organizing-Woche war klar: Die US-amerikanischen Erfahrungen eines "social movement unionism" (1) sollten auf ihre Übertragbarkeit auf bundesdeutsche Verhältnisse abgeklopft und in den Zusammenhang mit hiesigen gewerkschaftlichen Kampagnenerfahrungen gestellt werden. Entsprechend hochkarätig waren die Gäste aus den USA: Lowell Turner, Lee Adler, Valery Alzaga, Andy Banks, Christy Hoffmann, Ginny Coughlin und andere - Organizer, AktivistInnen und WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Gewerkschaften und Institutionen, die auf teilweise jahrelange Campaigning- und Organizing-Erfahrungen zurückblicken konnten. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass diese mobilisierende und aktivierende Gewerkschaftsarbeit unter den US-Gewerkschaften heftig umkämpft ist. Immer noch hat nur eine (relevante) Minderheit der Gewerkschaften ihre Ressourcen für Organizingarbeit umgeschichtet. Sowohl in den USA wie auch in Deutschland ist der Grund für die Hinwendung zu offeneren Formen gewerkschaftlicher Mobilisierung derselbe: Den Gewerkschaften laufen die Mitglieder davon, ihr Einfluss sowohl auf der Ebene der Betriebe wie auch in der Gesellschaft schwindet. Die Gewerkschaften verlieren ihren "Insider-Status", formulierte Lowell Turner von der Cornell University New York das Problem. (2) Ein Grund dafür ist ein weit verbreitetes anti-gewerkschaftliches politisches Klima, in dem u.a. auch eine Milliarden Dollar schwere "union busting"-Branche gedeiht - Firmen, deren Dienstleistung und Beratungstätigkeit darin besteht, Betriebe gewerkschaftsfrei zu halten oder zu machen. Individuelle Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft mit selbst bestimmtem Ein- und ggfs. Austritt ist in den USA unbekannt. Gewerkschaftliche Organisierung heißt dort, Beschäftigte eines Betriebes davon zu überzeugen, dass sie sich im Betrieb von der Gewerkschaft vertreten lassen sollen. Gelingt dies, so ist der Betrieb ein "union shop", d.h. alle Beschäftigten müssen der Gewerkschaft beitreten. Mitgliederwerbung in den USA ist somit gleich bedeutend mit Betriebskampf und betrieblicher Organisierung. Und sie bedeutet gleichzeitig, dass die Gewerkschaften sehr genau und sehr direkt klar machen müssen, dass es sich lohnt, in einem Gewerkschaftsbetrieb zu arbeiten und (Zwangs-)Beiträge zu zahlen. Die auch hier zu Lande oft gestellte Frage, wie Gewerkschaften "attraktiver" sein könnten, stellt sich somit in den USA unmittelbar als Frage nach der Attraktivität und dem Nutzen betrieblicher Organisierung. "Es ist die Frage, wie unsere Kämpfe attraktiv werden", so Valery Alzaga am Beispiel der "Justice for Janitors"-Kampagne der Dienstleistungsgewerkschaft S.E.I.U. (3) Der US-amerikanische Organizing-Ansatz steht damit in einem direkten Gegensatz zum Modell der Service-Gewerkschaft. Zentraler Baustein ist eine konsequente Mitgliederorientierung und Basismobilisierung: "Organisieren heißt mobilisieren" (Turner). Ehrenamtliche "Volunteers" und hauptamtliche Organizer suchen den direkten Kontakt zu den Beschäftigten - im Betrieb, noch häufiger aber zu Hause, durch buchstäbliches Klinkenputzen. Immer sind die Anknüpfungspunkte ganz konkrete Konfliktlinien in den Betrieben, in aller Regel Konflikte mit einer hohen moralischen Aufladung. ArbeiterInnenrechte werden als Menschenrechte begriffen, der Kampf ist immer auch ein Kampf um "Gerechtigkeit" und menschenwürdige Behandlung am Arbeitsplatz. Und stets geht es darum, tatsächlich gewinnen zu wollen, konkrete Erfolge zu erzielen. In den Worten von Valery Alzaga: "Wir machen den Konflikt zur Krise". Zwei weitere Elemente des Organizing-Ansatzes sind bemerkenswert. Der Zwang zum "Häuserkampf" führt zum einen zu sehr viel strategischeren Überlegungen, als man es hier von Gewerkschaften gewohnt ist: Welche Branchen sind relevant? Welche Betriebe sollen herausgebrochen werden? Wie sehen diese Betriebe aus? So sind dem legendären UPS-Streik von 1997 eineinhalb Jahre intensive Recherche-Arbeit vorausgegangen, in denen insgesamt 14 Schlüsselbeziehungen des Unternehmens analysiert worden sind. Der insgesamt zweiwöchige Streik war letztlich nur ein, wenn auch zentraler Punkt in einer sehr viel umfassenderen Kampagne. Die Empfehlung von Christy Hoffmann, S.E.I.U.-Repräsentantin in Europa, lautete demnach auch: "Fangt mit eurer Kampagne gar nicht erst an, bevor ihr nicht recherchiert habt."

