"Aktivierende Hilfe" Zu Ideologie und Realität eines sozialpolitischen Stereotyps

Der Artikel basiert auf vorbereitenden Arbeiten zu einem Streitgespräch zum Thema "Aktivierende Hilfen zwischen Eigenverantwortung und Sozialdarwinismus", das an der FH Koblenz geführt wurde ...

"Die Zeit kommt, in der Schweigen Verrat ist. Wir sind gefordert, für die Schwachen zu sprechen, die keine Stimme haben: für die Opfer unserer Nation, die sie ›Feinde‹ nennt."]
(Martin Luther King)

"Wer inmitten einer um sich greifenden sozialen Aphasie nicht mehr in der Lage ist, für sich zu sprechen, weil ihm im entscheidenden Augenblick nur noch das intermedial vermarktete Schlagwort einfällt, der ist zur politischen (...) Willensbildung nicht mehr fähig und stellt als indifferenter, manipulierbarer Wechselwähler oder Konsument eine Gefahr für die Demokratie dar."
(Peter V. Zima)

Wer heute zu einer Wortmeldung zum Thema "aktivierende Hilfe" sich aufgrund der darob geführten Diskussion aufgefordert sieht, hat zu vergegenwärtigen, daß diese Diskussion eingespannt ist in jenen größeren Diskurs, der in Politik und Wissenschaft unter dem Begriff "aktivierender Sozialstaat"1 stattfindet und der auf die allseits bekannten Finanzierungs- und Steuerungsprobleme des Sozialstaates mit der Formulierung geeigneter Lösungen zu antworten versucht 2. Geleitet wird dieser Diskurs von dem sozialpolitischen Stereotyp, daß die durch den Sozialstaat beziehungsweise Soziale Arbeit geleistete Hilfe unwirksam sei und den Status scheinbarer wie auch realer Hilfebedürftigkeit der Betroffenen verfestige, weil die den Betroffenen erwiesene Hilfe nicht nur deren Eigenmotivation und Eigeninitiative nicht fördere, sondern diese sogar hemme. Auf der Grundlage dieser Vorstellung wird vorgeschlagen, die durch den Staat gewährte Fremdhilfe so weit zurückzunehmen, bis bei den Betroffenen die Einsicht zur Notwendigkeit von Eigen- oder besser Selbsthilfe greift.3 Pointiert formuliert, könnte man also sagen: Die beste Hilfe, die man jemandem angedeihen lassen kann, ist die, sie ihm ganz zu entziehen, weil auf diese Weise Eigenverantwortung effektiv gestärkt werden kann.

Gegen diese von den Protagonisten der "aktivierenden Hilfe" vertretene Auffassung sollen im folgenden einige Argumente vorgetragen werden. Hierbei wird in einem ersten Schritt (I) auf die ausgesprochen geringe empirische wie theoretisch-analytische Fundiertheit des Stereotyps eingegangen. Mit Bezug auf die Ebenen von Interaktion und Organisation gilt es in einem zweiten Schritt (II), sich Klarheit zu verschaffen über die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen personenbezogene soziale Hilfeleistungen durch den Sozialstaat beziehungsweise die Soziale Arbeit erbracht werden. Daran anschließend wird in einem dritten Schritt (III) ein Ebenenwechsel vorgenommen, indem die bis dahin angestellten Überlegungen zum Phänomen "Hilfe" beziehungsweise "Helfen" durch Rückbezug auf die aktuelle Diskussion über "aktivierende Hilfe" gesellschaftstheoretisch verortet werden. Auf dieser Grundlage kann dann in einem vierten und letzten Schritt (IV) am Beispiel der aktivierenden Beratung à la Hartz IV gezeigt werden, daß diese mitnichten die Selbständigkeit der (arbeitslosen) Bürger zu fördern trachtet, sondern, ganz im Gegenteil, diese einer (Selbst-)Kolonialisierung unterwirft, an deren "(idealem) Ende selbstbestimmtes Verhalten in rollengerechtem restlos" (Fach 2000: 121) aufgeht.

Um nicht von vornherein einem Mißverständnis aufzusitzen, sind zuallererst jedoch zwei klärende begriffliche Anmerkungen vonnöten. Zum ersten: Wenn im folgenden von "Hilfe" oder von "Helfen" die Rede ist, so ist damit nicht jegliches soziale Handeln gemeint, mit dem jemand einen Beitrag zur Befriedigung eines Bedürfnisses eines anderen leistet, wobei dieser Beitrag, negativ formuliert, auch in der Reduzierung oder Beseitigung einer Notlage bestehen kann. Wenn hier von "Hilfe" oder "Helfen" die Rede ist, so geht es um das organisierte verberuflichte Bemühen zur Überwindung einer Mängellage durch Bereitstellung der dazu erforderlichen Ressourcen. Im Zentrum der Überlegungen stehen also nicht alltagsweltliche Hilfeleistungen wie etwa die materiellen Zuwendungen im Rahmen einer Kollekte oder der emotionale Beistand nach einem schweren Schicksalsschlag oder das Geben einer informativen Anregung zur Lösung eines Problems. Die nachstehenden Überlegungen beziehen sich vielmehr auf die im Rahmen von Organisationen institutionalisierten und verberuflichten Formen der alltagsweltlichen Hilfeleistungen, wie sie durch den Sozialstaat, und hier namentlich die Soziale Arbeit, erbracht werden. Zum zweiten: Mit der Verwendung des Epithetons "aktivierend" soll zum Ausdruck gebracht werden, daß "aktivierende Hilfe" dem Prinzip "Eigenaktivitäten auslösen" folgt, womit unterstellt wird, daß Aktivieren ein Vorgang ist, der jemanden, der noch nicht oder nicht mehr aktiv ist, aber aktiv sein könnte, durch einen Impuls von außen, eben Hilfe, aktiv macht, zu Aktivität befähigt. Das heißt, bei "aktivierender Hilfe" handelt es sich um die Mobilisierung eines immer schon vorausgesetzten Handlungspotentials, weswegen auch nur dasjenige aus jemandem herausgeholt werden kann, was diesem seiner Möglichkeit nach bereits innewohnt.4

