Rot-Grüne Genderpolitik

Bilanz im Fokus Neuer Menschenrechtsbewegungen

Auf Ansätze der Geschlechterpolitik mit Zukunftsperspektiven ebenso wie auf Defizite des politischen Rahmenverständnisses blickt Heike Weinbach.

Eine politische Bilanz wird nicht voraussetzungslos erstellt; darin liegen Bezugspunkte, Maßstäbe, Kriterien, das umgrenzte Wissen und die subjektiven Sichtweisen einer resümierenden Person. Im folgenden wähle ich einen radikalphilosophischen Zugang, mit dessen Denkhintergrund ich zugleich vom Standpunkt Neuer Menschenrechtsbewegungen aus eine Bilanz Rot-Grüner Genderpolitik konstruiere.1

Innovationskraft der Regierungspolitik

Während ihrer Regierungszeit haben die VorgängerInnen von Rot-Grün, die CDU und FDP, über 15 Jahre mehr oder weniger eine Geschlechterpolitik des Stillstands betrieben und im wesentlichen vorhergehende sozialdemokratische Frauenpolitik konserviert. Mit dem Regierungswechsel 1998 kamen AkteurInnen in Regierungsverantwortung, die in den Zeiten des Aufkommens und Erstarkens der Frauenbewegungen sozialisiert wurden, zum Teil selbst Aktive in diesen Bewegungen gewesen sind. Mit ihren und den Initiativen der Europäischen Union begann ein breit angelegter Transformationsprozess, in dem viele Forderungen und Politiken der Frauenbewegungen in Gesetzesinitiativen und Verwaltungspolitik des Staates verwandelt wurden. Dazu gehören unter vielen anderen Gesetzen, Initiativen, Veranstaltungen, Studien etc.: der Beschluss zur Umsetzung von Gender-mainstreaming 1999; das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz für den öffentlichen Bereich; das Lebenspartnerschaftsgesetz; ein umfassender Aktionsplan und Gesetze zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen; die Stärkung der Rechte von Prostituierten; die Flexibilisierung der Elternzeiten; zahlreiche Progamme zur Gleichstellung an Hochschulen; die Installierung von Gendernetzen und Genderkompetenzzentren; zahlreiche Studien zu Geschlechterungleichheiten, wie zum Beispiel die über ungleiche Entlohnung von Frauen und Männern.2 Auch wenn diese Maßnahmen im Einzelnen kritisiert werden können (z.B. die hartnäckige Weigerung der Gleichstellung lesbischer, schwuler Lebenspartnerschaften mit heterosexuellen Partnerschaften), so repräsentieren Quantität und Qualität dieser Beschlüsse eine neue Dimension von Geschlechterpolitik. Bemerkenswert ist auch, dass in der öffentlichen Repräsentation die Abkoppelung der Genderpolitik von Familienpolitik gelungen ist, auch wenn diese sich noch in einem Ministerium befinden. Sie werden aber vielfach getrennt verhandelt und das Profil von beiden Bereichen unterscheidet sich. Ein Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft, wie es beispielsweise in Österreich existiert, wurde nach wie vor nicht beschlossen. Gerechterweise bleibt dennoch festzuhalten, dass die Genderpolitik von Rot-Grün gemessen am Maßstab realer struktureller Veränderungen und Verschiebungen sowie der Bewusstmachung und Bekämpfung von Diskriminierungsstrukturen die bislang in der Geschichte der Bundesrepublik innovativste und weitreichendste Politik ist. Das Antidiskriminierungsgesetz hingegen, das Rot-Grün auf unverzeihliche Weise vernachlässigt, immer wieder hinausgeschoben und am Ende auf höchst problematische Weise reduziert hat, ließen Union und FDP in der Selbstaufgabephase der SPD-Grünen-Regierung kalt beerdigen.

