Linker Aufbruch?

Auf einmal wollen sie wieder links sein: Die Grünen definieren sich als Bürgerrechtspartei, die auf ein starkes soziales Gewissen und eine Bürgerversicherung setzt. Die SPD erklärt...

Auf einmal wollen sie wieder links sein: Die Grünen definieren sich als Bürgerrechtspartei, die auf ein starkes soziales Gewissen und eine Bürgerversicherung setzt. Die SPD erklärt, um die "linke Mitte" kämpfen zu wollen, und ihr Vorsitzender eröffnet eine "Kapitalismuskritik", wie sie von seiner Partei schon lange nicht mehr zu vernehmen war.

Der Linksschwenk zweier Regierungsparteien - ein wahrlich einzigartiges Schauspiel, nicht nur in der bundesrepublikanischen Geschichte. Auch wenn man diese Kurskorrektur begrüßen mag: Sie ist für die Galerie. Nach dem freiwilligen Abdanken Gerhard Schröders - dem seine Partei die Erkenntnis verdankt, dass nicht nur die Übernahme, sondern auch der Rückzug von der Regierungsmacht ein Putsch sein kann - fügen sich SPD und Grüne damit in die selbst verschuldete Unmündigkeit. Ist diese Wende also das "letzte Gefecht" der Regierung Schröder/ Fischer?

Es scheint so. Nach sieben Jahren Regierung ist die Zustimmung für Rot- Grün in der Bevölkerung weitgehend erodiert. Insbesondere die SPD wirkt sichtbar angezählt, denn sie verliert Wählerinnen und Wähler nicht nur nach rechts, an die CDU/CSU-Opposition, sondern offenbar auch nach links - an die neue Formation, die derzeit aus PDS und "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) geschmiedet wird. Umfragen prognostizieren dieser "Linkspartei" bereits, dass sie mit einem zweistelligen Ergebnis als drittstärkste Partei in den Bundestag einziehen könnte.

Anstatt die Wurzeln der Linkspartei vorrangig in der "Männerfehde" zwischen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, in ihrem "Call and Response" mit wechselnden Rollen zu suchen - wie es die personalisierende mediale Darstellung derzeit tut -, muss man sich zunächst die gesellschaftspolitische Dimension vergegenwärtigen, die zu Bildung und Aufstieg dieser neuen Formation geführt hat. Denn die zentrale Triebkraft der Bildung des Bündnisses aus PDS und WASG ist die Regierungspolitik selbst - und hier insbesondere die Agenda 2010. Gerade Hartz IV symbolisiert für viele Menschen den Abschied der SPD von ihrer historischen Mission, den Kapitalismus für die Lohnabhängigen und sozial Schwächsten erträglich(er) zu gestalten. Dass es die SPD war, die wesentliche sozialstaatliche Errungenschaften außer Kraft setzte, hat zu erheblichen Irritationen in ihrer Stammwählerschaft geführt - der Arbeitnehmerpartei laufen die Arbeitnehmer weg. In diesem Sinne kommt Hartz IV einem Godesberg II gleich.

Den Kurswechsel der SPD indes - gewissermaßen in einem voluntaristischen Replay - als "Verrat" zu geißeln, greift zu kurz. Denn die bundesdeutsche Sozialdemokratie steht in Europa nicht alleine, im Gegenteil: Fast durchgängig haben sich die sozialdemokratischen resp. sozialistischen Parteien im Angesicht der durch die Globalisierung erzeugten Umbrüche und Herausforderungen umorientiert. Ganz wesentlich hierfür ist, dass der neue, "flexible" Kapitalismus die Kräfteverhältnisse nachhaltig verschoben hat: Die politische Regulation von Ökonomie und Sozialstaat, die noch in den 70er und 80er Jahren im nationalstaatlichen Kontext organisiert werden konnte, ist heute einem internationalen Standortwettbewerb unterworfen, der die politischen Handlungsspielräume aushöhlt bzw. immer enger an die Interessen der transnational operierenden Konzerne anbindet.1 Auf diese Entwicklung reagieren Schröder, Blair und Prodi, indem sie sich von Keynesianismus und Sozialstaatsausbau verabschieden - und ihre Parteien in die Marktsozialdemokratie überführen.