I

Die von den Apologeten der "aktivierenden Hilfe" vorgenommene Problemdiagnose und Problemtherapie stützt sich ersichtlich nicht auf verallgemeinerbares empirisches Wissen, sondern auf bestenfalls hegemonial gewordene Deutungskonventionen 5 und bloße Kausalitätsvermutungen. So zeigen beispielsweise sowohl ältere international vergleichende wie auch neuere nationalstaatlich fokussierte empirische Untersuchungen zur Problematik des Mißbrauchs von Sozialleistungen, daß, hoch gegriffen, nur fünf von 100 Transferleistungsempfängern diese unrechtmäßig bezogen (vgl. Henkel/Pawelka 1981; Trube 2003: 195) und daß Sozialhilfeempfänger, entgegen dem Stereotyp, sich auch durch Annahme gering entlohnter Tätigkeiten darum bemühen, ihre materielle Situation zu verbessern und unabhängig von staatlichen Zuwendungen zu werden (vgl. Gebauer et al. 2002: passim).6 Mit Vorsicht zu genießen ist auch die zum Beispiel seitens der Stadt Köln, dem "Wisconsin am Rhein",7 zum besten gegebene Zahl, fast jeder dritte Jugendliche sei aus dem Leistungsbezug ausgeschieden, nachdem ernst gemacht worden sei mit der "aktivierenden Hilfe" in Form der Zuweisung in Arbeit, da nicht feststeht, womit die Jugendlichen nunmehr ihren Lebensunterhalt bestreiten (vgl. Scholz 2004: 398)8. Aber es gibt ja bekanntlich eine Reihe von zwar alternativen, aber nicht unbedingt legalen oder zumindest sozial geachteten Reproduktionsmöglichkeiten wie Bettel, Diebstahl, Raub oder Prostitution. Deswegen kann auch begründet davon ausgegangen werden, daß mit der Ausgrenzung derer, die aufgrund der Versagung oder des Entzugs von staatlichen Unterstützungsleistungen sehen müssen, wie sie ihr Leben mehr schlecht als recht fristen, nur scheinbar im Interesse des Gemeinwohls gehandelt wird. Würde nämlich in Rechnung gestellt, was man gemeinhin "soziale Kosten" nennt, so würde deutlich, daß man "den Gewalterhaltungssatz nicht beschummeln (kann): Gewalt geht nie verloren, die strukturale Gewalt, die von den Finanzmärkten ausgeübt wird, der Zwang zu Entlassungen und die tiefgreifende Verunsicherung der Lebensverhältnisse, schlägt auf lange Sicht als Selbstmord, Straffälligkeit, Drogenmißbrauch, Alkoholismus zurück, in all den kleinen oder großen Gewalttätigkeiten des Alltags." (Bourdieu 2004: 60)

Das Stereotyp unterstellt aufgrund seines Mittelschichtbias 9 einerseits und der Interessegeleitetheit seiner Vertreter andererseits den Betroffenen prinzipiell Handlungsvermögen und schreibt diesen Eigenverantwortung für ihr Handeln und damit Schuld für Verfehlungen zu. Hierzu ist folgendes anzumerken. Gesetzt den Fall, jemand entscheidet sich, eigenverantwortlich zu handeln, dann heißt dies, daß diese Person Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen beabsichtigt. Sie macht sich damit zum Subjekt von gesellschaftlichen Zurechnungsregeln und -praktiken, womit sie zum Adressaten von Handlungs- und Unterlassungspflichten wird, deren Verletzung wie auch Erfüllung ihr entweder als Schuld oder als Erfolg zugerechnet wird. Verantwortlich ist jemand jedoch nur für das, wofür er etwas kann, was die Frage nach der Bedeutung und den Voraussetzungen des Dafür-Könnens aufwirft. Als Minimalbedingung gehört hierzu die Handlungsfähigkeit, das heißt das Vermögen einer Person, kausal und intentional Ereignisse herbeiführen, Zustände verändern, Prozesse auslösen, also etwas in der Welt bewirken zu können. Einer Person zurechenbar sind allerdings nur solche Handlungsfolgen, die sie normalerweise voraussehen und aufgrund dieser Voraussicht auch kontrollieren und, bei unerwünschten Folgen, auch vermeiden hätte können. Die Frage, ob eine Person etwas für die Folgen ihres Handelns kann, läßt sich letztlich nur dann beantworten, wenn man Aussagen über die internen und externen Handlungsbedingungen machen kann, unter denen konkret gehandelt wird, wozu kognitive Fähigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten, Willensstärke und psychische Dispositionen wie Selbstkontrolle und -steuerung ebenso gehören wie die materiellen, zeitlichen, kulturellen und sozialen externen Faktoren, die aus dem Handelnden die Person gemacht haben, die sie ist.

