Zum Schluß*.

Erinnerungen an die Geschichtsphilosophie oder Im Westen nichts Neues?

Geschichtsphilosophie heute, das wäre eine historisch - rekonstruktiv verfahrende Bestandsaufnahme des menschenwürdigen Lebens.

"Aber die Welt muß vorwärts, nicht erträumt werden kann jener ideale Zustand, er muß erkämpft werden, und nur durch Heiterkeit geht der Weg zur Erlösung, zur Erlösung von jenem mißverständlichen Eulen-Ernste."
Friedrich Nietzsche (1873/74), in: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

"sÂ’ wird böse enden ..."
Werner Enke (1967), in: Zur Sache Schätzchen

1. Postscriptum zu Beginn
Wer erst spät, vermutlich sogar zu spät, in die Debatte um das Ende der Geschichte einsteigt und zurückschaut, den mag verwundern, mit welch widersprüchlichem Stimmengewirr man es seinerzeit zu tun hatte: So mancher Finalist schien sich frohlockend die Hände zu reiben, so als stünde das ersehnte Ende, wie sonst nur das Weihnachtsfest, bereits unmittelbar vor seiner Haustür. Andere streiften sendungsbewußt umher, mahnend, daß das Ende am Ende vielleicht doch noch aufgehalten werden könne. Wieder andere lehnten sich bereits zurück, weil sie glaubten, in aller Nüchternheit oder aber resigniert zur Kenntnis nehmen zu müssen, daß das Ende längst schon eingetreten sei. Schon damals konnte, wer angesichts dieses vielstimmigen Geraunes die Ohren spitzte, die enthysterisierende Feststellung machen, daß wieder einmal bloß drei eher altbackene geschichtsphilosophische Strategien zum Tragen kamen, mit denen die historische Vernunftzunft von Zeit zu Zeit zur endzeitlichen Schlußoffensive bläst: Seit jeher erwartet die eine Fraktion das bevorstehende Ende als ein Heilsgeschehen, die zweite erblaßt vor der sich anbahnenden Apokalypse, die dritte schließlich diagnostiziert das finale Patt einer ewigen Wiederkehr des Immergleichen.
Nun gab die jüngste Vergangenheit zweifellos genügend Anlaß zu der Hoffnung, unter die lästige Schlußstrich-Diskussion könne endlich ein Schlußstrich gezogen werden. Auch wenn die Philosophie der Geschichte in den letzten Jahren fast vollständig in der Versenkung verschwand, ging die Geschichte selbst doch munter weiter. Aber die derzeitige Hochkonjunktur der Diagnose einer "Wiederkehr", ja, eines "Wiederbeginns" der Geschichte droht die einstige Endspiellogik zu reaktivieren, indem das jüngste vermeintliche Ende bestätigt wird, um eine neue Zeitspanne eröffnen zu dürfen.1 So als sei die Geschichte tatsächlich für eine Weile fort bzw. passé gewesen, soll ein Neuanfang behauptet werden, der doch - das gilt für jede Erzählung, auch für "die" Geschichte - immer schon ein Anfang vom Ende ist. Die beschwörende Formel von der Wiederkehr wird vom ertrinkenden Geschichtsphilosophen wie ein Strohhalm durch die rhetorische Wasseroberfläche der geglätteten Zunft gestoßen, um wieder atmen zu können. Das ist allzu verständlich, doch sollte das hoffnungsfrohe Mantra nicht allein als längst überfälliger Rettungsversuch und als reichlich unpünktliche Antwort auf die intellektuelle Zumutung des einstigen Abgesangs gedeutet werden. Wer erneut mit dem Countdown beginnt, der muß sich darüber im klaren sein, daß er in Gedanken längst schon wieder ausgezählt hat.
Es scheint, als wolle die Geschichte gar nicht aufhören aufzuhören. In welchen Chor man selbst spontan auch immer einstimmen mag: Die heute erneut zutage tretende Undurchsichtigkeit der unterschwellig anhaltenden Diskussion um das sogenannte posthistoire beruht wohl nicht zuletzt auf der Tatsache, daß sehr unterschiedliche und oft nur diffuse Vorstellungen davon kursieren, was überhaupt wir unter "Geschichte" zu verstehen haben. Inwiefern, so bleibt fast immer im Dunkeln, unterscheiden sich Geschichte und Geschehnisse? Solange diese Frage unbeantwortet bleibt, muß entsprechend unklar sein, was mit dem mutmaßlichen Ende der Geschichte denn nun eigentlich vorbei sein bzw. was mit deren Wiederkehr erneut Anlaß zur Hoffnung geben soll: die Zeit, die Welt, das Leben, der Mensch, die großen Erzählungen, der Traum vom emanzipierten Subjekt?
Dieser Klärungsbedarf mag einen noch einmal auf den Friedhof der klassischen Geschichtsphilosophie verschlagen. An zwei ihrer wichtigsten Grabsteine soll im folgenden erinnert werden. In der Geschichte der Philosophie der Geschichte lassen sich wohl nur wenige Großentwürfe ausfindig machen, die sich auf Anhieb derart fundamental widersprechen würden wie die als heillos optimistisch gescholtene Fortschrittsgeschichte Hegels und die als durchweg pessimistisch verschmähte Verfallsgeschichte der "Dialektik der Aufklärung". Aber so unterschiedlich diese beiden geschichtsphilosophischen Großprojekte auch ausfallen mögen, deren Kritiker sind sich bis heute in wenigstens einer Hinsicht einig: Sowohl mit Hegels Glauben an einen unaufhaltsamen "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" als auch mit Horkheimers und Adornos Diagnose eines unentrinnbaren "gattungsgeschichtlichen Verhängniszusammenhangs" seien derart totale Erklärungsansprüche angemeldet worden, daß in beiden Fällen konstatiert werde, wenngleich auf jeweils eigentümliche Weise, "die" Geschichte sei bereits gelaufen. Während Hegel das Ende einer vernünftigen Heilsgeschichte gekommen sah, in deren Verlauf die höchste Stufe menschlicher Freiheit erklommen worden sein soll, meinten Horkheimer und Adorno, ganz in apokalyptischer Tradition stehend, davon ausgehen zu müssen, daß der Abgrund totalitärer Barbarei erreicht sei, und zwar endgültig. Aus unserer heutigen Sicht jedoch, so fährt die Kritik dann für gewöhnlich fort, könne keine dieser beiden Diagnosen noch irgendeine empirische Aussagekraft beanspruchen.
Eben dies soll im folgenden bestritten werden. Die beiden auf den ersten Blick überaus disparat wirkenden geschichtsphilosophischen Mammutprojekte haben keineswegs ihr Wesentliches bereits eingebüßt. Doch wird dies erst dann ersichtlich, wenn man sie unmittelbar zusammen liest. Hegel einerseits, Horkheimer und Adorno andererseits müssen so aufeinander bezogen werden, daß sie - im klassisch Hegelschen Sinne - vermittelbar werden. Dann nämlich wird deutlich, daß die "Dialektik der Aufklärung" lediglich konsequent das philosophische Erbe Hegels antritt. Horkheimer und Adorno machen nämlich ernst mit dessen Programm einer dialektischen "Arbeit am Begriff". Sie nehmen ihren geistigen Übervater beim Wort und kehren dessen philosophische Methode, nach der alles ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist, noch gegen die scheinbar längst aufgeklärte idealistische Vernunft selbst - bis auch diese ihre unvernünftigen, ja, verhängnisvollen Schattenseiten offenbart.
Wir beginnen mit einem geschichtsphilosophischen Rückblick: Zunächst soll noch einmal an die Ausgangslage bei Hegel und an dessen Erzählung von einer "Vernunft in der Geschichte" erinnert werden (2). Anschließend wird, in gebotener Kürze, die unmittelbare Gegengeschichte Horkheimers und Adornos rekapituliert (3). Dann erst können beide geschichtsphilosophischen Großbaustellen so ineinander verzahnt werden, daß sich dem vermeintlichen Ende der Geschichte endgültig ein Ende bereiten, das Anliegen der Geschichtsphilosophie hingegen retten läßt (4). Dazu wird letztere sich aber endgültig von ihrem quasi-religiösen, eschatologischen Pathos befreien müssen, das selbst noch der gemeinten Finaldebatte anhaftet (5). Im Anschluß an die geschichtsphilosophische Vorgeschichte des Nachgeschichtlichen dürfen erste Konsequenzen mit Blick auf das angedeutet werden, was derzeit ist und schon bald als Geschichte erzählt werden wird. Zum Schluß wird folgende These bekräftigt: Eine Geschichtsphilosophie, die heute an der Zeit sein will, hätte sich daran zu erinnern, daß sie in einer ihrer besten Phasen Kritik der Religion war (6).