Da auch die europäischen Sozialdemokraten verstärkt auf den Markt setzen, nähern sich die großen Volksparteien der "Mitte" einander immer weiter an. Die Unterschiede in der politischen Programmatik schrumpfen.2 So sind sich in der Bundesrepublik Regierung und Opposition mit Blick auf Agenda 2010 und Hartz IV, Steuer- und Gesundheitspolitik weitgehend einig und unterscheiden sich nur mehr nach dem Grad der Zumutungen, die sie für die Arbeitnehmer und Erwerbslosen bereithalten - trotz wachsenden gesellschaftlichen Reichtums. Auch bei zentralen Themen wie dem EU-Verfassungsvertrag oder Auslandseinsätzen der Bundeswehr gibt es eine starke gesellschaftliche, aber keine parlamentarische Opposition.

"Historische Chance"

Dass die Unterschiede zwischen den Volksparteien schrumpfen, ist also nicht einfach Ausdruck davon, dass die ideologischen Schlachten des Kalten Krieges geschlagen sind, sondern wurzelt in den "realpolitischen" Antworten auf die Globalisierung. Diese Misere verstärkt aber zugleich die Delegitimation der etablierten Politik.3 Und: Wenn die zur Wahl stehenden Unterschiede geringer werden, verbessern sich die "Gelegenheitsstrukturen" für neue Akteure. Hier - und nur hier - liegen denn auch die Parallelen zwischen Links und Rechts: Wenn die Interessen bestimmter Gruppen nicht mehr vertre- ten werden, wenden sich diese von der Politik ab - oder neuen Akteuren zu.

Die "Gelegenheitsstrukturen" bieten einem Projekt wie der Linkspartei nun in der Tat eine, wie ihre Protagonisten betonen, "historische Chance". Da es in anderen westeuropäischen Ländern, wie beispielsweise Italien, Schweden oder den Niederlanden, bereits derartige Linksparteien gibt, könnte man die bundesdeutsche Entwicklung hier auch als "nachholende Normalisierung" betrachten.

Die günstigen Voraussetzungen unterscheiden das Projekt grundlegend von den in der Geschichte der Bundesrepublik zahlreichen Versuchen, Parteien links von der SPD zu etablieren. Diese sind in ihrem Bemühen um substanzielle Unterstützung in der Bevölkerung und parlamentarische Repräsentanz bislang allesamt gescheitert - angefangen von den diversen kommunistischen Parteien nebst Bündnispartnern (DFU, DKP, Friedensliste etc.) bis hin zu den Demokratischen Sozialisten, die sich Anfang der 80er Jahre aus Unmut über den Kurs der Regierung Helmut Schmidts gründeten - aus ähnlichen Beweggründen also wie die WASG.

Die Bedingungen für das linke Bündnis sind heute demgegenüber aus drei Gründen wesentlich günstiger. Von überragender Bedeutung ist, dass die SPD das klassische sozialdemokratische Terrain von Arbeitnehmervertretung und Sozialstaat geräumt hat - übrigens nicht nur mit Hartz IV, sondern auch mit einer Steuersenkungspolitik, die Unternehmen und hohe Einkommen systematisch begünstigt. Wesentlich ist aber auch, dass mit der PDS eine Partei, die zumindest in Ostdeutschland breit verankert ist, das organisatorische Rückgrat der neuen Formation bildet und dass Oskar Lafontaine als ehemaliger SPD-Vorsitzender die "alte Sozialdemokratie" zu repräsentieren vermag.

Ob den Trägern und Befürwortern des linken Bündnisses bewusst ist, was mit PDS, WASG und Lafontaine auf sie zukommt, ist fraglich. Dass der Platz der alten SPD verwaist ist, legt nämlich einerseits nahe, dass die neue Formation genau diesen Platz besetzen wird. Dann wäre das Projekt "links von der SPD" letztlich in weiten Teilen die alte SPD selbst. Und andererseits ist die Frage, was die Linkspartei denn inhaltlich zu vertreten wünscht, noch weitgehend ungeklärt, wie nicht nur das dürre, eineinhalb Seiten knappe Einigungspapier indiziert, in dem beispielsweise Forderungen zum Geschlechterverhältnis gänzlich fehlen.