Wenn nun die Protagonisten der "aktivierenden Hilfe" die Adressaten ihrer Hilfsmaßnahmen anzuhalten trachten, eigenverantwortlich zu handeln, so ist in der realen Welt - anders als in den Köpfen der Aktivierungsvertreter - zunächst einmal völlig offen, ob es sich bei den Voraussetzungen und Bedingungen eigenverantwortlichen Handelns um ein tatsächlich vorhandenes und nur wieder zu aktivierendes internes persönliches Vermögen handelt und ob der Mobilisierung des Handlungsvermögens externe Hemmnisse entgegenstehen, was beispielsweise dann gegeben ist, wenn äußere Zwänge oder prekäre Lebenslagen andere Entscheidungen verlangen, als sie bei einem freien Gebrauch der eigenen Fähigkeiten getroffen würden. Dann können selbst die vorhandenen persönlichen Vermögen nicht viel ausrichten. Und für den Fall, daß die Hilfeadressaten überhaupt nicht im Besitz des ihnen zugeschriebenen Handlungsvermögens sind, kann "aktivierende Hilfe" kontraideell ohnehin nicht das bewirken, was sie bezweckt.10 Daraus folgt, daß sowohl im Falle eines unzureichenden Handlungsvermögens wie auch im Falle der Existenz externer Restriktionen zur Mobilisierung desselben dem Adressaten der "aktivierenden Hilfe" eine Aufforderung zur eigenen Initiative als grotesk erscheinen muß und von ihm als eine - unter Umständen sogar repressiv aufgenötigte - Form der Fremdbestimmung und Disziplinierung erlebt wird, was selbstredend auch dann zutrifft, wenn der Adressat der Aufforderungen sich selbst und seine Fähigkeiten anders deutet und versteht, als ihm seine Aktivierer zumuten. 11

II

Für die Auslösung der in Organisationen institutionalisierten und verberuflichten Hilfeaktivitäten ist nun allerdings charakteristisch, daß sie weder auf der Grundlage von reziproken Erwartungsstrukturen (wie in segmentär differenzierten Gesellschaften) noch auf der von religiös-moralischen Motiven (wie in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften) erfolgt, sondern daß sie hier und heute (das heißt in funktional differenzierten Gesellschaften) in Entscheidungsprogrammen begründet ist, in denen definiert wird, wem wann wie geholfen werden kann, soll oder muß.12 Damit ist zugleich die Herausbildung einer asymmetrischen Beziehung zwischen dem hilfebedürftigen beziehungsweise hilfesuchenden Klienten und dem potentiell hilfeleistenden Helfer verbunden, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob die Entscheidungsprogramme als ein an einem Wenn-dann-Prinzip orientierten Konditionalprogramm oder als ein an einem Zweck-Mittel-Prinzip orientierten Finalprogramm rechtlich institutionalisiert sind.

Bei den konditionalprogrammierten Hilfeleistungen, die vornehmlich bei den aufgrund von Beitragszahlungen erworbenen Versicherungsleistungen anzutreffen sind, zeigt sich die Asymmetrie zwischen Helfer und Klient insbesondere in der administrativen Kalibrierung der als Hilfeersuchen öffentlich zutage tretenden Not- oder Mängellage. Bekanntlich erweist sich die institutionelle Logik der Sozialbürokratie für die Hilfesuchenden tendenziell als ein Prokrustesbett, weil das, was nicht in den Raster der vorgesehenen Probleme und der dafür bestimmten Lösungen und hierfür bereitgestellten Handlungsressourcen Recht und Geld paßt, nicht be- und verarbeitet wird, so daß die Hilfesuchenden gehalten sind, ihr individuelles Problem entsprechend der institutionell verankerten selektiven Problemperzeption der Sozialbürokratie zu kommunizieren. Achinger bringt diese Gegebenheit zutreffend auf den Punkt: "Die gesetzlich begründeten Institute geben den Dingen ihren Namen. Sie definieren und benennen soziale Tatbestände solange, bis auch die Notleidenden selbst ihren Zustand nur unter diesen Titeln begreifen." (Achinger, H.; zit. nach: Tennstedt 1976: 147)

Das heißt, die Gewährung und Ausgestaltung der Hilfe wird nur sehr indirekt über das subjektive Leiden und die Bedürfnisse des Hilfesuchenden bestimmt, sondern von den strukturellen Rahmenbedingungen der Institution Sozialbürokratie und der ihr unterworfenen Mitarbeiter, den Helfern, gesteuert, was je nach politischer (und ökonomischer) Konjunktur in durchaus verschiedene Richtungen gehen kann, doch für gewöhnlich die spezifische Lage des hilfesuchenden Klienten verfehlt.