Wir machen den Konflikt zur Krise

Ähnlich bedeutsam wie die Recherche ist die soziale Netzwerkbildung - eine Tradition, die in den USA seit der Bürgerrechts- und Anti-Kriegsbewegung der 1960er Jahre stark ausgeprägt ist. Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Mobilisierungskampagnen wie die der Reinigungskräfte, der H&M-Beschäftigten in New York oder der Taco-Bell-LandarbeiterInnen in Florida sind stets verbunden mit Community-Mobilisierung und einer ganzen Vielzahl von Solidaritäts- und Unterstützungskomitees. KünstlerInnen, Menschen aus Kirchen und Bürgerrechtsorganisationen, VertreterInnen von Migrantencommunities und der sozialen Bewegungen - sie alle sind Teil einer Kampagne, mit eigenen Schwerpunktsetzungen und Aktionsformen. Die US-amerikanischen Beispiele haben gezeigt, dass Organizing-Versuche gerade in den Branchen relativ erfolgreich gewesen sind, die allgemein als schwer organisierbar gelten, nämlich im Bereich der Personen bezogenen Dienstleistungen mit einem hohen Anteil prekär und befristet arbeitender Frauen und MigrantInnen. Eine Erfahrung, die z.B. durch die Schlecker-Kampagne gestützt wird, die die in ver.di aufgegangene Gewerkschaft HBV (Handel, Banken und Versicherungen) 1994-95 im Raum Mannheim losgetreten hatte. Der mobilisierende Charakter des Organizing-Ansatzes ist ein Grund dafür, dass gewerkschaftliche Kampagnen und Betriebskämpfe in den USA häufig mit einer sehr viel radikaleren und konfrontativeren Rhetorik und Verlaufsform verbunden sind, als man das etwa von deutschen Gewerkschaften kennt. Es wäre jedoch ein fataler Irrtum, wenn man das vorschnell mit irgendwelchen bewussten klassenkämpferischen Zielen verwechseln würde. In den USA wie in Deutschland geht es um den politischen Einfluss der Gewerkschaften als gesellschaftliche Regulationsinstanzen. Das spannende Moment besteht darin, dass Teile der Gewerkschaften dabei auf alte Graswurzeltaktiken zurückzugreifen. Mit welchen Widersprüchen das verbunden sein kann, zeigt das Beispiel der S.E.I.U sehr deutlich: Ausgerechnet im kämpferischen Vorzeige-Local der Gewerkschaft in San Francisco haben sich die Janitors letztes Jahr gegen die S.E.I.U entschieden - aus Protest gegen Zentralisierungsbestrebungen innerhalb der Organisation. Wenn also in Deutschland linke GewerkschafterInnen auf die USA schauen und von den dortigen Erfahrungen lernen wollen, dann nicht, weil Organizing und Campaigning an sich zu einer klassenkämpferischen Wende des Apparats führen würden. Die Organizing-Woche von ver.di steht vielmehr für ein spannendes und in sich widersprüchliches Zweckbündnis: auf der einen Seite durchaus sozialpartnerschaftlich orientierte Teile der Gewerkschaften, die erkannt haben, dass neue Wege notwendig sind, wenn die Gewerkschaften weiterhin relevanter Gesprächspartner der Politik bleiben wollen. Und auf der anderen Seite AktivistInnen, die auf die Dynamiken setzen, die ein