2. Auf der Weltgeisterbahn
Wenn heute von der Geschichte die Rede ist, dann wird für gewöhnlich nur noch selten unterschieden zwischen der Art und Weise, wie im Nachhinein über historische Begebenheiten berichtet wird, und den Geschehnissen als solchen. Als jedoch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den Jahren 1822-1831 seine "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte"2 hält, da ist seine Auffassung vom Wesen der Geschichte doch noch ausdrücklich von der Vorstellung einer Erzählung geprägt, die einem roten Faden zu folgen hat. Einer spezifisch philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte muß, so Hegel, eine ganz besondere Aufgabe zukommen, durch welche sie von jeder herkömmlichen Art der Geschichtsbetrachtung zu unterscheiden ist. Diese besondere Aufgabenstellung ergibt sich aus Hegels Auffassung von den Aufgaben der Philosophie als solcher. Philosophie, so Hegel ganz in Einklang mit seinen idealistischen Zeitgenossen, ist das Geschäft der Vernunft und das Wissen um ihr Tätig-Sein.3 Im Rahmen dieses Tätig-Seins verschafft Vernunft sich Klarheit nicht nur über die Beschaffenheit der Welt, sondern stets auch über sich selbst. Wenn aber die Philosophie das menschliche Einzelbewußtsein als vernünftig soll erkennen können, dann muß sie zugleich davon ausgehen, daß es auf der Welt insgesamt vernünftig zugeht. Das menschliche Einzelbewußtsein kann nur dann als zur Vernunft fähig aufgefaßt werden, wenn es in seiner Umgebung dann auch auf Dinge und Begebenheiten trifft, die ebenfalls als vernünftig eingesehen werden können: "Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an".4
Damit reiht sich das philosophische Einzelbewußtsein in ein großes Ganzes der Vernunft ein. Alle Erscheinungen dieser Welt, so Hegel, müssen als Emanationen einer Art höheren Vernunft, als Derivate des "Weltgeistes" verstanden werden - auch wenn das herkömmliche, nicht-philosophische Bewußtsein von diesen Zusammenhängen nicht viel ahnt. Vielmehr findet sich der Weltgeist in seinen alltäglichen menschlichen Erscheinungsformen auf unvernünftige Weise "entzweit". Es ist die Philosophie, in deren Rahmen man dem Weltgeist dabei zusehen kann, wie dieser seiner Bestimmung folgt, sich befreit und langsam "zu sich" kommt, indem sich das reflektierende Einzelbewußtsein in seinen Reflexionen zu spiegeln beginnt und so schrittweise eine stetig komplexer werdende Struktur annimmt. Demnach findet in der Philosophie mit jedem besonderen Bewußtsein immer auch ein Teil vom allgemeinen Weltgeist zu sich, indem sich das philosophierende Einzelbewußtsein sozusagen als Weltgeistchen erkennt.
Erst im Ausgang aus dieser Entzweiung, im Bewußtsein seiner selbst, in denkender Unabhängigkeit und damit in "Freiheit", fände der unruhige Geist seine endgültige Bestimmung, sein versöhnliches Bei-sich-selbst-Sein. Eben damit sind wir bei der Funktion einer spezifisch philosophischen Betrachtung der Menschheitsgeschichte angelangt: Aus Sicht der Geschichtsphilosophie muß die gesamte Entwicklung der Menschheit so verstanden werden, als sei diese dazu bestimmt, den entzweiten Weltgeist aus Zuständen einer noch nicht befreiten, noch nicht verwirklichten Vernunft herauszuführen und auf die richtige Weltgeisterbahn zu bringen. Erzählt wird also die Geschichte vom "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit". Das ist der Leitfaden, dem die Geschichtsphilosophie zu folgen hat. Sie hat aufzudecken, inwiefern und wo es in der Menschheitsgeschichte vernünftig zugegangen ist und zugeht.
Dabei entspricht die konkrete Gegenwart des Geschichtsphilosophen stets einer jeweils momentanen historischen Gestalt der Vernunft. Selbst offenkundig unvollkommene, scheinbar gänzlich unvernünftige Zustände und Entwicklungen sind und bleiben auf die Idee vernünftiger Freiheit bezogen, indem sie deren defizitäre Entwicklungsstadien zum Ausdruck bringen, die es zu überwinden gilt. Genau hier offenbart sich die historische "List der Vernunft": Im Zuge all der furchtbaren und blutigen Kämpfe auf der Schlachtbank der Geschichte, hält die Vernunft sich geflissentlich im Hintergrund bereit. Freiheit ist der Endzweck, dem sämtliche Opfer auf dem weiten Altar der Erde gebracht werden. Ohne daß sie es wissen, verfolgen alle Menschen, gewissermaßen hinter ihrem Rücken, nur das eine gemeinsame Ziel: die Realisierung nicht nur ihrer eigenen, sondern wahrhaft allgemeiner Freiheit. Diese Vernunftidee wirkt selbst durch die düstersten Zeiten hindurch. Sie bleibt am Werke, ist nicht unterzukriegen, überlebt. Nur insofern gilt die von Hegels Kritikern so häufig als reaktionär gescholtene Losung: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig."5 Das Unvernünftige hat dauerhaft keinen Bestand. Weil der Mensch vernünftige Freiheit will, muß jede unvernünftige Unfreiheit früher oder später untergehen.
Da nun aber die Geschichtsphilosophie den jeweiligen Stand der Verwirklichung von Vernunft und Freiheit allein in dem, was ist und bisher war, aufzuspüren vermag und sie sich daher mit längerfristigen Prognosen schwer tun muß, ist sie, wie Hegel sagt, "ihre Zeit in Gedanken erfaßt". Geschichte darf daher nicht mit den Geschehnissen als solchen verwechselt werden, sie ist ein rekonstruktiv verfahrendes Deutungsmuster. Das heute nur zu oft zur Diskreditierung der Philosophie herangezogene Bild von der Eule der Minerva, die ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginnt, erhält so seinen angestammten Platz: Die Philosophie kann und soll ihrer Zeit gar nicht voraus sein. Da wichtige historische Ereignisse nicht vorauszusehen sind und daher immer erst retrospektiv ins Blickfeld geraten können, d.h. dann, wenn sie zu einem vorläufigen Abschluß gelangt sind, muß die Philosophie für prospektive Belehrungen stets zu spät kommen. Die philosophische Betrachtung der Weltgeschichte, so lautet die methodische Einsicht Hegels, beschränkt sich auf das Sammeln von Ergebnissen.
Gleichwohl läßt sich Hegel am Ende seiner Vorlesungen zu einer gewagten Prognose hinreißen: "Unsere Welt", so behauptet er, ist in das "letzte Stadium der Geschichte eingetreten".6 Die europäische Aufklärung und die französische Revolution, so ist zu lesen, haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß nunmehr jeder Mensch erkennen kann, daß es der Wille des Weltgeistes ist, die Verwirklichung der Freiheit aller herbeizuführen und dauerhaft zu institutionalisieren. Das mag forsch klingen, der aufmerksame Leser jedoch wird sofort feststellen, daß Hegel, der mit einem durchaus langen historischen Atem ausgestattet ist, hier offenkundig nicht schon in ausgepinselten Endzeitvisionen schwelgt. Die sehr viel weiter reichende These, Hegel habe mit dem Eintritt in das letzte "Stadium" der Geschichte bereits deren besiegeltes "Ende" behaupten wollen, läßt sich nicht belegen.7 Hegel mag zwar davon überzeugt sein, daß uns im Zuge der Aufklärung die Idee gleicher vernünftiger Freiheit ein für allemal zu Bewußtsein gekommen sei, doch bedeutet das nicht, daß sie deshalb auch schon umfassend realisiert wäre.
