Zensur an der Deutschen Richterakademie

in (05.09.2005)

Im idyllischen Bückeburg gibt es ein kleines Landgericht, mit dem Präsidenten Friedrich Adolf von Oertzen an der Spitze. Dort wurde Anfang 2005 die Wanderausstellung "Justiz im Nationalsozialismus".

... gezeigt. Sie bricht mit der Verdrängungsmentalität und bezieht auch die täterfreundliche strafrechtliche Aufarbeitung nach 1945 ein. Eine besonders interessante Ausstellungstafel beschäftigt sich mit dem Fall des vom Sondergericht in Leslau wegen "Begünstigung des Weltjudentums" zum Tode verurteilten Bauern Michael Götz. Der hatte einige Juden im Pferdewagen mitgenommen, ohne damit gegen irgendwelche Strafgesetze zu verstoßen. Wegen der zahlreichen juristischen Mängel des Urteils hatte im Reichsjustizministerium selbst Roland Freisler eine Begnadigung erwogen. Unter Hinweis auf die Notwendigkeit der Bekämpfung des "Weltjudentums" vereitelte Oberstaatsanwalt Alfons Bengsch in Leslau die Begnadigung.

Wegen der besonders schwerwiegenden Rechtsbeugung kam die bundesdeutsche Justiz nicht umhin, im Jahre 1966 gegen den inzwischen in Rinteln (Landgerichtsbezirk Bückeburg) als Rechtsanwalt tätigen Bengsch ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Das dauerte 14 Jahre, bis es 1980 von der Staatsanwaltschaft Bückeburg eingestellt wurde. Die Begründung lautete: Bengsch habe sich nicht anders verhalten als ein "Staatsdiener, der der Staatsführung loyal und treu ergeben war". Auch könne ihm subjektiv kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er "in einer Zeit, in der vom deutschen Volke täglich an der Front ein hoher Blutzoll verlangt wurde, dem Leben des einzelnen Menschen allgemein einen geringeren Wert beigemessen" habe. Ohnehin sei beim Sondergericht in Leslau "die Todesstrafe (Â…) die am häufigsten verhängte Strafe" gewesen. Die letztere Feststellung trifft zu, die meisten Todesstrafen hatte Bengsch selbst beantragt. Ausgerechnet an der Ausstellungsstation Bückeburg wurde der spektakuläre Fall Bengsch ausgespart. Der mit der Auswahl der Ausstellungstafeln befaßten Vorbereitungsgruppe gehörte auch Friedrich Adolf von Oertzen an.

Obgleich von Oertzen früher nie besonderes Interesse an diesem Thema gezeigt hatte, meldete er sich im Jahre 2005 überraschend zur Teilnahme an der Richterfortbildungstagung zur NS-Justiz in der Deutschen Richterakademie Wustrau. Genau so überraschend überreichte er bei Tagungsschluß dem Tagungsleiter Bartold Busse, Richter am Verwaltungsgericht Köln, eine "Dankesurkunde mit Dank und Anerkennung Â… für den besonders schweren Einsatz als Leiter der Tagung". Die "Urkunde" glich äußerlich einem Meisterbrief. An den Rändern mit den Wappen der Bundesländer geziert, war sie mit einem Dienststempel ("Der Präsident des Landgerichts Bückeburg") versehen. Letzteres war unzulässig, denn Dienststempel dürfen nicht zu dienstfremden Zwecken benutzt werden. Auf die skurrile - oder gar ironisch gemeinte - Art der Dankesbezeugung läßt sich aber vielleicht doch ein Reim machen. Denn wenige Tage darauf fragte von Oertzen im hannoverschen Justizministerium an, ob das Land Niedersachsen es denn nötig habe, seine Tagungsleiter aus anderen Bundesländern zu holen. Seitdem ist Busse nicht mehr als Tagungsleiter vorgesehen.

