Offenes Wort zum Offenen Brief ...

... sozialer und politischer Basisorganisationen an die PDS und WASG

Mit dem Wahlbündnis Die Linkspartei.PDS tritt neben den etablierten bürgerlichen Parteien eine neue Gruppierung zu den Bundestagswahlen an, denen die aktuellen Umfrageergebnisse ...

... durchaus zehn Prozent der WählerInnenstimmen zutrauen und die damit auf Anhieb drittstärkste parlamentarische Kraft werden könnte. In einem "Offenen Brief" an PDS und WASG haben Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen aus dem breiten Spektrum einer undogmatischen, "interventionistischen Linken" gegen rechtspopulistische Tendenzen in der neuen Wahlpartei Stellung bezogen. (1)

Auch wir haben diesen Brief unterschrieben, weil wir seine politische Intention richtig finden. Die inhaltliche Auseinandersetzung kann jedoch bei der notwendigen Kritik an rassistischen und nationalistischen Untertönen nicht stehen bleiben.

Ohne einzelnen AktivistInnen bei WASG und PDS zu nahe treten zu wollen: Im Kern handelt es sich bei der neuen Formation um eine neue (links-)sozialdemokratische Gruppierung mit zwei populistischen Vorturnern, von denen einer ganz unverhohlen (und ganz bewusst) Stimmen am rechten und nationalistischen Rand fischen will. Lafontaines Äußerungen in Sachen "Fremdarbeiter" sind genauso wenig "Ausrutscher" wie seine erklärte Sympathie für Schilys Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika oder sein Plädoyer für eine Aufweichung des grundgesetzlich verankerten Folterverbots.

Der Widerwille und die Ablehnung, mit denen Teile der undogmatischen Linken (und nicht nur ihr radikaler Flügel) auf das Wahlbündnis reagieren, sind also durchaus nachvollziehbar. Weniger nachvollziehbar ist eine Haltung der schlichten oder demonstrativen Nichtbeachtung bzw. der Weigerung, sich mit dem Wahlbündnis (kritisch) auseinander zu setzen. Eine solche Verweigerungshaltung verkennt die gesellschaftlichen Umbruchprozesse, die in dem Wahlbündnis und seinen relativ guten Erfolgschancen zum Ausdruck kommen: der Zerfall der Sozialdemokratie, die Hegemoniekrise des Neoliberalismus, die breite Unzufriedenheit und Kritik an der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme, der Protest gegen eine allgemeine Zwangsverunsicherung von Lebenswelten. Dass die außerparlamentarischen Bewegungen und radikalen Gruppierungen in dieser gesellschaftlichen Situation nicht in der Lage sind, verallgemeinerbare Antworten und Orientierungspunkte zu liefern, ist weder die Schuld des Parlamentarismus noch die der neuen (linken) Sozialdemokratie.

Mit der Konstitution einer Wahlalternative "links von SPD und Grünen" wird längerfristig neu definiert und festgelegt, was in Zukunft als "links" zu gelten hat. Spätestens das sollte aber für die außerparlamentarische Linke ein Anlass sein, sich einzumischen - denn das, was zur Zeit inhaltlich-programmatisch aus den Reihen der MeinungsführerInnen der Wahlalternative verlautbart wird, fällt an den allermeisten Punkten hinter alle Diskussionen zurück, die in den letzten Jahren in der undogmatisch-antiautoritären Linken und den sozialen Bewegungen geführt worden sind. Dabei kann es nicht um die Neuauflage irgendwelcher Illusionen über eine neue sozialdemokratische Parteigründung oder um eine unkritische Bezugnahme gehen. Worum es aber sehr wohl geht, ist ein taktischer Umgang, der die eigenen Bewegungsspielräume erweitert, und eine strategische Intervention in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, um linke, emanzipatorische Gegenentwürfe zum neoliberalen Autoritarismus der Agenda 2010 - und darüber hinaus.

Einen solchen Interventionsversuch stellt der "Offene Brief" dar. Es handelt sich dabei erklärtermaßen nicht um einen Wahlaufruf, sondern vielmehr um den Versuch, gegen rechtspopulistische Tendenzen in der neuen Wahlpartei und gegen die Option einer "nationalen Linken" zu intervenieren und dabei gleichzeitig klar zu machen, dass eine linke Wahlalternative sich nicht in einer traditionssozialdemokratischen Ein-Punkt-Orienierung "gegen Hartz IV" erschöpfen kann. So notwendig diese Intervention angesichts der skandalösen Äußerungen Oskar Lafontaines war - eine von links geführte, politische Auseinandersetzung mit der neuen Wahlpartei muss über diese Kritik hinausgehen.