Immerhin war Hegel der Ansicht, zumindest die Philosophie, und zwar in seiner Person, sei zu einem vorläufigen Ende gekommen, denn er glaubte, das Entwicklungsprinzip alles Weltlichen erkannt zu haben. Doch das Ende der nach Freiheit fahndenden Geschichtsphilosophie darf nicht als ultimatives Ende der Freiheitsentwicklung mißverstanden werden. Die endgültige Realisierung der Freiheit, das sah auch Hegel, stand aus. Auch wenn er, wie man weiß, im preußischen Staat das Bewußtsein der Freiheit zu hoher Reife ausgebildet sah, war er sich doch zugleich darüber im klaren, daß es zur dauerhaften Verwirklichung vernünftiger Freiheit noch weit umfänglicherer, mithin republikanischer Umwälzungen und überdies eines erheblichen Bildungsprozesses seitens des nur bedingt aufgeklärten Volkes bedurft hätte. Nur weil Hegel ein Verfechter der Idee des Staates war, sollte er nicht schon als Apologet oder gar als "Staatsphilosoph" eines bestimmten, nämlich des preußischen Staates geschmäht werden. Gegen Ende seiner geschichtsphilosophischen Vorlesungen - und damit gegen Ende seines Lebens - heißt es: "Endlich nach vierzig Jahren von Kriegen und unermeßlicher Verwirrung könnte ein altes Herz sich freuen, ein Ende derselben und eine Befriedigung eintreten zu sehen." Aber noch immer, so fährt er fort, sei institutionell nicht garantiert, "daß der allgemeine Wille auch der empirisch allgemeine sein soll, d.h. daß die Einzelnen als solche regieren oder am Regimente teilnehmen sollen. [...] So geht die Bewegung und Unruhe fort. Diese Kollision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat."8
Wenn diese äußerst knappe Rekonstruktion von Hegels geschichtsphilosophischem Denken zutreffend ist, dann verliert aber genau jener - von Alexandre Kojève bis hin zu Francis Fukuyama - führende Strang der posthistoire-Debatte, der direkt an Hegel hat anknüpfen wollen, seine zentrale theoriegeschichtliche Prämisse.9 Kojève hatte sich seinerzeit in dem Glauben gewiegt, Hegel habe in der Person Napoleons die Geschichte zu einem endgültigen Abschluß kommen sehen. Zwar hat Hegel tatsächlich bei Napoleons Einmarsch in Jena im Jahre 1806 bezeugen wollen, "die Weltseele [...] auf einem Pferde" sitzen zu sehen.10 Der französische Kaiser jedoch war für Hegel nicht mehr, aber auch nicht weniger als einer jener "Geschäftsführer des Weltgeistes", von denen die Geschichte von Zeit zu Zeit tonangebend beeinflußt wird. 1806 war Napoleon für Hegel noch der Multiplikator der Errungenschaften der großen Revolution, nicht aber der endgültige Vollstrecker des Weltgeistes. Ähnlich wie Hegel sich später dazu gezwungen sah, seine historischen Ansichten über Napoleon zu revidieren, modifizierte auch Kojève seine Einschätzung der philosophischen Bedeutung Hegels. Dieser habe sich um ein Jahrhundert verrechnet, räumte Kojève später ein, denn der eigentliche Mann vom Ende der Geschichte sei Stalin.11 Einen historischen Treppenwitz wird man sich an dieser Stelle kaum verkneifen können: Es verwundert kaum, daß Ende der 1990er Jahre aus französischen Geheimdienstkreisen verlautete, der 1968 gestorbene Kojève habe mehr als dreißig Jahre lang für den KGB spioniert. Folglich wird Kojève als ideologischer Doppelagent in die Philosophiegeschichte eingehen: als Zulieferer sowohl für die sowjetischen Apparatschiks als auch - über den ehemaligen US-Regierungsberater Fukujama - für die amerikanischen Konservativen.
Um aber noch einmal auf die in dieser Hinsicht oft finalistisch mißverstandene Geschichtsphilosophie Hegel zurückzukommen: Man wird gleichwohl kaum bestreiten können, daß Hegel ein zumindest vorläufiges Ende der Geschichte herannahen sah, und zwar ein Ende eben jener Erzählung vom Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Die Philosophie der Geschichte, soviel stand für Hegel fest, käme mit der empirischen Realisierung allgemeiner Freiheit an ihr Ende, und zwar in dem Sinne, daß sie fortan kaum mehr etwas zu sagen hätte. Auch wenn der historische Prozeß als solcher stetig fortschreiten würde, die Eule der Minerva drehte sich bloß noch im Kreis. Der heutige Leser wird spätestens an dieser Stelle historisch ernüchtert abwinken. Trotz aller jüngsten finalistischen Unkenrufe ist derzeit offenbar weder die höchste Stufe menschlicher Freiheit noch das Ende aller geschichtsphilosophischen Mitteilungsbedürfnisse angezeigt. Es muß etwas geschehen sein, das dem Ende Aufschub verschafft hat. Warum aber war Hegel noch davon überzeugt, sich derart optimistisch zeigen zu können? Warum können wir, die sogenannten Nachgeborenen, heute nicht mehr gleichermaßen zuversichtlich sein? Aus geschichtsphilosophischer Sicht sind wir inzwischen zu der Einsicht angehalten, daß Hegel die Wirkmächtigkeit der menschlichen Vernunft am Ende doch nicht erschöpfend genug zu reflektieren vermocht hat.

3. Und wo bleibt das Negative, Herr Hegel?
An der Zuversicht, daß es in der Welt und in der Geschichte letztlich vernünftig zugeht, muß spätestens im 20. Jahrhundert ein ernsthafter geschichtsphilosophischer Zweifel aufkommen. Als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Anfang der vierziger Jahre im amerikanischen Exil die "Dialektik der Aufklärung" schreiben, sehen sie sich mit einer weltpolitischen Situation konfrontiert, in der angesichts des deutschen Nationalsozialismus und des sowjetischen Stalinismus viel eher globale Unvernunft und Inhumanität zu kulminieren scheinen.12 So schlagen die eher unsystematischen philosophischen Fragmente, die 1944 dann zunächst in den USA veröffentlicht werden, einen durchweg finsteren Ton an. Die von Horkheimer und Adorno vorgelegte Zeitdiagnose, eine Art kulturhermeneutischer Gewaltstreich, konstatiert der Aufklärung einen Prozeß rastloser Selbstzerstörung. Die Autoren setzen sich gleich auf der ersten Seite des Buches nicht weniger als die Klärung der Frage zum Ziel, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Form der Barbarei versinkt". Im Zuge einer radikalen Dekonstruktion westlicher Zivilisationsgeschichte soll der Selbstzerstörungsprozeß der Aufklärung auf den Begriff gebracht werden. Der Terminus "Aufklärung" wird dabei nahezu auf die gesamte Gattungsgeschichte ausgedehnt. Den vermeintlichen Fortschritt der Menschheit im Rahmen ihrer soziokulturellen Zivilisierung entlarven Horkheimer und Adorno dabei als einen nahezu linearen Prozeß der gattungsgeschichtlichen Regression, der bereits in jenen Frühphasen der Zivilisationsbildung eingesetzt haben soll, in denen der Mensch aufgeklärtes Denken in Gang brachte, indem er sich listig von der gewaltigen Übermacht der Natur zu emanzipieren begann.
Seitdem verfolgt die Aufklärung das Ziel, den Bann des Mythos zu brechen, die Welt "zu entzaubern" und den Menschen als den Gebieter über die Natur einzusetzen. Doch, so Horkheimer und Adorno, im Laufe der Zeit sind Mythos und Aufklärung eine unheilvolle Allianz eingegangen. Die Kernthese des Buches lautet bekanntlich wie folgt: "Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück."13 Einerseits erzählen uns bereits jene Geschichten, die wir heute den Mythen zuordnen, von zivilisatorischen ABC-Schützen, die sich als erste, man denke an Homers Odysseus, mit List und Opferbereitschaft gegen die Übermacht der göttlichen Natur zu Wehr setzten. Demnach neigt schon der Mythos zur Aufklärung, hat aufgeklärtes Denken in Mythologie seine frühesten ideengeschichtlichen Wurzeln. Andererseits nimmt im weiteren Verlauf der Aufklärung, insbesondere mit dem Aufkommen neuzeitlicher Naturwissenschaften, ein positivistisches Denksystem Gestalt an, das mit unerbittlicher Härte gegen jeden mythischen Aberglauben vorzugehen gewillt ist. Der Positivismus muß all das als irrational und mythisch verwerfen, was sich nicht in sein System "objektiver" Berechenbarkeit einpassen läßt. Damit scheint das Unheil der Aufklärung besiegelt: Sie wird totalitär, indem sie die eigenen Wurzeln kappt. Das vermeintlich aufgeklärte Ideal eines "Denken und Mathematik in eins" setzenden Wissenschaftsapparates ist selbst nur ein monströser Aberglauben. Die positivistische Vorstellung, die gesamte Welt könne nach Art eines gigantischen analytischen Urteils entziffert und beherrschbar gemacht werden, erweist sich als vom gleichen Schlage wie der Mythos, den sie zu bekämpfen sucht. Folglich schlägt Aufklärung in Mythologie zurück.