Neue Bewegungen - neue Forderungen

Derweil die Forderungen und Aktionen der neuen Frauenbewegungen der siebziger Jahre - damals von vielen öffentlichen RepräsentantInnen bekämpft, verlacht, diskriminiert - nun zu einem beträchtlichen Teil in Staatspolitik transformiert wurden, haben sich außerhalb der Parlamente und Regierungspolitiken (alte) neue Bewegungen mit neuen (alten) Forderungen neu formiert. So sind auch die Frauenbewegungen in ihrem Selbstverständnis nicht mehr ohne weiteres Frauenbewegungen, sondern Teil der Neuen Menschenrechtsbewegungen3, die zuweilen auch als dritte Welle, dritte Generation, Multitude, Bewegung der Vielen benannt werden. Gemeint ist jedenfalls Ähnliches, alle jene, die sich als Vielfalt von Aktiven begreifen, an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen Projekten an der Herstellung von Anerkennung und sozialer Sicherheit arbeiten: also an Projekten der Demokratie, die bislang nicht zufriedenstellend oder gar nicht verwirklicht wurden.4 Dazu gehören auf der Ebene der Gender- bzw. Queerpolitik eine Vielfalt von unterschiedlichen Anerkennungsinitiativen, wie zum Beispiel: die vollständige Gleichstellung lesbischer und schwuler Lebensgemeinschaften mit der Ehe; Anerkennung der Vielheit von Sexualitäts- und Lebensformen (polysexuality politics); die Forderung nach freier Wahl des Geschlechts in den Anerkennungsbewegungen von Queer, Intersexen, Transgender, Transsexuellen und anderen5; Derridas Forderung der Vervielfältigung der Ehe: freie Wahl der PartnerInnen unabhängig von Zahl und Geschlecht.6 Diese Initiativen finden auf der Ebene des Parlaments, mit Ausnahme der Debatte um das Lebenspartnerschaftsgesetz, bislang keinerlei Repräsentation.
Gender-mainstreaming mit der unentwegten Fokussierung der Zweigeschlechtlichkeit, "Frauen und Männer", verstellt auch immer wieder den Blick auf die Bedeutung anderer Diskriminierungshintergründe: Klasse, Alter, Migration, andere Geschlechtsidentitäten, u.a. Gender-mainstreaming, immer wieder als offenes Konzept behauptet, böte durchaus die Möglichkeit, interkulturelle Perspektiven zu integrieren und in politisches Handeln umzusetzen. Dies hätte allerdings Konsequenzen für die Analyse von Machtverhältnissen: "Wird Gender-mainstreaming um queer und Interkulturalität erweitert, so bedarf das einer Idee von Gerechtigkeit, um Gleichstellung nicht nur zwischen Angehörigen des Mainstreams zu postulieren."7

Vielheit statt Einheit

In der Umsetzung von Gender-mainstreaming gehören Bürokratisierungsprozesse zum Programm. Dies hat zwar auch positive Effekte, wo Diskriminierungsstrukturen überhaupt einmal als strukturelle thematisiert und realisiert werden dürfen und können, zugleich besteht die Gefahr der Erstarrung in Verwaltungsakten. "Diese verhängnisvolle Reduktion des Politischen auf schiere Verwaltung (Â…)"8 ist deswegen ein sehr ernst zu nehmendes Problem, weil das Politische dabei verloren geht, das heißt, die lebendige Diskussion, das Verhandeln und die Akzeptanz unterschiedlicher Sichtweisen im öffentlichen Raum. Gender-mainstreaming wird mehr exerziert als diskutiert, denn letzteres würde heißen, dass ein politisches Konzept auch die Möglichkeit der vielfältigen, unterschiedlichen Umsetzung, des grundsätzlichen Umbaus im Austausch mit Argumenten offen hält. Ein neues, regierungsnahes Buch: "Was bewirkt Gender-mainstreaming?" zeigt, dass unterschiedliche Positionen, eine Vielfalt des Denkens im Prozess von Gender-mainstreaming nicht ernst genommen werden, die Vielfalt fehlt hier und kritische AutorInnen, problematische Erfahrungen, Scheitern kommen mit eigenen Stimmen nicht vor. Die Unterschiedlichkeit von Meinungen, das Nebeneinanderexistieren sehr unterschiedlicher Meinungen wird nicht als Qualität gesehen. So ist Barbara Stiegler der Auffassung: "Ein wesentlicher Grund für viele Kontroversen im Zusammenhang mit Gender/mainstreaming ist darin zu sehen, dass es noch nicht einmal eine einheitliche Definition des Konzeptes gibt, auf die sich alle beziehen können. Deshalb ist eine inhaltliche Debatte auch weiterhin wichtig."9 Ein Teil der Kritik entzündet sich jedoch genau daran, dass in einer sich auf Verwaltung reduzierenden Politik versucht wird, Einheit herzustellen und Vielfalt darin zu eliminieren, so dass unterschiedliche Stimmen in einem "alle" untergehen müssen.10
Was wir am Prozess der Umsetzung von Gender-mainstreaming und der Genderpolitik der amtierenden Bundesregierung beobachten können, ist eine tendenzielle Missachtung des Politischen als pluraler, offener Dialog. Diesen Angriff auf das Politische in unserem politischen Gemeinwesen hat die SPD/Grüne-Regierung leider auch betrieben, zuletzt in einer gegen Grundgesetz und Demokratie verstoßenden Inszenierung zum Zwecke von Neuwahlen. Zugleich ist dieser Abgangsversuch ein Spiegel des wirklichen Versäumnisses Rot-Grüner Politik: Demokratische Prozesse des Politischen zu öffnen, die Stimmen der Vielen und die Ideen der Vielen zu hören und zu respektieren, kurz dialogische Politik mit Subjekten zu machen. Dieses Politische findet dennoch auf bemerkenswert anarchische Weise statt, tagtäglich in vielen sich immer wieder neu formierenden Initiativen und Projekten: Millionen von Igeln sind unterwegs, die immer schon im lebhaften politischen Dialog da sind, wenn die Hasen ankommen und zum Dialog eingeladen werden.