Dazu muß man folgendes wissen: Die Deutsche Richterakademie ist eine gemeinsame Einrichtung des Bundes und aller Bundesländer. Für die einzelnen Tagungen ist jeweils ein Bundesland zuständig. Referenten und Teilnehmer kommen aus allen Bundesländern. Und selbstverständlich ist es seit jeher üblich, daß sich die Länder bei der schwierigen Suche nach einem fachlich qualifizierten und wissenschaftlich ausgewiesenen Tagungsleiter nicht auf das eigene Personal beschränken.

Der hinter der Ablösung Busses und eines weiteren Tagungsleiters stehende Richtungswechsel lenkt den Blick auf die Entstehung der Tagungen vor einem Vierteljahrhundert zurück. Bis dahin hatte von den vielen Hunderten von Richtertagungen keine einzige in auch nur einem einzigen Vortrag die Verbrechen der NS-Justiz und die Ursachen zum Gegenstand gehabt. Deshalb forderte eine Gruppe jüngerer Richter und Staatsanwälte, die sich um den Braunschweiger Richter Helmut Kramer gebildet hatte, im Jahre 1980 in einer Resolution und einem an alle Landesjustizverwaltungen gerichteten Brief, die NS-Justiz zum Gegenstand der Juristenausbildung und -fortbildung zu machen. Das veranlaßte den damaligen Fortbildungsreferenten im niedersächsischen Justizministerium, Manfred Endler, der Programmkonferenz der Richterakademie eine Tagung zur NS-Justiz vorzuschlagen, unter Federführung des Landes Niedersachsen. Und so beschloß die Programmkonferenz. Aber dem Staatssekretär im niedersächsischen Justizministerium, Friedrich Rehwinkel, mißfiel das Vorhaben. Endler mußte seinen Vorschlag zurückziehen und durch eine Tagung "Kunst und Recht" ersetzen. Nun blieb Helmut Kramer und seinen Freunden nichts anderes übrig als der Gang an die Öffentlichkeit. Nicht ohne Mühe gelang es, die Presse für das scheinbar entlegene Thema Richterfortbildung zu interessieren. Schließlich griff aber auch die überregionale Tagespresse das Thema auf. Selbst die Londoner Times stellte die Frage, warum den deutschen Richtern noch immer nicht der Blick in die Vergangenheit erlaubt sei. Doch das niedersächsische Ministerium blieb standfest: Bei der Knappheit der Haushaltsmittel gebe es wichtigere Themen für die Richterfortbildung. Erst als der damalige Bundesjustizminister Schmude sich bereit erklärte, notfalls die Tagung auszurichten, und nach einem Ministerwechsel in Hannover schwenkte das Ministerium um und kündigte die Tagung kurzfristig für Ende 1983 an.

Damit war die Sache entschieden - wie es schien. Denn der "Kampf um die Vergangenheit" (Bert Brecht) wurde fortan zwar nicht um das Ob, wohl aber um das erlaubte Maß der Aufarbeitung geführt.

Schon die erste Tagung im Dezember 1983 in Trier geriet zum Desaster. Anstelle wissenschaftlich ausgewiesener Referenten ließ man vor allem Gerichts-präsidenten und Generalstaatsanwälte mit Vorträgen aufmarschieren. Der Präsident des Oberlandesgerichts Celle, Harald Franzki, versuchte, die Zahl der in Auschwitz ermordeten Juden herunterzurechnen. Das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener und der Häftlinge im Konzentrationslager Bergen-Belsen führte er auf Versorgungsschwierigkeiten zurück. Der Berliner Leitende Oberstaatsanwalt Gerhard Spletzer stellte gar Teile der Rechtsprechung des NS-Volksgerichtshofs als durchaus rechtsstaatlich hin.

Auch bei der Auswahl der Tagungsteilnehmer war man darauf bedacht, Störenfriede fernzuhalten. Für den Fall, daß unangemeldete Gäste zu einzelnen Vorträgen erscheinen sollten, wollte der Direktor der Richterakademie von seinem Hausrecht Gebrauch machen.

In den folgenden Jahren verschonte man die Teilnehmer zwar mit solchen Peinlichkeiten. Doch blieb man weiterhin darauf bedacht, die Aufarbeitung nach 1945 und damit die Frage nach der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz und nach personellen und vielleicht inhaltlichen Kontinuitäten auszuklammern. Renommierte Wissenschaftler wie Professor Ingo Müller (Autor von "Furchtbare Juristen") galten als personae ingratae.