Den zivilisatorischen Sündenfall markiert der Siegeszug "instrumenteller Vernunft". Im Zuge der Abkehr von der mythischen Natur gelangt der Mensch zu einer objektivistischen, verdinglichenden Form der Rationalität, die es ihm ermöglicht, denkend so weit von der Natur Abstand zu nehmen, daß diese manipulierbar und beherrschbar wird. Die Emanzipation des Menschen von der Natur schlägt damit mehr und mehr in eine blinde Beherrschung der Natur um. Doch damit nicht genug: Das instrumentelle Prinzip der Naturbeherrschung greift bald schon auf den Menschen über. Zum einen wird es in das Prinzip "Selbstbeherrschung" transformiert. Die Menschen lernen, ihre Sinne und Triebe zu unterdrücken und ihren Körper auf die Anforderungen reproduktiver Tätigkeiten hin abzurichten. Zum anderen bleiben davon auch die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht unberührt. Man entnimmt dem Prinzip der Naturbeherrschung das instrumentelle Muster zur Etablierung sozialer Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Ob im politischen Raum, im Bereich der Ökonomie, in der Kulturindustrie, im Geschlechterverhältnis: Allerorten hinterläßt die Aufklärung eine Spur zwischenmenschlicher Versachlichung und Verdinglichung, durch welche Ausbeutung und Unterdrückung überhaupt erst möglich werden.
So findet sich der mutmaßlich aufgeklärte, moderne Mensch auf dreifache Weise "entfremdet": von der unterjochten Natur, von seinem domestizierten Selbst und seinen instrumentalisierten Mitmenschen. Aufgeklärte List ist in absolute Dummheit umgeschlagen. Es herrscht ein Zustand allgemeiner "Verblendung". Der Mensch hat sich die Beherrschung der Natur erkauft mit dem Verlust all dessen, was er im Zuge der Naturbeherrschung zu bewahren versuchte. Total gewordene Herrschaft gerinnt zum bloßen Selbstzweck. Der vermeintliche Fortschritt der Menschheit entpuppt sich als ein stumpfes Fortschreiten der Macht und als Prozeß des gattungsgeschichtlichen Verfalls. Dieser Lawine vermag niemand mehr Einhalt zu gebieten. Der Mensch mutiert zum bloßen Gattungswesen, zum stumm verfügbaren "Lurch". Die Überreife der Gesellschaft lebt fortan von der Unreife der Beherrschten. In einer durch und durch "verwalteten Welt" vegetiert der Mensch kärglich vor sich hin. Als Fluch des Fortschritts triumphiert eine repressive Egalität: ein Zustand alles hemmender, erpreßter Gleichgültigkeit. Unterdrückung wird zur Tugend umgedichtet, die moralische Tyrannei bricht an, Menschen werden, versehen "mit dem Stempel Jude", in die Gaskammer geschickt. Die nationalsozialistische Barbarei, so Horkheimer und Adorno, ist nicht etwa Abkehr von den Geboten aufgeklärter Vernunft, sondern deren letzte Konsequenz. Das Konzentrationslager exekutiert die von Beginn an unheilvolle Dialektik von Mythos und Aufklärung.
Wer die Rezeptionsgeschichte der "Dialektik der Aufklärung" kennt, weiß, was ihr vorgeworfen wird. Ihr durchweg vernunftkritischer Befund sei derart lückenlos, daß er dem vernünftigen Gehalt, den die Aufklärung zweifellos auch habe, Unrecht widerfahren lasse. Die reduktionistische Ableitung nahezu sämtlicher gattungsgeschichtlicher Vorkommnisse auf das eine, alles beherrschende Prinzip der Naturbeherrschung verstelle den Blick darauf, daß Formen gelingender sozialer Kooperation und Verständigung möglich seien, die das Potential zur Überwindung der Barbarei mit sich bringen. Und wenn die Geschichte in Auschwitz an ihr apokalyptisches Ende gelangt sein soll, so müssen sich die Autoren offensichtlich getäuscht haben. Die Welt ist dem Faschismus entronnen und die Geschichte zu neuen Ufern aufgebrochen. Zumindest als Geschichtsphilosophie, so scheint es, hat sich die "Dialektik der Aufklärung" somit erledigt. Sie lasse sich heute lediglich noch mit ideengeschichtlichem Interesse lesen. Aber ist dem tatsächlich so?

4. Das vermeintliche Ende ist ein Schluß
So schwarz Horkheimer und Adorno auch sehen mögen, sie lassen dennoch keinen Zweifel daran, daß die Idee der "Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist".14 Die Autoren sind der Aufklärung keineswegs müde - was sie im übrigen, wie sich noch zeigen wird, von den Verfechten der These vom Ende der Geschichte unterscheidet. Sie legen kein Bekenntnis zum Irrationalismus oder gar für eine Rückwendung zum Mythos ab. Sie beklagen lediglich die Tatsache, daß aufgeklärtes Denken es bisher versäumt hat, selbstreflexiv zu werden, d.h. sich über sich selbst aufzuklären. Demnach verlangen Horkheimer und Adorno eine Revision und Revolution zivilisatorischer Denkungsart: Die Aufklärung muß sich ihres blauäugigen Fortschrittsglaubens entledigen, indem sie sich ihres eigenen katastrophischen Potentials bewußt wird. Allein dann mag es ihr gelingen, dem weithin blind fortschreitenden Selbstzerstörungsprozeß Einhalt zu gebieten. Erst wenn die Vernunft aus ihrer Verstrickung in instrumentelle Herrschaft gelöst wird, dürfen vergangene Hoffnungen noch Hoffnung auf Einlösung haben. Angesichts der historischen Katastrophe hinterlassen Horkheimer und Adorno eine Art Flaschenpost - in der vagen Zuversicht, daß diese eines Tages womöglich gefunden und entschlüsselt wird, damit, wie sie es sagen, "es doch nicht ganz mit uns untergeht".15
Damit wird das Projekt der Aufklärung nicht etwa ad acta gelegt, sondern als unvollendet ausgewiesen. Es muß zunächst den derzeit amtierenden Projektleitern (wir schreiben das Jahr 1944) in den nationalsozialistischen Todeslagern und im sowjetischen Gulag entrissen werden. Wenngleich sich diese historisch konkrete Front in der Folgezeit auflöste, der damit angezeigte geschichtsphilosophische Schluß ist bis heute aktuell geblieben. Die von Horkheimer und Adorno an der Aufklärung geübte Kritik ist nicht etwa als endgültige Absage an Hegels Idee einer "Vernunft in der Geschichte" zu verstehen, sondern als der Versuch, einen neuen, adäquateren Begriff der Aufklärung vorzubereiten. Zu diesem Zweck wird eine Art Brandrodung des gesamten sich aufgeklärt dünkenden Terrains unternommen, damit darauf Neues, vielleicht sogar Rettendes erwachsen kann. Wichtig aber ist: Die Hegelsche Geschichtsphilosophie bleibt dabei stets konzeptioneller Ausgangspunkt, wenn auch in gänzlich invertierter Perspektive: "Zu definieren wäre der Weltgeist", sagt Adorno später, "als permanente Katastrophe".16
Es macht nur wenig Sinn, die "Dialektik der Aufklärung" als einen geschichtsphilosophischen Großentwurf zu lesen, der positivistisch auf deskriptive Informationen aus wäre. Die negative Heilsgeschichte der beiden Autoren darf nicht in dem Sinne materialistisch mißverstanden werden, als ginge es ihnen um die Rekonstruktion notwendiger historischer Prozesse, die unaufhaltsam ins Unheil haben führen müssen. Die "Dialektik der Aufklärung" muß vielmehr als gezielt tendenziöse Gegengeschichte gelesen werden, die einen Prozeß selbstkritischer Bewußtwerdung in Gang bringen soll. Im Lichte der Hegelschen Geschichtsphilosophie erweist sie sich nicht einfach als deren fatalistische Entgegensetzung, sondern als konsequente Ergänzung. Horkheimer und Adorno konfrontieren Hegel mit dessen eigenem Programm. Die rigorose Negation des ursprünglichen Programms ist nicht etwa der Versuch einer gänzlichen Auslöschung idealistischen Denkens. Die "Dialektik der Aufklärung" versteht sich vielmehr als Wegbereiter der Aufhebung von Geschichtsphilosophie, d.h. als notwendiger Fortschritt der philosophischen Reflexion auf die historischen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit. Horkheimer und Adorno sind sich mit Hegel dahingehend völlig einig, daß der historische Prozeß den Ausgang des Menschen aus seiner Unfreiheit bringen soll. Doch aus guten historischen Gründen sind sie skeptischer als ihr geschichtsphilosophischer Übervater. Der Zeitpunkt der Befreiung ist nicht schon in greifbarer Nähe. War Hegel der Ansicht, sich darauf verlassen zu können, daß sich die Freiheit alsbald endgültig Bahn brechen werde, wird ihm von Horkheimer und Adorno die geschichtsphilosophische Gegenrechnung präsentiert, indem sie ihn beim Wort nehmen: Die Überwindung des Negativen ist nur möglich, wenn man das Denken gegen das Denken und die Analyse gegen die Analyse treibt. In der Hoffnung, daß die Vernunft endlich Vernunft annehmen möge, macht die "Dialektik der Aufklärung" jedem letztlich unkritischen Fortschrittsoptimismus den Garaus. Mit dem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Alfred Seidel, der 1924, am Tag der Fertigstellung seines einzigen Buches, freiwillig aus dem Leben schied, läßt sich Hegel entgegenhalten: Es gibt nichts Negativeres als das Gerede von der Positivität, von welcher der wahrhaft Positive nicht redet.17
Damit jedoch ist die Geschichte der Freiheit weder mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie noch mit ihrem Anderen, der "Dialektik der Aufklärung", am Ende. Als philosophische Erzählung, die nicht einseitig sein will, wird sie überhaupt erst sinnvoll möglich. Das, was die Hegelsche Geschichtsbetrachtung vernachlässigen zu können glaubte, hat sich als deren konzeptionelles Defizit erwiesen. Wo Hegel aufgrund seines idealistischen Philosophieverständnisses glaubte, sich auf den Nachweis beschränken zu können, wann und wo es in der Geschichte vernünftig zugegangen ist, hat sich die "Dialektik der Aufklärung" als ein Hegel in negativen Vorzeichen entpuppt. Horkheimer und Adorno beschränken sich darauf, das Wirken einer historischen "Unvernunft" aufzudecken, die sich als Schattenseite der Aufklärung erweist. Die Vernunft wird für sich selbst so lange im toten Winkel verschwinden, wie sie nicht auch das Bewußtsein ihrer Grenzen und geschichtlichen Zerstörungsleistungen in sich aufnimmt. Geschichtsphilosophie heute wäre der Versuch, die historischen Bedingungen der Freiheit im Wissen um ihr destruktives Negatives zu erkunden. Ein solches geschichtsphilosophisches Bewußtsein kann sich jedoch erst dann einstellen, wenn man Hegel und die "Dialektik der Aufklärung" zusammen liest: Man sollte, aus geschichtsphilosophischer Sicht, weder allein Experte fürs Gelingen noch ausschließlich Spezialist fürs Mißlingen sein. Geschichtsphilosophie, die aus ihrer eigenen Geschichte lernen würde, hätte beide Perspektiven ineinander zu blenden: Von Hegel ist zu erfahren, daß Geschichte eine Erzählung vom Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sein darf, während bei Horkheimer und Adorno nachzulesen ist, auf welche Abwege die Vernunft dabei geraten kann.