Die Asymmetrie zwischen Helfer und Klient läßt sich bei den mit einer Vielzahl von "unbestimmten Rechtsbegriffen" und "Generalklauseln " arbeitenden Finalprogrammen, wie sie für die auf dem Fürsorgeprinzip basierenden Hilfeleistungen typisch sind, an den Konsequenzen der in der Regel weitgehend offen formulierten Rechtsansprüche auf Hilfeleistungen ablesen, aus denen weder eindeutige Forderungen an die beruflichen Helfer noch praktikable Kriterien für die Angemessenheit der jeweiligen Hilfeleistungen sich ableiten lassen. Dies führt dazu, daß der Hilfesuchende beziehungsweise Hilfeempfänger sich den Regeln des Hilfespiels unterwerfen muß, wenn er Hilfe erhalten will, während es, zumindest zum Teil, im Ermessen des Helfers liegt, ob er sich überhaupt auf das Hilfespiel einlassen will beziehungsweise wie er es im einzelnen gestalten will. Eng damit verbunden ist der Sachverhalt, daß sich die Helfer-Klient-Beziehung als eine Experten-Laien-Interaktion charakterisieren läßt, bei der der Helfer die Rolle eines mit Deutungs-, Definitions- und Entscheidungsmacht ausgestatteten Experten einnimmt, weil dessen Wissen als ein dem Laienwissen überlegenes gilt, das als solches vom Klienten angenommen oder auch abgelehnt werden kann. Allerdings wird eine Ablehnung als Infragestellung des Expertenstatus gewertet. Damit entscheiden die Helfer über die Zumutbarkeit privater Leidbewältigung, über angemessene Behandlungszeiten und -formen, über Risiken, die von den Hilfesuchenden beziehungsweise -empfängern einzugehen sind, und vor allem über das, was professionell "richtiges" Helfen ist. Und all dies, obwohl die Frage, ob Hilfebedürftigkeit besteht, nicht allein von dem Helfer festzustellen ist, sondern nur das Ergebnis einer gemeinsamen Erörterung sein kann, wie auch die Mittel, mit denen, und die Ziele, auf die hin zu helfen ist, keineswegs von Anfang an festliegen, sondern ebenso als Ergebnis eines diskursiven Prozesses legitimierbar sein müssen, wenn an der vernunftmäßig begründbaren Einsicht und dem darauf aufbauenden Postulat festgehalten wird, daß es ein Recht des Hilfebedürftigen auf ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben gibt, dem die sittlich begründete Pflicht, diesem die hierzu erforderliche Unterstützung angedeihen zu lassen, korrespondiert. Zu ignorieren, daß nur der Hilfebedürftige selbst authentisch über seine Hilfebedürftigkeit befinden kann, hieße, dessen Würde zu verletzen und dessen Vorstellung von der Führung eines gelingenden Lebens zu mißachten. Denn wie kann es angehen, des Menschen Würde für unantastbar zu halten und schützen zu wollen, wie es zum Beispiel das Grundgesetz in seiner Zentralnorm Art. 1 GG vorsieht, ohne daß diejenigen, die da Würde besitzen sollen, mitbestimmen, was denn ihre Würde wirklich sei?

Auch wenn das in Organisationen institutionalisierte verberuflichte Helfen als ein sozialer Interaktionsprozeß beschrieben werden kann, in dem Helfer und Klient gemeinsam mit der Definition dessen beschäftigt sind, was dem Klienten fehlt und wie Abhilfe geschaffen werden kann, drückt sich in den sachlich-inhaltlichen, zeitlichräumlichen und sozial-interaktiven Rahmenbedingungen eines solchen Klärungsprozesses die Asymmetrie zwischen Helfer und Klient als ein strukturelles Gewaltverhältnis aus, das gegenüber dem Klienten jedoch abgeschirmt beziehungsweise positiv uminterpretiert wird, zum Beispiel durch spezifische Hilfeideologien wie etwa die paternalistisch verbrämte der "aktivierenden Hilfe", deren Vertreter vorgeben, die betreffenden Hilfemaßnahmen würden nur vollzogen zum Wohlergehen des Hilfeadressaten, wenn auch unter Umständen ohne deren Einwilligung und im Extremfall sogar gegen deren Willen. Damit wird der Hilfeempfänger als Beurteiler der Frage, ob und wie die Hilfemaßnahme ihm geholfen hat, tendenziell ausgeschaltet. Nicht die Frage, wie es dem Klienten geht und was er von der ihm erwiesenen Hilfe hält, sondern ob professionell ›richtig‹, das heißt entsprechend der institutionell vorgegebenen Standards geholfen wurde, wird zum Erfolgskriterium.13 Deshalb ist der Satz "Operation gelungen, Patient tot" die zu Ende gedachte Logik verberuflichter Hilfe.

III

Indem die bisherige Argumentation "Hilfe" beziehungsweise "Helfen " weitgehend als einen zwischen Helfer und Klienten sich abspielenden sozialen Interaktionsprozeß beschrieb, wurde fürs erste davon abgesehen, die vorgetragenen Überlegungen auf die aktuelle Diskussion über "aktivierende Hilfe" rückzubeziehen. Will man nicht Ideologien und Mythen aufsitzen und diese ohne Sinn und Verstand reproduzieren, ist ein solcher Rückbezug aber angezeigt, denn Helfen findet ja nicht im gesellschaftlich luftleeren Raum statt. Das heißt, eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Effektivität und Effizienz sozialpolitischer Hilfeleistungen hat darauf zu reflektieren, daß der Diskurs über "aktivierende Hilfe" vom Virus des Neoliberalismus, der "den Fortschritt, die Vernunft und die Wissenschaft (...) für sich in Anspruch (nimmt), um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken und Handeln als archaisch erscheinen läßt" (Bourdieu 2004: 55), infiziert ist und der als Ideologie wie selbstverständlich in die allgemein herrschenden Verhältnisse abgesunken ist.14 Dies ist auch der Grund, warum dem im common sense meist positiv konnotierten Begriff der "aktivierenden Hilfe" fraglos eine hohe Plausibilität über politische Fraktionierungen, soziale Milieus und disziplinäre Grenzen hinweg zukommt.