Zu einer Änderung kam es erst 1990, nach Bildung der rot-grünen Regierungskoalition in Niedersachsen. Zum ehrenamtlichen Tagungsleiter wurde nun Helmut Kramer bestellt. Mit Unterstützung fachlich kompetenter Referenten verschaffte er der Tagung ungeteilte Anerkennung in Richterkreisen, gleich welcher politischen Couleur. Die alljährlich stattfindende Tagung war stets überbucht, auch nachdem eine über die DDR-Justiz und dann noch eine zur Justizgeschichte der Bundesrepublik hinzugekommen waren.

Vielleicht gerade deshalb wurden die Veranstaltungen argwöhnisch beobachtet. Die dritte Tagung wurde bald durch eine persönliche Intervention des hessischen Justizministers Christean Wagner (CDU) verboten. In Niedersachsen gelang es 1996 einem dem Gedankengut des Wochenblatts Junge Freiheit nahestehenden Referenten der Landeszentrale für politische Bildung, die auf Landesebene stattfindenden Tagungen für Rechtsreferendare an sich zu ziehen und in seinem rechtskonservativen Sinn umzugestalten. Zu den bevorzugten Referenten dieses (nach rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Hannover) "bekennenden Vertreters der Neuen Rechten" gehörte Professor Hans-Hellmuth Knütter, der die berühmte Weizsäcker-Rede "zu den widerwärtigsten Begleiterscheinungen des Jahres 1985" zählt.

So war es schon fast voraussehbar, daß es nach dem Regierungswechsel in Niedersachsen im Jahre 2003 zu einem Richtungswechsel auch in der Richterfortbildung kommen würde. Überraschend ist nur die Rigorosität, mit der die niedersächsische Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann, wohl auf Betreiben des schon erwähnten Beamten der inzwischen aufgelösten Landeszentrale für politische Bildung, das Rad bis in das Jahr 1983 zurückzudrehen versucht.

Gleichzeitig mit der Ablösung des bewährten Tagungsleiters Busse wurde auch der Koordinator des ganzen Unternehmens und Leiter der zweiten Tagung ("Deutsche Justizgeschichte nach 1945"), Helmut Kramer, entlassen. Dies offenbar gegen den Vorschlag der Fortbildungsreferentin. Die hatte ihn nämlich noch kurz zuvor mit großem Dank für seine Verdienste gebeten, dem Ministerium auch in Zukunft bei der Ausgestaltung der Tagungen mit seinem "beeindruckenden Fachwissen zur Seite zu stehen".

Hinter der auf den ersten Blick unscheinbaren Personenfrage verbirgt sich eine grundsätzliche Umkehr bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Tagung. Das wurde schon bei der letzten noch von Kramer geleiteten Tagung vom 3. bis 13. August 2005 deutlich. Das Ministerium hatte nämlich unter Bruch mit allen Gepflogenheiten ohne vorherige Anhörung Kramers das mit der Fortbildungsreferentin fest abgesprochene Programm in mehreren Punkten geändert. Zu den RAF-Prozessen durfte nur ein damaliger Strafverfolger, der jetzige Stuttgarter Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger, vortragen, nicht aber der für ein Streitgespräch mit ihm vorgesehene Rechtsanwalt Klaus Eschen, einer der Verteidiger in den Prozessen. Auch das dem Tagungsleiter, wie üblich, zugestandene Referat wurde aus dem vereinbarten Programm gestrichen. Anscheinend werden manche Leute in Politik und Justizverwaltung von der Sorge umgetrieben, unabhängige Richter könnten sich des eigenen Verstandes bedienen.