Folglich ist das vermeintliche Ende der Geschichte nur ein Schluß, und zwar ein dialektischer: Geschichtsphilosophie ist weder allein eine Geschichte über vernünftige Freiheit noch allein eine Erzählung über unvernünftige Unfreiheit, sondern ein Bericht zur Lage der Menschheit, von der wir nunmehr wissen, daß sie schlicht zu allem fähig ist. Dies ist die einzige verläßliche Antwort auf die Grundfrage nach dem anthropologischen Fundament philosophischer Geschichtsbetrachtung: Dem Menschen ist schlicht alles zuzutrauen, nichts ist ihm fremd. Es kommt allein darauf an, welche Richtung er einschlagen will und wird. Die Geschichtsphilosophie hat genau hier und nur hier ein Wörtchen mitzureden. Mit dem durchaus pathetischen Ziel, Orientierung zu stiften, referiert sie, am Leitfaden von Freiheit und Vernunft, den bisherigen Stand der Dinge; und zwar selbst dann noch, wenn sich dieser Leitfaden in der historischen Nacht der Katastrophe zu verlieren droht. Wollte man sich an Kants Anthropologie anlehnen, so wäre von einer Geschichtsphilosophie "in pragmatischer Hinsicht" zu sprechen: Die Geschichtsphilosophie rekonstruiert nicht das, was die Geschichte aus dem Menschen macht, sie erzählt von dem, was der Mensch "aus sich selber macht, oder machen kann und soll".18
Blickt man noch einmal zurück, so lag dieser geschichtsphilosophische Schluß mit der "Dialektik der Aufklärung" bereits zum Greifen nahe, in der Folgezeit jedoch ist der Vermittlungsversuch einer in sich ambivalenten Vernunftgeschichte abgebrochen. Die Zunft geriet auf Abwege. Während die einen zur "Seinsgeschichte" überliefen, riefen andere voreilig das Ende aus, während dritte die Geschichtsphilosophie zur bloßen Wissenschaftstheorie der historischen Weltbetrachtung degradieren wollten. Die Geschichte selbst jedoch, verstanden als historischer Prozeß der Aneinanderkettung von Ereignissen, ging unverdrossen weiter. Die Geschehnisse kümmern sich ohnehin nur wenig um philosophische Bemühungen, ihnen begrifflich beizukommen. Daß die geschichtsphilosophische Erzählung einstmals einem roten Faden zu folgen hatte, bedeutet selbstredend nicht, daß auch der erzählte Prozeß einem solchen Faden folgen würde. Die Kontingenz der historischen Entwicklung kann nicht selbst schon durch ordnende Durchsicht beseitigt werden. Wie aber eine geschichtsphilosophische Vernunft auszusehen hätte, die heute an der Zeit wäre, ist weitgehend im Dunkeln geblieben. Auch Horkheimer und Adorno haben das offen lassen, ja, ihr berühmtes Buch später zunächst nicht einmal mehr auflegen wollen.19 Nicht zuletzt mag dies daran gelegen haben, daß die "Dialektik der Aufklärung" in einer ganz bestimmten Hinsicht eben doch unmittelbar und unterschwellig affirmativ das Erbe Hegels antritt.

5. Nachruf auf den Nachruf
Auch wenn Horkheimer und Adorno negative Heilsgeschichte schreiben, ihre Flaschenpost ist und bleibt Heilsgeschichte. Genau wie Hegel bleiben auch sie der jüdisch-christlichen Tradition verhaftet, indem sie auf das wie immer vorläufige Ende einer gerechten Welt hoffen, die der Barbarei unwiderruflich entronnen wäre. Auch wenn sie es nicht offen aussprechen mögen: Ihr exoterischer Pathos des aufgeklärten Mißlingens geht mit einem esoterischen Pathos mystischen Gelingens einher. Damit bleiben auch sie dem eschatologischen Diskurs treu. Eschatologisches Denken - ob ausdrücklich religiös oder aber quasi-religiös, d.h. geschichtsphilosophisch - ist von der Hoffnung getragen: Irgendwann, da wird die Menschheit notwendig in einen Zustand übergehen, in dem ihr endlich ein Ausruhen möglich sein wird. Diese Hoffnung selbst soll hier auch gar nicht verächtlich gemacht werden. Sie ist nur allzu verständlich. Der entscheidende Punkt ist vielmehr: Auch Horkheimer und Adorno, und zwar nicht weniger als Hegel, tendieren dazu, an eine "Logik" der Geschehnisse selbst zu glauben. Der roten Faden erzählter Geschichte wird an so mancher Stelle eben doch zum Leitfaden der historischen Ereignisse aufgebläht. Nur insofern ist und bleibt die "Dialektik der Aufklärung" verdeckte Eschatologie: Unterschwellig stellt auch sie eine Erlösung in Aussicht, freilich ohne diese genauer datieren zu können oder auch nur zu wollen. Damit erzeugt bzw. reproduziert sie im Leser eine Art zukunftsgewandte Heimwehspannung, deren Befriedigung sich zweifellos hinzuziehen droht. Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt dieses geschichtsphilosophischen Rückblickes angelangt: Eben diese, wie immer vage, Aussicht auf einen geschichtlichen Abspann - im Sinne finalen Abspannens - ist es, die im geschichtsphilosophischen Vorfeld für ungeheuer viel Stress sorgt.