Um das Rationalitätsmuster sichtbar zu machen, dem die Verfechter der "aktivierenden Hilfe" folgen, sei es bewußt oder unbewußt, genügt es hier, darauf hinzuweisen, daß mit dem Neoliberalismus sich eine Neudefinition sowohl des Verhältnisses von Staat und Ökonomie als auch eine des Sozialen vollzieht. Das heißt einerseits, daß im Unterschied zur klassisch-liberalen Rationalität der Staat die Freiheit des Marktes nicht länger definiert und überwacht, sondern eine Entwicklung fördert und exekutiert, mit der der Markt selbst zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates wird und bei der die Regierung zu einer Art Unternehmensleitung mutiert, deren Aufgabe in der Universalisierung des Wettbewerbs und der Generalisierung des Ökonomischen besteht. Mit anderen Worten: In der neoliberalen Konzeption von Gesellschaft ist das Ökonomische nicht mehr wie im Frühliberalismus ein fest umrissener und eingegrenzter gesellschaftlicher Bereich mit spezifischer Rationalität, Gesetzen und Instrumenten, sondern das Ökonomische umfaßt nunmehr prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns. (vgl. Lemke et al. 2000: 14 ff.) Folgerichtig avanciert von daher auch der Bürger vom Arbeitskraftbesitzer zum Unternehmer seiner selbst beziehungsweise zum "Arbeitskraftunternehmer" (Voß/Pongratz 1998), der nicht bloß seine Arbeitskraft, sondern seine ganze Persönlichkeit als Ware auf dem Markt gewinnbringend feilbieten soll, was erfordert, sich selbst als Unternehmen zu begreifen und entsprechend zu führen, das heißt, den gesamten eigenen Lebenszusammenhang aktiv an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen auszurichten.15 Eng damit verbunden ist andererseits die völlige Neudefinition des Sozialen, nach der erstens als sozial nur noch das gilt, was Arbeit schafft,16 nach der zweitens jede Arbeit besser ist als keine und nach der drittens der Staat berechtigt ist, gegen all jenes vorzugehen, das es einem Arbeitskraftbesitzer erlauben würde, nicht zu arbeiten, ohne dies sich leisten zu können, da er über keine Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ohne Arbeit verfügt. Im Umkehrschluß wird daher davon ausgegangen, daß gemeinwohlschädigendes, weil auf staatliche Transferleistungen angewiesenes, unsoziales Verhalten sich nur durch Verpflichtung zur Arbeit bekämpfen lasse, wobei die Verpflichtung zur Arbeit in der Marktanpassung und diese wiederum in dem bedingungslosen Akzeptieren der Kauf- und Anwendungsbedingungen von Arbeitskraft bestehe.

Da es sich bei der neoliberalen Konzeption von Staat und Gesellschaft also nicht nur um eine marktradikale handelt, sondern überdies um eine, die vorsieht, daß der Staat seine Bürger legitimerweise zu marktkonformem Verhalten zwingen könne, hat jenes Deutungsmuster hegemonialen Rang erlangt, das von der Vorstellung geleitet wird, nur durch einen Abbau von ungerechtfertigten Leistungen und ebensolchen Ansprüchen an den Sozialstaat und durch eine Umorientierung von amoralischen Verhaltensweisen auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftlichkeit könne die Verwirklichung des Neoliberalismus als politisches Projekt herbeigeführt werden, das zum Ziel hat, "eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt" (Lemke et al. 2000: 9). Dies erklärt auch die strategische Schlüsselstellung, die der Sozialpolitik in diesem Zusammenhang zukommt. Umgestaltet wird sie auf der Ebene der marktlichen Makrosteuerung nämlich so, daß sie als Standortpolitik einen Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit leistet, während sie auf der Mikroebene der marktbezogenen Selbststeuerung der Individuen einen paradigmatischen Wechsel vollzieht vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement und von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Selbstsorge. Damit nimmt Sozialpolitik Abstand von der Idee, daß die Gesellschaft für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwortlich und demgemäß auch verpflichtet ist, die Sicherung der Existenz zu gewährleisten, und erhebt subjektive Unsicherheit und Verunsicherung zur Grundlage der durch "aktivierende Hilfe" geforderten Eigenverantwortung, denn die letzte Grundlage der Kapitalismus genannten Wirtschaftsordnung, "die sich auf die Freiheit des Einzelnen beruft, ist die strukturale Gewalt der Arbeitslosigkeit, der Verunsicherung, der Angst vor Entlassung" (Bourdieu 2004: 124).17