Man kann von einer linken Wahlalternative sehr wohl verlangen, dass sie bestimmte Diskussionsstände jenseits der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Tradition zumindest zur Kenntnis nimmt und linken, links-gewerkschaftlichen und Bürger- und Menschenrechtsinitiativen nicht in den Rücken fällt. Dass etwa Feminismus und Geschlechterpolitik weder eine "Frauenfrage" noch ein "Nebenwiderspruch" ist, darüber sollte man schlicht nicht mehr diskutieren müssen. Über Frauenquoten in Parteien und Institutionen, über Gendermainstreaming und Gleichstellungspolitik kann man vielleicht unterschiedlicher Meinung sein - ignorieren kann man diese Debatten nicht. Seit Jahren kämpfen antirassistische Initiativen bis weit ins kirchliche und bürgerlich-demokratische Spektrum hinein für eine humanistisch-menschenrechtlich orientierte Flüchtlings- und Migrationspolitik. BasisgewerkschafterInnen gerade der IG BAU wehren sich gegen Standortnationalismus und rassistische Spaltungen auf Baustellen. Die neue Wahlpartei muss sicher nicht die deklaratorische Formel "Offene Grenzen für alle" vor sich hertragen, aber die Debatten um antirassistische und Antidiskriminierungspolitik darf sie nicht ignorieren. Inzwischen hat die neue Parteiformation - vermutlich in Reaktion auf die (nicht nur in dem offenen Brief geäußerte) massive Kritik erklärt: "Der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus wird eines der zentralen Themen unseres Wahlkampfes sein" (2) - umso besser.

Aber auch in Bezug auf Antimilitarismus, Ökologie, Atompolitik oder Globalisierungskritik, und erst recht in Bezug auf das programmatische Herzstück der neuen Formation, die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, gilt: Die Linkspartei.PDS muss, wenn sie eine linke Alternative sein will, das Rad nicht neu erfinden - zur Kenntnis nehmen muss sie schon. Seit Jahren haben Erwerbsloseninitiativen und andere sozialpolitische Gruppierung die Arbeitszentriertheit der bisherigen sozialen Sicherungssysteme genauso kritisiert wie die sozialstaatlichen Mechanismen sozialer Kontrolle, Zwang, Stigmatisierung und Ausgrenzung, und seit langen auch wird über Konzepte sozialer Grund- und Menschenrechte diskutiert. Dabei geht es um sehr viel mehr als bloß um "Umverteilung plus Arbeit für alle"; es geht um unteilbare individuelle soziale Freiheits-, Teilhabe- und Gestaltungsrechte - ohne jede Vorbedingungen.

Wem heute zum Thema Sozialpolitik nur "Weg mit Hartz IV" einfällt, der hat nahezu alle relevanten sozial- und arbeitsmarktpolitischen Diskussionen der letzten Jahre schlicht verschlafen. Dass das bei einer Formation mit einer so überdeutlichen sozialdemokratischen Traditionslinie tatsächlich der Fall ist, ist nicht wirklich verwunderlich. Ein Grund, das zu akzeptieren, ist das allerdings nicht. Wenn diese Diskussionsstränge nicht und weiter gesellschaftlich marginalisiert werden sollen, dann kommt es darauf an, darum auch mit der neuen Sozialdemokratie in die Auseinandersetzung zu gehen, gerade dann, wenn deren Formierungsprozess noch dermaßen im Fluss ist, wie zur Zeit. Und die regionale wie überregionale Reaktion auf den Offenen Brief zeigt ja, dass solche Interventionen durchaus Wirkung zeigen. Es gibt also keinen Grund, sozialdemokratische Alternativprojekte mit fundierter Kritik zu verschonen.

ak-Redaktion

Anmerkungen:
1) www.offener-brief-an-linkspartei.de
2) www.presseportal.de/story.htx?nr=694761&search=rassismus
Eine ausführliche Positionsbestimmung zur Migrations- und Integrationspolitik des Bundesvorstand der WASG wurde am 18.7.05 veröffentlicht: www.w-asg.de/904.0.html

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 497/19.8.2005