Geschichte und Geschichtsphilosophie, so die These, leiden an einer ekklesiogenen Neurose. Sie kommen nicht los von der Idee einer Warte- und Zwischenzeit. Statt die Geschichte als einen offenen Prozeß zu begreifen, der menschengemacht und daher allein in "pragmatischer Hinsicht" zwar nicht zu prognostizieren, so doch zu rekonstruieren ist, läßt man angesichts dessen, was dem Menschen eines Tages blüht, alles bislang Dagewesene zur bloßen "Vorgeschichte" verblassen. Gerade weil auch sie an einen wie immer notwendigen Gang der Geschichte glauben, leisten Hegel sowie Horkheimer und Adorno der Debatte um das Ende der Geschichte letztlich doch einen nicht geringen Vorschub. Wie das zu verstehen ist? Der periodisch aufkommende Finaldiskurs muß als geschichtsphilosophisches Ermüdungssymptom, d.h. als Stressfolge unerfüllter Erwartungen gedeutet werden. Noch bevor der ersehnte Zustand des Ausruhens erreicht ist, macht die Geschichtsphilosophie schlapp. Wie Norbert Bolz einmal treffend bemerkt hat, gehen geschichtsphilosophische "Theorien der Müdigkeit" mit geschichtsphilosophischer "Theoriemüdigkeit" Hand in Hand.20 Man muß sehr große Energien aufwenden, will man Idealen treu bleiben, von deren Unhaltbarkeit man längst überzeugt ist. Das ermüdet nicht nur, die Erschlaffung bei der Theorieproduktion schlägt direkt in Theorien der Erschlaffung um. Es triumphiert der geschichtsphilosophische "Wille zur Ohnmacht".21
Schlimmer noch: Der Nachruf verkommt zur üblen Nachrede. Nicht die großen Geschichtsphilosophen, sondern deren kleingeistige Adepten neigen zum Prinzip "finaler Rettungsschluß". Müde und schlaff, wie sie sind, wollen sie aus den großen Erzählungen die Luft rauslassen. Weil ihnen die Phantasie ausgeht, betreiben sie einen geschichtsphilosophischen Übervatermord, der nur das eine Ziel verfolgt: das gesamte Unternehmen zu Grabe zu tragen. Der Abgesang auf die Geschichte tarnt nur den Abgesang auf die eigene ohnmächtige und orientierungslose Zunft. Das wiederholte Eingeständnis der eigenen Überflüssigkeit wird zum autogenen Mantra, das für Entspannung sorgen soll. Man spricht das Ende aus, noch bevor man in den Verdacht gerät, dabei gewesen zu sein. Hier gilt ein Satz von Odo Marquard: "Der eigentliche Ertrag der Kritik ist nicht die Kritik, sondern das Alibi!"22
Noch wo das Ende viel zu früh ausgerufen wird, damit es als Fetisch angebetet werden kann, bleibt geschichtsphilosophisches Denken dem alten eschatologischen Versprechen endloser Rast treu. Auch das finalistische Paradigma glaubt an eben jenen Tag, an dem der Stress endlich vorüber sein wird. Allerdings nimmt diese unterschwellige Heilserwartung im finalistischen Paradefall eine besonders merkwürdige Form an: Die vermeintliche Nähe des Gottesherrschaft wird zur Naherwartung der eigenen Auflösung, das göttliche Weltgericht zum selbstgerechten Selbstgericht der eigenen geschichtsphilosophischen Zunft. Das Theodrama schrumpft zum Egodrama. Das ist die viel beschworene "Säkularisierung der Geschichtsphilosophie". Einst glaubte die Geschichtsphilosophie, sich von religiösem Denken emanzipieren zu können. Als Gott im Sterben lag, trat die Geschichtsphilosophie dessen Erbe als universeller Sinnstifter an. Heute jedoch müssen wir erkennen: Schon die Religion ist Geschichtsphilosophie; und: Geschichtsphilosophie schlägt in Religion zurück.
Zu kritisieren ist die geschichtsphilosophische Tradition samt ihrer finalistischen, voreiligen Musterschüler aber nicht deshalb, weil sie auf Entspannung hofft, sondern weil ihre eschatologische Heilserwartung sie dafür blind macht, daß in der Eschatologie selbst die größte heillose Verwirrung liegt. Wer auf ein "Ende" zuarbeitet - und es sei daran erinnert: auch die Rede von der "Wiederkehr" tut dies - glaubt nicht mehr, daß die Geschichte ein spannendes Nachspiel haben könnte. Finalismus ist Fatalismus. Die weiterhin an Geschichte und Geschichtsphilosophie Interessierten läßt diese Erschlaffung ratlos zurück. Obwohl derzeit Unsägliches passiert, steht ihnen kein Geschichtsbild mehr zur Verfügung, das es ihnen ermöglichen würde, die Gegenwart zu datieren. Es ist, als habe die Geschichte keinen Fahrplan mehr: "Es geht zwar weiter voran, aber nicht hinauf."23 Es war zu früh, auf die Beerdigung der Geschichte zu gehen. Und es ist ebenso unangebracht, deren Auferstehung zu feiern. Denn sie ist nie unter der Erde gewesen. Noch wer von Wiederkehr spricht, weil er die Geschichte für einen Moment aus den Augen verloren hat, übersieht, daß er es lediglich mit einer Fortsetzung zu tun hat. Man darf mit Fug und Recht behaupten: Beide Fraktionen haben eben diese Fortsetzung verschlafen und es sich zumindest zeitweilig in der "Thanatokratie" (Michel Serres) gemütlich gemacht. Wir haben zu zeigen versucht: Nicht weniger als die Religion selbst folgt die Geschichtsphilosophie, und zwar selbst noch in ihren Abgesängen und Neuausrufungen, einem letztlich dramatischen Heilsverständnis. Damit jedoch Geschichtsphilosophie überleben kann, muß eben dieser eschatologische Zug zum Tor oder besser zum Toresschluß gehemmt werden. Die Geschichtsphilosophie, so lautet die Überzeugung, die hier abschließend angeboten werden soll, muß daran erinnert werden, daß sie in einer ihrer wichtigsten Phasen Kritik religiöser Endzeitstimmung war.
Nun wäre die hier angedeutete Hoffnung auf anti-ekklesiogene Selbstheilungskräfte der geschichtsphilosophischen Abteilung gar nicht weiter der Erwähnung wert, wenn nicht auch der Gegenstand der Geschichtsphilosophie einer heilsamen Ernüchterung bedürfte. Die historischen Geschehnisse unserer Tage stehen nämlich selbst unter klerikaler Kuratel. Man weist heut gern darauf hin, daß mit dem Jahr 1989 ein neues Zeitalter begonnen habe. Für die westliche Welt mag das stimmen. Weithin unterschätzt wird jedoch die Tatsache, daß erst der September 2001 die entscheidende globale Wende brachte. Die Utopie einer weltumspannenden Republik gleicher Weltbürger, an die man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus hat glauben dürfen, zerschellte, als am Himmel New Yorks zwei Flugzeuge auftauchten, die eine oft mißverstandene Botschaft im Frachtraum hatten. Der Kampf der Kulturen, den einflußreiche Politiker und Intellektuelle mit den Anschlägen auf das World Trade Center gekommen sahen, ist nicht etwa an der Grenze zwischen Okzident und Orient zu situieren. Der derzeit geschichtsphilosophisch entscheidende Grenzverlauf steht quer zu dieser kulturellen Front. Er trennt - auf der einen Seite - die an ein Heil im Jenseits glaubenden Anhänger sämtlicher monotheistischer Religionen dieser Welt und - auf der anderen Seite - jene säkularisierten Weltbürger, die noch immer auf ein zumindest menschenwürdiges Leben im Diesseits hoffen.
Die derzeit wichtigste Bedrohung für Vernunft, Freiheit und Menschenwürde heißt: Fundamentalismus - allerorten, und zwar selbst noch in den eigenen Reihen. Man kann es die Achse der Unverbesserlichen nennen: Sie verbindet Teheran mit Jerusalem mit Rom mit Washington. Über den islamischen Terror ist in der jüngeren Vergangenheit recht viel geschrieben worden. An den jüdischen traut sich die politische Zeitdiagnostik kaum heran. Der christliche Terror wird gerne historisiert oder aber übersehen.24 Noch zu wenig beachtet wird die Tatsache, daß auch das hegemoniale Weltmachtstreben der USA von einem sektenhaften Wahn befeuert ist: religiöses Seelen-Kidnapping in gottgefälliger Mission. Die Folgen dieser sich allerorts durchkreuzenden Kreuzzüge sind allzu bekannt: Kriege in Afghanistan und im Irak, zahllose weitere Bombenattentate, darunter jene wahllosen Morde in den Madrider Vorstadtzügen. Der religiöse Terrorismus ist dann total, ja, er kommt gewissermaßen "zu sich", wenn er überhaupt gar keine Unterschied mehr zwischen vermeintlich Verantwortlichen und mutmaßlich Unschuldigen macht; so wie das lange Zeit eine Art Ehrenkodex des politischen Terrorismus war. Im Dienste der religiösen Bruderliebe wird schlicht der - potentiell - Andersdenkende vernichtet. Doch soll es mir an dieser Stelle nicht in erster Linie darum gehen, die momentane Weltlage zu kommentieren. Zunächst sollen hier nur einige wenige der davon aufgeworfenen geschichtsphilosophischen Grundsatzfragen in den Blick genommen werden.