mobilisierender Organizing-Ansatz zwangsläufig mit sich bringt. Selbst wenn es im Kern um gewerkschaftliche Rekrutierung geht: Mobilisierte und kämpferische Beschäftigte in den Betrieben, tragfähige soziale Netzwerke und gemeinsame Kampferfahrungen sind Faktoren, die die Chancen und Spielräume für linke Orientierungen sowohl in den Gewerkschaften wie auch in den betrieblichen und sozialen Auseinandersetzungen erheblich ausweiten. Natürlich - und auch das haben die Berichte aus den USA deutlich gemacht - sind mit einer strategischen Orientierung auf Organizing auch strukturelle Veränderungen in den Gewerkschaftsapparaten verbunden. Veränderungen, die von einer gezielten Ausbildung und Rekrutierung von Organizern bis hin zu einer Umschichtung von Ressourcen reichen. Die weitere Zukunft der Lidl-Kampagne, die ver.di mit der Herausgabe des Lidl-Schwarzbuchs Anfang des Jahres eingeleitet hat, könnte somit ein erstes Indiz dafür sein, wie ernsthaft sich Gewerkschaften wirklich auf das Wagnis von Öffnung und Mobilisierung einlassen wollen. Dirk Hauer, Georg Wissmeier Anmerkungen: 1) Gewerkschaften als soziale Bewegungen; der Begriff signalisiert die Öffnung der Gewerkschaften in Richtung der sozialen Bewegungen, ein Prozess, der in den USA sehr viel weiter fortgeschritten ist als hier. 2) Damit ist ausdrücklich nicht so sehr die Verbundenheit mit dem Betriebsalltag gemeint, sondern der Status der Gewerkschaften als ernst zunehmender politischer Machtfaktor und Verhandlungspartner. 3) Diese Kampagne zur Organisierung der Reinigungskräfte in den großen innerstädtischen Bürohochhäusern bildet den Hintergrund für Ken Loachs Film "Bread and Roses". S.E.I.U. steht für Services Employees International Union.

Kampagne. Eine Kampfform der Gewerkschaften und Sozialen Bewegungen

Fachtagung für Aktive und MultiplikatorInnen 25.-27.11.2005 Oberjosbach/Taunus Bildungszentrum der NGG Mit Erfahrungsberichten, Analysen, Workshops und Foren zu bisherigen Kampagnen (Justice for Janitors, Taco Bell, Brylane/Gucci, ver.di-Gesundheitskampagne, Schlecker/Lidl, Gewerkschaftskampagnen gegen die US-Regierungspolitik etc.), zu konkreter Kampagnenarbeit, sozialen Netzwerken, Kampagnen und Gewerkschaften. ReferentInnen: Bernd Riexinger (ver.di Stuttgart), Theresa Conrow, Andy Banks (IPFTE), Sam Gindin (CAW), Jeffrey Raffo (OrKa), Georg Wissmeier (OrKa), Anton Kobel (ver.di Mannheim), Agnes Schreieder (ver.di Bundesfachsekretärin Handel), Rüdiger Timmermann (ver.di LB Nord), Uli Wohland (OrKa) u.v.m. Die Tagung wird organisiert von ver.di-Nord, OrKa (Organisierung und Kampagnen), der express-Redaktion sowie dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt Baden. Der TeilnehmerInnenbeitrag beträgt 125 Euro. Anmeldungen: Tel.: 0621-41 50 09; Fax: 41 69 84; mail: kda.mannheim@t-online. Kontakt: Erika Ludebühl, Ulrich Wohland, Andreas Traupe aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 495/20.5.2005