PDS und WASG

Die WASG, die als Partei erst seit gut einem Jahr besteht, hat sich aus Protest gegen Hartz IV gegründet. Nicht zufällig hat sie institutionellen Zuspruch gerade bei den Gewerkschaften gefunden und dort sogar einige Bezirksleiter der IG Metall für sich gewinnen können. Dies ist nicht zuletzt inhaltlich begründbar: mit der neoliberalen Offensive der Unternehmen - aber auch mit dem Festhalten an alten, lieb gewonnenen Gewerkschaftskonzepten aus fordistischen Zeiten, mit keynesianischer Globalsteuerung und der Kopplung der Löhne an das Produktivitätswachstum. Insofern ist die WASG, jenseits der vergleichsweise schwachen unabhängigen Linken und trotzkistischen Gruppen in ihren Reihen, programmatisch schlicht die gewerkschaftlichen Positionen am nächsten stehende Partei. Ob aber diese im Kern nationalstaatlichen Steuerungskonzepte in der globalisierten Welt nationaler Wettbewerbsstaaten Bestand haben können, ist, vorsichtig formuliert, offen. Auch andere Fragen sind inhaltlich noch ungeklärt, wie sich gerade an Oskar Lafontaines innenpolitischen Äußerungen zu Folter, Flüchtlingslagern, "Familienvätern" und "Fremdarbeitern" ablesen lässt.4

Für die Ost-"Partei des Demokratischen Sozialismus" ist die Zusammenarbeit organisatorisch ein Segen, hat sie es doch in 15 Jahren trotz erheblicher Anstrengungen nicht vermocht, im Westen der Republik über den Status einer Splitterpartei hinauszukommen. Der Spagat, gleichzeitig Ost-Partei mit Ost- Identität sein zu wollen und West-Wähler anzusprechen, ist gescheitert. Zu sehr hängt der PDS auch, gerade in Westdeutschland, ihre Vergangenheit als SED an. Und tatsächlich stammt noch immer die überwältigende Mehrheit der Parteimitglieder aus der SED.

Doch die PDS ist heute eine erneuerte SED. Ihre Repräsentanten waren zu Zeiten der DDR vielleicht Pionierleiterinnen, Kreissekretäre oder Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften - aber selbst diese "Führungspositionen" hatten sie selten inne. Und was wichtiger ist: Die PDS hat sich inhaltlich erneuert, wie insbesondere an ihrer bürgerrechtlichen Programmatik, aber auch an der Friedens-, Europa- und Sozialpolitik erkennbar ist. Dabei streitet die Partei, auch dies ein Beleg ihrer Erneuerung, lebhaft über ihren künftigen Kurs: zwischen Befürwortern und Gegnern von Koalitionen mit der SPD, zwischen Reformern und Traditionalisten, Vertretern einer Bürgerrechtsorientierung und orthodoxen Kommunisten. Ob es der sich zunehmend etablierenden PDS, auf deren offenen Listen das Bündnis kandidieren wird, in diesem Prozess gelingen wird, ein linkes Profil zu entwickeln, das keine bloße Kopie der Sozialdemokratie ist - sei es der "alten", wie bei der WASG, oder gar der "neuen", wie bei den ehemaligen Bruderparteien beispielsweise in Polen oder Ungarn - ist nicht zuletzt angesichts der innerparteilich konstitutiven Ost-Identität und der Erfahrungen in Bund, Ländern und Kommunen nicht ausgemacht.

Die inhaltlichen Fragen, mit denen die Linkspartei Politik zu machen beabsichtigt, sind jedenfalls noch zu klären. Dies birgt, neben der "historischen Chance", auch erhebliche Risiken für das Projekt. Denn es steht zu erwarten, dass sich die neue Formation erst nach den Wahlen - und damit über eine ausgesprochen heterogene Bundestagsfraktion - inhaltlich zu definieren versuchen wird. Wie schwer dies sein wird, davon zeugen die Streitigkeiten zwischen PDS und WASG in Berlin über die dortige "rot-rote" Koalition, die zugleich wie eine Reminiszenz an die Geschichte der deutschen Linken wirken - wenn sie nicht gar ihre Zukunft vorwegnehmen.