Der religiöse Fundamentalismus - und erneut ist hinzufügen: der Fundamentalismus gleich welcher Prägung, ob nun islamisch, jüdisch oder christlich - weist stets zwei charakteristische Merkmale auf: Zum einen liegt die unumstößliche Gewißheit seitens seiner Anhänger vor, daß allein sie von Gott die ganze Wahrheit übermittelt bekommen haben. Besessen davon, im Besitze eines privilegierten Wissens zu sein, sind sie notfalls zur gewaltsamen Verteidigung dieser göttlichen Wahrheit bereit. Zum anderen besitzen Fundamentalisten stets die nicht weniger gefestigte Überzeugung, daß dem säkularen, von allem religiösen Einfluß gereinigten Staat jegliche Legitimationsgrundlage fehlt. Wenn Gott allein Stifter der Wahrheit ist, dann muß jeder Staat, der auf Gottes Segen verzichtet, gottlos und verloren sein. Für den Fundamentalismus bilden göttliche und weltliche Macht letztlich doch ein unauflösliches Amalgam. Man mag nun einwenden, die derzeitige Gefährlichkeit religiöser Weltanschauungen gehe allein von fundamentalistischen Glaubensbrüdern, nicht schon von jedem Gläubigen aus. Tatsächlich fällt es gemäßigten Glaubensbrüdern in der Regel leicht, fanatische Exzesse öffentlich anzuprangern: "Der Islam verbietet Selbstmordattentate", "Das Christentum lehnt den Krieg ab", etc. Als sei dies in einer zivilisierten Welt nicht ohnehin selbstverständlich.
Doch mag man zweifeln, ob es sich die Religionsgemeinschaften derart einfach machen können. Sie alle sollten ein Wort von Amos Elon im Ohr behalten: "Haß ist oft eine andere Art zu beten."25 Die in diesem Zusammenhang entscheidende und bislang weitgehend unbeantwortete Frage lautet: Klafft zwischen radikalen und gemäßigten Moslems, zwischen fundamentalistischen und friedfertigen Christen, zwischen orthodoxen und weltlichen Juden tatsächlich ein so sicherer Abgrund? Oder haben wir es hier nicht doch mit weithin fließenden Übergängen zu tun? Bei allen interkonfessionellen Absichtserklärungen und Toleranzangeboten auf der rhetorischen Oberfläche des multikulturellen Dialogs: Es ist und bleibt anzunehmen, zumindest was die drei genannten monotheistischen Religionen angeht, daß sie alle im Kern exklusiv eingestellt sind. Erstens fühlen sie sich den jeweils anderen Glaubensgemeinschaften überlegen und zweitens verdammen sie den Nicht-Gläubigen. Man hat ihnen die Religionsfreiheit geschenkt, aber sie selbst wollen diese nicht anerkennen. Damit liegt ein Generalverdacht auf der Hand, der von der Kritik religiösen Terrors über die Kritik weniger fundamentalistischer Religionspraktiken letztlich zu dem grundlegenden Zweifel zu führen hätte, ob nicht die Religiosität des Menschen als solche ein Problem für die Ideen Vernunft, Freiheit und Menschenwürde darstellt. An dieser Stelle wäre eine Buchempfehlung auszusprechen: Statt Samuel P. Huntington sollten sich die Amazon-Kunden dieser Welt ruhig einmal die religionskritischen Frühschriften von Karl Marx bestellen.

6. Am Ende ein Prolog
Marx, der große Kritiker des aufkommenden Kapitalismus, ist in seinen jungen Jahren von einem zweiten Thema mindestens ebenso gefesselt gewesen. Gemeint ist das Verhältnis oder besser Mißverhältnis zwischen menschlicher Emanzipation und menschlicher Religiosität. Für Marx stand außer Zweifel, daß die Religiosität des Menschen eine der letzten Hürden auf dem Weg zu dessen Befreiung darstellt. Der monotheistische Glaube ist nichts anderes als ein, wenngleich verständlicher, Reflex auf den ernüchternden Umstand, daß das Leben im sogenannten Diesseits voller Elend und Mühsal ist. Der Mensch schuf sich die Religion, um mit der Vorstellung von einem paradiesischen Jenseits eine Art Fluchtpunkt oder finale Vision parat zu haben, die das Leid der wirklichen Welt zu legitimieren, zumindest aber darüber hinwegzutrösten vermag. Marx hat hier bekanntlich so etwas wie einen Drogenrausch vor Augen, eine eschatologische Dröhnung, die als solche vermutlich gar nicht weiter bedenklich wäre, würde sie dem Menschen nicht vollends den Blick dafür trüben, daß der Gang der Welt mit all ihrem Elend eben doch nicht gottgewollt, sondern menschengemacht und daher veränderbar ist. Der Glaube an ein höheres Wesen, das die Geschicke des Menschen lenkt, entbindet diesen auf fahrlässige Weise von der Verantwortung für sein eigenes Schicksal und liefert ihn so der willkürlichen Macht kontingenter politischer Kräfteverhältnisse aus. Der selbstverschuldet unmündige Mensch beraubt sich damit eigenhändig der Möglichkeit, sich in selbstverantwortlichen Taten als ein autonomes, zur historischen Veränderung fähiges Wesen zu erfahren und auf diesem Wege zu Freiheit, Selbstachtung, ja, zu Würde zu gelangen. Halten bis heute zahlreiche Philosophen und Kirchenvertreter an der Überzeugung fest, daß die Idee der Menschenwürde ohne Bezug auf einen göttlichen Grund gar nicht zu haben sei, so laufen die Überlegungen, die Marx vor weit mehr als 150 Jahren angestellt hat, auf die diametral entgegengesetzte Ansicht hinaus: Wahre menschliche Würde ist allein ohne die Religion zu haben. Denn die Religion selbst hält den Menschen am Boden: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."26
Der hier von Marx im Anlehnung an Kant formulierte Imperativ ist Absage an jenseitige theologische Heilsversprechen. Das ganze Ausmaß herrschenden Leidens wird durch Religion bloß ideologisch übertüncht, verbrämt und, was das schlimmste ist, gerechtfertigt. Die ins Jenseits zielende Heimwehspannung geht mit diesseitigem Fatalismus und nahezu depressiver Widerstandslosigkeit Hand in Hand: "Der Mensch", so heißt es an anderer Stelle, wurde "nicht von der Religion befreit. Er erhielt die Religionsfreiheit."27 Gerade heute macht uns die maßlose Mißachtung von Vernunft, Freiheit und Menschenwürde von Seiten religiös motivierter Attentäter im Umkehrschluß auf das aufmerksam, was die Realisierung menschenwürdigen Lebens erforderte. Solange es ein höheres, über dem Menschen stehendes Wesen gibt, werden fanatische Glaubensanhänger ihm Opfer bringen wollen, um sich für eine bessere Welt im Jenseits zu qualifizieren. Und wenn die Religionen dieser Welt die eigene Destruktivität nicht zu ergründen vermögen, wird deren Exklusivität weiterhin in menschenverachtende Exklusion, wird Beten in Bomben umschlagen. Solange sich der Mensch den Blicken eines mal strafenden, mal gütigen, stets aber über ihm stehenden Gottes ausgesetzt fühlt, wird er den eigenen Blick demütig zu Boden richten und sich dabei auf Dauer das Rückgrat verbiegen. Entgegen landläufigen Meinungen ergibt sich der "aufrechte Gang", der für ein Leben in Würde charakteristisch wäre, nicht aus dem Irrlauben an die eigene Gottesebenbildlichkeit. Er ist das spezifisch soziale Resultat einer wechselseitigen Achtung aller als gleichermaßen wertvoll. Nicht Gott, sondern der jeweils nächste Mensch ist, was die eigene Selbstachtung und Würde angeht, das Maß aller Dinge.
Marx hat zu Recht gesehen: Die Religion kann nicht aufgehoben werden, ohne sie zu verwirklichen. Und umgekehrt: Die Religion kann nicht verwirklicht werden, ohne sie aufzuheben. Der Mensch muß seinen Glauben, keinesfalls aber seine Hoffnung verlieren. Wer nicht weiß, wie das möglich sein soll, dem darf eine Prise Kitsch unter die Nase gerieben werden, denn es führt ein direkter Weg von Karl Marx zu John Lennon: "Imagine thereÂ’s no heaven. ItÂ’s easy if you try. No hell below us. Above us only sky". Gemeint ist ein säkularisierte Himmel. Aus "heaven" wird "sky". Wir sind dazu aufgefordert, uns diesen unbewohnt vorzustellen. Wir sehen Wolken, nichts als Wolken. Manchmal noch ein Flugzeug. Manchmal zwei. Während man lange Zeit im Anschluß an den älteren Marx davon ausgehen wollte, daß der Kapitalismus notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zum Sozialismus sei, so hätte man heute mit dem jüngeren darüber nachzudenken, ob nicht die Religion bloß notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur menschenwürdigen Gesellschaft ist. Sicher, die Menschheit hat den Religionen viel zu verdanken; nicht zuletzt einen bedeutenden Universalisierungsschub im Hinblick auf die Idee der Menschenwürde. Als Weltbürger jedoch müssen wir die Religion hinter uns lassen; sie abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut. In der Zwischenzeit wird der Mensch weiterhin demütig den Kopf zu Boden neigen und aus anatomischen Gründen nicht nur zum "aufrechtem Gang" unfähig sein, sondern auch den jeweils anderen übersehen müssen.