IV

Exemplarisches Beispiel für den genannten paradigmatischen Wechsel ist die von der derzeitigen neoliberal gewendeten rot-grünen Bundesregierung unter dem Motto des "Fördern und Fordern" in Gestalt der sogenannten "Hartz I-IV"-Gesetze 18 betriebene "aktivierende Arbeitsmarktpolitik", deren Hauptelemente bestehen a) in dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen, b) in der Verschärfung der Bedingungen des Bezugs von Transferleistungen, c) in der Optimierung der Übergänge von Arbeitslosigkeit in Arbeit und d) in der Neudefinition der Zielsetzung der Arbeitsmarktpolitik in Richtung "Arbeit um jeden Preis", sei diese nun regulär oder prekär, bezahlt oder unbezahlt 19. Betrachtet man die mit den Hartz-Gesetzen auf den Weg gebrachte Arbeitsmarktreform etwas genauer, so fällt auf, daß das Schwergewicht der Instrumente zum Abbau der Arbeitslosigkeit auf einer Erhöhung der Effizienz der Arbeitsvermittlung liegt, wohinter sich die absurde Annahme verbirgt, das in der Bundesrepublik Deutschland seit über einem Vierteljahrhundert bestehende Problem der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit sei im wesentlichen ein Mismatch-Problem, also eines der fehlenden Übereinstimmung zwischen den Arbeitskraftverkäufern und -käufern hinsichtlich Qualifikation, Entlohnung und Bedingungen des Arbeitskräfteeinsatzes.20 Eng verbunden mit dieser vorurteilsbehafteten Sicht wird überdies den Arbeitslosen unterstellt, sie unternähmen keine ernsthaften Anstrengungen zur Überwindung ihrer Lage, da sie sich hierzu wegen der "zu generösen" staatlichen Transferleistungen nicht hinreichend motiviert sähen. Vor dem Hintergrund einer solchen Problemdiagnose verwundert es selbstredend nicht, daß in der Therapie zur Verringerung der Arbeitslosigkeit vornehmlich an den vermeintlichen Defiziten der Arbeitslosen (wie fehlender oder inadäquater Qualifikation, unzureichender Flexibilität und Mobilität und überhöhten Einkommensvorstellungen) angesetzt wird, und zwar entweder auf indirektem Wege, indem den Arbeitslosen mit der Reduzierung oder gar dem vollständigen Entzug der Unterstützungsleistungen und damit der Existenzgrundlage gedroht wird, oder auf direktem Wege, so etwa mit den Instrumenten der Beratung, der Eingliederungsvereinbarung und des - nomen est omen - aus der Lehre von der Verbrechensbekämpfung stammenden Profilings (eine Methode, mit der versucht wird, Gesetzesbrecher vermittels der Analyse von Verhaltensmustern greifbar zu machen und der Gerichtsbarkeit zuzuführen), so als hätten sich die Arbeitslosen des Vergehens schuldig gemacht, arbeitslos geworden zu sein, weil sie sich zu sehr an den eigenen Ansprüchen an Arbeit orientiert haben und nicht danach, was auf dem Markt nachgefragt wird.

Wenn oben davon die Rede war, daß institutionalisierte verberuflichte Hilfe aufgrund der Asymmetrie zwischen Helfer und Klient als ein strukturelles Gewaltverhältnis begriffen werden kann, so gilt dies prinzipiell auch für den Akt der Beratung, der ja eine Form von personenbezogener Hilfe darstellt, nämlich insofern, als Klienten von um Rat aufgesuchten Experten bei der Wahl einer Entscheidung mit dem Geben von Informationen, dem Strukturieren der Selbstreflektion und dem Offerieren von Deutungsvorschlägen unterstützt werden. Für die "aktivierende Beratung", wie sie die Hartz-Gesetze vorsehen, gilt dies allerdings in besonderer Weise. Dies zeigt sich unter anderem darin, daß die Beratungs"angebote" des Hartz IV genannten SGB II verpflichtende verbindliche "Angebote" sind, weswegen sie auch das für eine gelingende Beratung zentrale Kriterium der Freiwilligkeit nicht erfüllen. Denn ihrem Anspruch nach hat Beratung Anregung und Unterstützung für selbstbestimmte Entscheidungen und eigenverantwortliche Problembewältigung durch die Ratsuchenden zu sein, was auf seiten des Beratenden voraussetzt, sich als Haltung die Achtung vor der Autonomie der Klienten zu eigen zu machen. Die Wirklichkeit von institutionalisierter Beratung ist jedoch eine andere wegen des Gegensatzes von Kompetenz und Nichtkompetenz, den jede Verberuflichung beziehungsweise Professionalisierung von Hilfeaktivitäten und damit auch des Beratens strukturell erzeugt, was eine Form der Herrschaftsausübung der berufsmäßigen Helfer über andere ist, weil diese ihre Eingriffe in die Situation der hilfesuchenden Klienten durch ihre fachliche Kompetenz legitimiert sehen.