Diese Sorge verursachte am Schluß der diesjährigen Tagung in Wustrau einen Eklat: Die Tagungsteilnehmer wollten von Kramer wissen, warum dies seine letzte Tagungsleitung sein sollte. Seine eigene Person herauszustellen, liegt ihm aber nicht. Darum versprach er, am vorletzten Abend statt dessen über die schwierige Entstehungsgeschichte der Tagungen zu berichten. Den Text dieses Vortrages ließ er sich von seiner Schreibkraft faxen. Das Fax wurde ihm vom Akademiesekretariat ausgehändigt. Am Vormittag vor dem Vortragsabend ließ ihn die Direktorin der Akademie zu sich bitten. Zu seiner Überraschung hielt sie eine Kopie des an ihn allein adressierten Faxes in der Hand. Sie erklärte ihm, die von den Teilnehmern gewünschte Vortrags- und Diskussionsveranstaltung könne nicht stattfinden, weil sie im Tagungsprogramm nicht vorgesehen sei. Auf die Frage, warum ausgewachsene Richter nichts über die ein Vierteljahrhundert zurückreichenden Anfänge der Tagung erfahren dürften, wollte sie sich nicht einlassen. Auch nicht darauf, daß auf Teilnehmerwunsch ad hoc eingeschaltete Vorträge, Podiumsdiskussionen und Dokumentarfilme in der Richterakademie seit jeher üblich waren und zu einer lebendigen, von den Teilnehmern mitgestalteten Fortbildung gehören. Weder das trotz Protestes der Richter und Staatsanwälte ausdrücklich ausgesprochene Hausverbot noch schlechtes Wetter konnten die Tagungsteilnehmer freilich daran hindern, abends geschlossen in ein Wustrauer Café umzuziehen, um sich dort über die 25-jährige Geschichte der Tagung zu informieren und über den Eklat zu diskutieren.

So beispiellos das nicht ohne Rückversicherung bei der Justizverwaltung ausgesprochene Hausverbot in der Geschichte der Deutschen Richterakademie auch ist, kann man der Zensurmaßnahme doch eine gewisse Folgerichtigkeit nicht absprechen: Die Fortbildung der Richter hat viel mit richterlicher Unabhängigkeit zu tun. Neben der Vermittlung von Fachwissen soll sie in aufklärerischer Absicht das Kritikvermögen der Richter stärken. Das gilt besonders für die sogenannten verhaltensorientierenden Tagungen der Richterakademie. Tatsächlich kann die Justizverwaltung die Tagungen auch als politisches Steuerungsinstrument benutzen, um Einfluß auf die Denkstrukturen der Richter zu nehmen. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen in Festreden wünschen sich die Justizminister eine pflegeleichte formierte Richterschaft. In einer Zeit der Sparzwänge, in der die Richter zu immer effektiverer, technokratischer Abwicklung der Verfahren gedrängt werden, ist der nachdenkliche Jurist unerwünscht. Unwillkommen sind deshalb Diskussionen über die Wechselwirkungen zwischen einer allzu selbstsicher praktizierten Rechtsfindungsmethode und Erwartungshaltungen der Politik. Die Frage nach der Wirklichkeit der richterlichen Unabhängigkeit und ihrer Bedrohung durch subtile Zwänge und Verlockungen ist deshalb nur selten Gegenstand der Tagungen. Zum Ärgernis konservativer Politiker werden die Veranstaltungen, wenn dort die Mentalität problematisiert wird, aus der heraus die Richter in den Jahren 1933 bis 1945, gelegentlich auch danach, von der ihnen selbst im Dritten Reich im Wesentlichen verbliebenen richterlichen Unabhängigkeit nur sparsam Gebrauch gemacht haben. Der Gefahr solcher selbstkritischen Betrachtungen möchte man mit einer Historisierung der Tagungsinhalte begegnen, also mit einer Darstellungsart, die es vermeidet, irgendwelche Bezüge zur Gegenwart herzustellen und die Richter womöglich zu selbstkritischem Nachdenken über ihr Berufsverständnis zu motivieren.

Und wer wird neuer Leiter der Tagungen? Es ist Friedrich Adolf von Oertzen.

Der Autor, ehemaliger Richter am Berliner Kammergericht, ist Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte, bei dem man unter www.forum-justizgeschichte.de den Text des verbotenen Vortrags abrufen kann.

erschienen in: Ossietzky 18/05