Anmerkungen

1) Unter Radikaler Philosophie verstehe ich hier: "Radikale Philosophie zielt Â… darauf, eine radikal demokratische Politik von der Gefahr ihrer Umfunktionierung zu einer Herrschaftsaffirmation im Dienste bestimmter Herrschender Â… zu befreien. Radikale Philosophie will die Stimmen der Vielen zur Artikulation befähigen, ohne sie von vorneherein als ‚Massen‘ zu konstruieren"; vgl. Frieder Otto Wolf: Radikale Philosophie, Münster 2002, S.44f.

2) Die Webseiten www.bmfsfj.de/Politikbereiche/gleichstellung.html sowie: www.gender.mainstreaming.net geben einen Einblick in alle Gleichstellungsaktivitäten. Die Drucksache 15/5059 des Deutschen Bundestages v. 5.3.2005 zeigt einen guten Überblick über die durchgeführten Gesetze, Initiativen sowie die Vorhaben der regierenden Parteien.

3) Vgl. Ute Gerhardt: Neuer Feminismus. Identisch? Gleich! Die Wochenzeitung: www. woz.ch/artikel/2005/nr09/wissen/11473.html [3.3.2005].

4) Die AkteurInnen, die Vielen, sind keineswegs einfach im außerparlamentarischen oder NGO-Bereich zu finden. Sie können überall sein, in den Institutionen von Politik, Wirtschaft, in kleinen Unternehmen ebenso wie in losen Gruppierungen, Initiativen, Clubs, Zusammenschlüssen, Parteien etc. Ebenso sind die Neuen Menschenrechtsbewegungen nicht jenseits des Bürokratischen, auch sie bedürfen infrastruktureller Operationen ebenso wie Finanzierungen und Organisation.

5) Gudrun Perko zeigt in ihrem neuesten Buch (Queer-Theorien - Ein Plädoyer für Pluralität und Anerkennung. Über ethische, politische und logische Dimensionen des plural-queeren Denkens, Köln 2005) u.a., wie eminent politisch diese Forderungen sind und welche enorme Bedeutung eine reale politische Anerkennungspraxis der Vielheit von Geschlecht für eine menschenrechtsbezogene Freiheitspolitik hat.

6) Jacques Derrida im Interview mit Jean Birnbaum: Das Leben, das Überleben. Vom Ethos des Denkens und von der Chance des europäischen Erbes. In: Lettre International, Herbst 2004, S. 12.

7) Leah C. Czollek: Gender-mainstreaming aus queerer und interkultureller Perspektive. In: Leah C. Czollek/Gudrun Perko: Lust am Denken. Queeres jenseits kultureller Verortungen, Köln 2004, S. 88.

8) Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 369.

9) Barbara Stiegler: Die Kontroversen um Gender Mainstreaming. In: Ute Behning/Birgit Sauer (Hg.): Was bewirkt Gender-mainstreaming? Evaluierung durch Policy-Analysen, Frankfurt, New York 2005, S.41

10) Vgl. Heike Weinbach: Über die Kunst, Begriffe zu fluten. Die Karriere des Konzepts "Gender Mainstreaming". In: Forum Wissenschaft Nr. 2, April 2001, S. 6-10.

Dr. Heike Weinbach ist freie Philosophin: www.philopraxis-mediation.de.

Aus: Forum Wissenschaft 3/2005