Die "aktivierende Beratung" des SGB II intendiert auch nicht, und das heißt in Widerspruch stehend zu den §§ 14 ff. SGB I (Allgemeiner Teil), den arbeitslosen Hilfesuchenden Auskunft darüber zu geben, welche Leistungen sie von Rechts wegen beanspruchen können, 21 sondern sie sucht Möglichkeiten aufzuzeigen, damit die Hilfesuchenden die ihnen zustehenden Transferleistungen nicht oder nur kurz in Anspruch nehmen, und verbindet aus diesem Grund die angebotene Hilfe mit Sanktionsdrohungen. Ablesen läßt sich dies zum Beispiel an der Eingliederungsvereinbarung, die der als "Kunde" bezeichnete Hilfesuchende nach § 2 I SGB II verpflichtet ist, mit dem Helfer - in managerialem Verdummungsdeutsch nunmehr "Case-Manager" genannt 22 - abzuschließen, wenn er, so § 31 I 1 a SGB II, den Anspruch auf Eingliederungs- und Unterstützungsleistungen nicht verlieren will. Damit wird gegenüber der früheren Sozialhilfe (BSHG) der Interventionspunkt der Sanktion zeitlich vorverlagert, da nicht erst die Verweigerung "zumutbarer Arbeit", wie immer diese auch definiert sein mag, sondern bereits die fehlende Mitwirkung bei der Eingliederungsvereinbarung - und was als eine solche zu werten ist, wird vom Case-Manager als dem "Herren des Verfahrens" autoritativ festgelegt - zum Verlust von Ansprüchen führt. Festgehalten wird in der ihren Namen zu Unrecht 23 tragenden Eingliederungs"vereinbarung" (§ 15 SGB II), welche Bemühungen der hilfesuchende Arbeitslose zur Beseitigung seiner Arbeitslosigkeit in welcher Häufigkeit unternehmen muß und wie er seine Bemühungen nachzuweisen hat, wobei eine Verletzung der "vereinbarten" Mitwirkungspflichten die Arbeitsämter berechtigt, die Unterstützungsleistungen für zunächst einmal drei Monate zu mindern oder vollständig zu entziehen, wobei während dieser Zeit kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, der heutigen Sozialhilfe, besteht und auch eine umgehende Verhaltensänderung seitens der Betroffenen nicht zu einer Aufhebung der Sanktion führt 24. Außerdem kann - ganz nach dem Motto "Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt" - bei Verweigerung des Abschlusses der Eingliederungsvereinbarung diese hoheitlich qua Verwaltungsakt erfolgen, was zu Recht als fachlich verfehlt kritisiert wird, allerdings nicht nur, weil dies eine Vermischung von hoheitlichem Eingriff und Erbringung einer sozialen Dienstleistung (vgl. Spindler 2003 a: 233 f.) darstellt, sondern weil damit auch ignoriert wird, daß eine einseitig gesetzte und/oder gegen den Willen des Hilfesuchenden durchgesetzte Verhaltensanforderungen auf dessen Widerstand stoßen und nur selten das erwünschte Verhalten nach sich ziehen wird. Denn bekanntlich bewegt sich (Sozial-)Politik bei auf Personenänderung zielenden Maßnahmen an der Grenze dessen, was mittels Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen noch gesteuert werden kann. Nicht ohne Grund sieht Luhmann sich zu dem warnenden Hinweis veranlaßt, "Personenänderung ist [...] das gefährlichste Ziel, das eine Politik sich setzen kann" (Luhmann 1981: 97).

Man darf jedoch begründet annehmen, daß ein Mißlingen der beabsichtigten Personenänderung bewußt in Kauf genommen, wenn nicht sogar provoziert wird, weil es zum einen die Möglichkeit eröffnet, die betroffenen arbeitslosen Hilfesuchenden als beratungsresistent und damit als arbeitsunwillig zu diskriminieren, und es damit zum anderen als Legitimation zur Ausgrenzung aus dem Leistungsbezug herangezogen werden kann,25 zumal der hiergegen einlegbare Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat.

Es braucht im Grunde keiner weiteren, vertiefenden Ausführungen, um zu erkennen, daß die "aktivierende Beratung" à la Hartz IV ihr Ziel des Abbaus von Arbeitslosigkeit durch Stärkung der Eigenverantwortung der Betroffenen systematisch verfehlen muß. Denn erstens läßt Eigenverantwortung sich nicht erzwingen, kann doch ein Subjekt bekanntlich nur dann zu einem eigenverantwortlichen Subjekt werden, wenn es sich selbst als ein solches frei wählen kann. Und wird dennoch Eigenverantwortung per order de mufti autoritativ vermittels entsprechender rechtlicher Regelungen verordnet, wie es paternalistischen Interventionen, mit denen unter Hinweis auf das Wohl einer Person in deren Autonomie eingegriffen wird, eigen ist, dann tritt sie den Betroffenen gegenüber als disziplinierende Fremdbestimmung auf und spricht diesen gerade in bezug auf deren bisheriges Verhalten Eigenverantwortung ab. Das heißt, verordnete Eigenverantwortung mutet den Betroffenen zu, sich selbst als eine Person zu verstehen, die sie entweder nicht sind oder nicht werden wollen oder unter Umständen auch nicht werden können. Und zweitens verfügen die Case-Manager nicht über hinreichend Beschäftigungsmöglichkeiten für alle arbeitslosen Hilfesuchenden und schon gar nicht über die Möglichkeit, neue, vor allem existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen. Denn es gibt, wie jeder weiß (der es auch wissen will), ein Mißverhältnis, und zwar ein statistisch erhärtetes, zwischen Arbeitskraftnachfrage (offene Stellen) und Arbeitskraftangebot (Stellensuchende) zuungunsten des letzteren, das jeglichem, das heißt einem selbst wirklich ernst gemeinten Aktivierungsbemühen sehr enge Erfolgsgrenzen setzt. Wenn dem so ist und "aktivierende Beratung" gleichwohl bei den hilfesuchenden Betroffenen hauptsächlich auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen und das Einüben der Bereitschaft zur stetigen Aktivität zum Zwecke der Demonstration von Arbeitswilligkeit zielt, dann muß das Motiv für Hartz IV ein anderes als das öffentlich bekundete sein: Läßt man die Tat-Sachen selbst (und nicht deren Verursacher oder Verfechter) zu Wort kommen, zeigt sich, daß es bei Hartz IV tatsächlich nicht um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern um die der Arbeitslosen geht. Indem nämlich bei der "aktivierenden Beratung" Beratung ganz im neoliberalen Sinne transformiert wird von einem "Mechanismus der Unsicherheitsabsorption" (Fuchs/Mahler 2000: 4) in einen Mechanismus der Unsicherheitsproduktion, unterwirft sie die arbeitslosen Hilfesuchenden beziehungsweise -empfänger unter die Herrschaft des Marktes und ersetzt derart die imaginierte oder reale politische Fremdbestimmung lediglich durch marktliche Fremdbestimmung, nicht jedoch, wie behauptet, durch Eigenverantwortung.