Dieser geschichtsphilosophische Hilferuf schallt umso dringlicher, als heute bereits von einflußreicher Seite die "postsäkulare Gesellschaft" ausgerufen wird. Das Präfix post zeigt an, daß auch hier zu einer Wiedersehensfeier geladen wird. Im linksliberalen Rahmen soll für einen entspannteren Umgang mit dem Phänomen Religion geworben werden. Man glaubt erkannt zu haben, daß der Gesellschaft wichtige Bindungskräfte fehlen, wenn ihr das Übersinnliche abhanden kommt. Da der freiheitliche säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, hofft man auf bedingte, d.h. nicht-fundamentalistische Gläubigkeit und kauft sich dabei am Ende doch zu viel ein. Daher, so läßt Marx sich auf den neuesten Stand bringen, muß die Kritik der Geschichtsphilosophie heute mit der Lehre enden, daß geschichtsphilosophisches Denken gegenüber dem religiösen das höhere Wissen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Theoriegebäude umzuwerfen, in denen der Mensch letztlich als ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen vorgestellt wird.
Kommen wir zum Schluß: Die Rede von Ende und Neuanfang der Geschichte bzw. der Geschichtsphilosophie ergibt einzig Sinn als Absage an deren leere Versprechungen. Die Geschichtsphilosophie darf sich jedoch nicht gänzlich zurückziehen und damit erneut der Religion das Feld überlassen, die treffsicher hinter den einmal erreichten Stand kritischen Denkens zurückfällt, indem sie das Diesseits verneint und an ein Heil im Jenseits glaubt. Selbst noch jene Finalisten, die die vermeintliche Vorgeschichte des Nachgeschichtlichen hinterrücks in ein bereits eingetretenes Ende umdichten wollen, um endlich ausruhen zu dürfen, übersehen, daß die nahe Zukunft keineswegs Erlösung bringen wird. Eschatologisches Denken jeder Art zwingt den Menschen dazu, auf gänzlich unabsehbare Zeit auszuhalten und abzuwarten. "Aber die Welt muß vorwärts", sagt Nietzsche, "nicht erträumt werden kann jener ideale Zustand, er muß erkämpft werden". Die hier erzwungene Konfrontation zweier geschichtsphilosophischer Untoter - Hegel und "Dialektik der Aufklärung" - sollte eben diese Einsicht vorbereiten: Der Fortschritt der Ideen Vernunft, Freiheit und Würde wird sich kaum von selbst ergeben. Und die einzige Erlösung, von der Geschichtsphilosophie heute träumen sollte, das ist die Erlösung von "jenem mißverständlichen Eulen-Ernste", der, dies galt es hier festzuhalten, selbst noch durch die dunkle Nacht Horkheimers und Adornos fliegt.
Geschichtsphilosophie heute, das wäre eine historisch-rekonstruktiv verfahrende Bestandsaufnahme des menschenwürdigen Lebens. Die Ideen von Vernunft, Freiheit und Menschenwürde sind das einzige, was die Geschichtsphilosophie dem religiösen Fundamentalismus unserer Tage und übrigens auch der quasi-religiösen Verheißungsideologie des globalisierten Kapitalismus entgegenzusetzen hat.28 Diese Ideen mögen abendländischen Ursprungs sein und heute eben dafür von vielen Seiten gescholten werden. Doch sie haben sich auch hier keineswegs von selbst ergeben. Sie mußten erkämpft werden, sind das Ergebnis historischer Unrechtserfahrungen. Es gilt also: Vernunft, Freiheit, Menschenwürde? Auch im Westen etwas (relativ) Neues! Wer im Zuge der postmodernen Einheitskritik an den großen Erzählungen auch noch diese Ideen mit in den Orkus schicken will, dürfte nicht viel von ihnen und ihrer weltweiten Dringlichkeit verstanden haben. Es mögen tatsächlich große Erzählungen sein, aber sie unterscheiden sich von vielen anderen Geschichten dadurch, daß sie sich an alle richten. Ihr nachhaltig offenes Ende liegt in den Händen eines jeden. Wer aber grundsätzlich eine Aversion gegen das Erzählen von Geschichten hat, der sollte sich ein anderes Fach suchen.
Mit Blick auf die 11. Feuerbachthese hat Odo Marquard einst der geschichtsphilosophischen Zunft das folgende ins Poesiealbum geschrieben: "Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen."29 Zu Recht spricht Marquard eine Warnung vor neuerlichen Heilsversprechen aus. Aus deren, wenn nicht totalitären, so doch depressiven Nebenwirkungen hat die Geschichtsphilosophie zu lernen. Dennoch behält ebenfalls Gültigkeit, was Adorno einige Jahre zuvor, auch mit Blick auf die 11. Feuerbachthese, notiert hatte: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."30

Anmerkungen
* In memoriam Dietmar Kamper.
1 Dazu hier nur ein Beispiel des soziologischen Mainstreams: Ralf Dahrendorf: Der Wiederbeginn der Geschichte, München 2004.
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.
3 Siehe dazu auch die Vorrede zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1989.
4 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 23.
5 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., S. 24.
6 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 524.
7 Dazu auch Charles Taylor: Hegel, Frankfurt a.M. 1978, besonders 4. Teil.
8 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 534f.
9 Zu dieser Debatte insgesamt siehe Lutz Niethammer: Posthistoire, Reinbek 1989.
10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Weltgeist zwischen Jena und Berlin. Briefe (hg. von Hartmut Zinser), Frankfurt a.M. u. Berlin 1982, S. 58.
11 Zitiert nach Niethammer: Posthistoire, a.a.O., S. 77.
12 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988.
13 Ebd., S. 6.
14 Ebd., S. 3.
15 Ebd., S. 273.
16 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1992, S. 312.
17 Alfred Seidel: Bewußtsein als Verhängnis, Bonn 1927. Erinnert sei hier auch an das großartige Gedicht Erich Kästners mit dem Titel "Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?"
18 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: Werke, Bd. 10, Darmstadt 1983, S. 399f.
19 Siehe dazu auch das Vorwort zur Neuauflage des bis zum Jahre 1969 überwiegend nur als Raubkopie kursierenden Buches.
20 Norbert Bolz: "Theorien der Müdigkeit - Theoriemüdigkeit", in: Telepolis, Nr. 3/1997.
21 Niethammer: Posthistoire, a.a.O., S. 158ff.
22 Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973, S. 183, Fn. 28.
23 Dazu Peter Sloterdijk: "Nach der Geschichte", in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, Weinheim 1988.
24 Wenn einer der beiden ranghöchsten Kirchenvertreter unseres Landes auf den Schrecken der südpazifischen Flutwelle im Dezember 2004, die ja nachweislich eine Naturkatastrophe, nicht ein durch Menschenhand verursachtes Unglück gewesen ist, mit der Mahnung reagiert, der nach Allmacht strebende Mensch solle daraus lernen, wieder mehr Demut gegenüber der Natur zu zeigen, dann offenbart sich hinter der Maske christlicher Nächstenliebe eine letztlich zynische, ja, menschenverachtende Fratze.
25 Amos Elon: "Die mißbrauchte Stadt", in: Die Zeit, Nr. 42, 2001.
26 Karl Marx: "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung", in: MEW, Bd. 1, S. 385.
27 Karl Marx: "Zur Judenfrage", in: Ebenda, S. 369.
28 Auch der westliche Kapitalismus offenbart alle Anzeichen einer Religion, ja, er ist säkulare Religion: Er duldet keine Alternative ("Geh doch rüber!"); er hat ein höchstes Wesen, dem er huldigen kann (das Geld); es herrschen klare Glaubenssätze (die Gesetze des Marktes); er transportiert ein eschatologisches Heilsversprechen (Freiheit und Wohlstand für alle); sogar ein Gotteshaus ist vorhanden (Börse). Der Kapitalismus sollte daher in die Reihe der zum Fundamentalismus neigenden, monotheistischen Glaubensgemeinschaften aufgenommen werden.
29 Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, a.a.O., S. 13.
30 Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., S. 15.

Dr. Arnd Pollmann, Philosoph, Berlin