PDS=NPD=Lafontaine

Einstweilen verdeckt der Wahlkampf diese inhaltlichen Fragen. Im Mittelpunkt stehen die "Männerfehde" und eine medial breit vorgetragene Polemik gegen die Linkspartei, die ihresgleichen sucht. Dabei ist der Vorwurf des Populismus noch einer der harmloseren - schließlich gehört er zum politischen Geschäft.5 Dies demonstrieren derzeit auch die SPD mit ihrer Forderung einer dreiprozentigen "Reichensteuer", nachdem sie die Spitzensteuersätze gerade im Rekordtempo gesenkt hat, und die Bierdeckelsteuererklärungs-CDU, die gegen Öko- und andere Steuern zu Felde zog, die sie im Falle ihres Wahlsieges beibehalten wird.

Paradigmatisch für den Wahlkampf sind eher die Wortmeldungen, in denen die PDS und Lafontaine mit Nazis gleichgesetzt werden - und das teilweise wörtlich. Zutreffend ist, dass Gysi und Lafontaine erklärt haben, auch um Protestwählerinnen und -wähler kämpfen zu wollen, die ansonsten möglicherweise rechts wählen würden.6 Daraus wird jetzt ein "Bündnis" von Rechts und Links gemacht: Die PDS stehe "Seite an Seite mit den Neonazis der NPD", wird in einem Aufruf behauptet, Lafontaine vertrete einen "Faschismus von links", meinen andere.7 Ja soll denn die PDS - die sich in besonderem Maße für Programme "gegen rechts" eingesetzt hat - für Hartz IV sein, nur weil die NPD dagegen ist? Und sich aus dem gleichen Grunde auch noch für den umstrittenen EU-Verfassungsvertrag in die Bresche werfen? Und seit wann sind es "antiamerikanische Theorien", wenn PDS und Lafontaine "den NATO-Einsatz in Exjugoslawien [...] einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" nennen?8

Allerdings zeigen diese und andere Reaktionen - einschließlich Gerhard Schröders Wort von der "merkwürdigen Gruppierung da am linken Rand", mit der er nichts zu tun haben wolle - auch die Verunsicherung der etablierten politischen Klasse. Dies ist indes keine hinreichende Antwort auf die Herausforderung Linkspartei - einer Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Kritik an der Bundesregierung wird auch die Kanzlerpartei auf Dauer nicht ausweichen können. Im Übrigen wird die SPD, spätestens wenn der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen ist, gewärtigen, dass die Linkspartei für sie, so Franz Walter,9 strategisch betrachtet auch ein Vorteil sein kann, weil sie die eigenen Handlungs- und Bündnisoptionen vergrößert.

Für die Kräfte, die am Zustandekommen und am Erfolg der Linkspartei arbeiten, steht eine Zusammenarbeit mit der SPD allerdings derzeit nicht zur Debatte. Schließlich hat man erst aus einer gemeinsamen Kritik an der rotgrünen Regierungspolitik zueinander gefunden. Sie können nur hoffen, dass die Klärung inhaltlicher Grundfragen nicht immer weiter verschoben wird - in ihren eigenen Reihen wie auch bei SPD und Grünen.

1 Vgl. Wolf-Dieter Narr und Alexander Schubert, Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt a. M. 1994; Erhard Eppler, Auslaufmodell Staat? In: "Blätter", 6/2005, S. 693-703.
2 Vgl. Albert Scharenberg und Oliver Schmidtke, Editorial: Wider die Eindimensionalität, in: dies. (Hg.), Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen, Münster 2003, S. 7-24.
3 Rainer Rilling und Christoph Spehr, Die Wahl 2006, die Linke und der jähe Bedarf an Gespenstern, "rls-Standpunkte", 6/2005.
4 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Oliver Nachtwey in diesem Heft.
5 Vgl. Karin Priester, Der populistische Moment, in: "Blätter", 3/2005, S. 301-310.
6 "Frankfurter Rundschau", 30.6.2005.
7 "Schriftsteller warnen vor Linkspartei", in: "Die Welt", 30.6.2005; Jochen Senf, www.spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,364039,00.html.
8 So Harald Bergsdorf in: "tageszeitung", 5.7.2005.
9 Interview mit Franz Walter, in: ebd., 7.7.2005.
Blätter für deutsche und internationale Politik © 2005