Allerdings sind den Vertretern ›aktivierender Beratung‹ die Arbeitslosen nur Mittel zum Zweck, und dies in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll in der Bundesrepublik Deutschland ein Niedriglohnsektor durch die politisch vermittelte Herstellung einer Schicht von working poor, also von Menschen, die nicht aufgrund fehlender, sondern trotz vorhandener Beschäftigung arm sind, gesellschaftsfähig gemacht werden, wird doch deren physisches Überleben - und nicht viel mehr wird durch die Transferleistungen nach dem SGB II gesichert 26 - nur unter der Voraussetzung garantiert, daß sie bereit sind, jedwede Arbeit ›zu jedem Preis‹ anzunehmen. Ökonomisch und sozial weitaus bedeutsamer ist zum anderen der Sachverhalt, daß Objekt des staatlichen (Um-)Erziehungsprogramms 27 nicht die "Versager " am Arbeitsmarkt, sprich: die Arbeitslosen, allein sind, sondern die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, die am Arbeitsmarkt Erfolgreichen, die Noch-Erwerbstätigen, denen mit Hilfe der entwürdigenden und sozial diskriminierenden Behandlung 28 der "Marktversager " drastisch vor Augen geführt werden soll, was sie zu erwarten haben, wenn sie sich der herrschenden Reproduktionsnormalität entziehen, das heißt dem gesellschaftlich verallgemeinerten und als Pflicht normierten Zwang zur marktförmigen Verausgabung von Arbeitskraft, ohne daß ihnen (wie etwa Kindern, Schülern, Hausfrauen oder Rentnern) hierfür hoheitlich Dispens erteilt worden ist. Verlierern wie Gewinnern am Arbeitsmarkt soll also beigebracht werden, daß sie sich hinsichtlich ihrer Bedürfnisse, Fähigkeiten und Lebensstile den sich stetig wandelnden Erfordernissen des Marktes anzupassen haben und daß ihnen, solange dieses ihnen nicht durchschlagend gelingt, soziale Rechte nur unter hohen Auflagen zugestanden werden. Läßt es jemand an der entsprechenden Anpassungsfähigkeit fehlen, so zeigt dieser gemäß der Aktivierungsideologie objektiv seine Unfähigkeit beziehungsweise den fehlenden nötigen Willen, ein freies und rational handelndes Individuum zu sein. Unter dem Diktat der von den Aktivierungsvertretern geforderten Eigenverantwortung interessiert mithin nur, daß Verlierer wie Gewinner von der ihnen zugestandenen Freiheit zum Handeln einen spezifischen Gebrauch machen, der darin besteht, aus freien Stücken das zu wollen, was ihnen politisch und ökonomisch aufgeherrscht wird: die Ausrichtung des eigenen Lebens an einer Ethik des selbstbestimmten Subjekts mit der Figur des Unternehmers als einem zentralen Leitbild des Neoliberalismus.

Literatur

Blanke (2003) - Thomas Blanke: Die Hartz-Reformen - Kurswechsel im Arbeits- und Sozialrecht, in: Kritische Justiz, H. 1, S. 2-6.
Bommes/Scherr (2000) - Michael Bommes/Albert Scherr: Soziologie der Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe, Weinheim/München: Juventa.
Bourdieu (2004) - Pierre Bourdieu: Gegenfeuer, Konstanz: UVK.
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Michael Wolf - Prof. Dr. rer. pol., Sozialwissenschaftler, Professor für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz; zuletzt in UTOPIE kreativ: Von der "konzertierten Aktion" zum "Bündnis für Arbeit", Heft 117 (Juli 2000), S. 669-680.

Der Artikel basiert auf vorbereitenden Arbeiten zu einem Streitgespräch zum Thema "Aktivierende Hilfen zwischen Eigenverantwortung und Sozialdarwinismus", das an der Fachhochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwesen, geführt wurde. Für die Anregung zu dem Streitgespräch ist den Studierenden ebenso zu danken wie Karl-Heinz Lindemann, dem Kontrahenten, für seine Bereitschaft zur Teilnahme an selbigem.

1 Vgl. zum Konzept des "aktivierenden Staates" allgemein Lamping et al. (2002), zu dessen Bedeutung als Ansatz zur Umgestaltung des Sozialstaats im besonderen die Beiträge in Dahme et al. (2003) sowie Mezger/West (2000).

2 Die Semantik von der Sozialstaatskrise ist zwar falsch, warum sie als herrschende sich durchgesetzt hat, aber dennoch begründbar: Die Veränderung der politischen Großwetterlage durch den Durchbruch des politischen Projektes des Neoliberalismus einerseits und den Zerfall der ehemaligen staatssozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas andererseits hat zu einer Renaissance des Universalitätsanspruches marktwirtschaftlicher Vergesellschaftung in Theorie und Praxis geführt und die Idee einer von Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit befreiten gesellschaftlichen Zukunft einstweilen als eine Schimäre diskreditiert. Die Kritik am Sozialstaat gab es allerdings schon immer, so etwa durch Hayek (2003), den noch heute viele Liberale idolisieren wegen seiner erstmals vor über sechs Dezennien erschienenen Kampfschrift "Der Weg zur Knechtschaft", mit der er dem Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat eine radikale Absage erteilt.

3 Vgl. statt anderer ausdrücklich Feist (2000). - Obwohl, begriffsgeschichtlich betrachtet, der Begriff der Eigenhilfe, anders als der der Selbsthilfe, auf "(Rest-) Bestände einer zu bewahrenden oder neu zu entwickelnden Eigenständigkeit lebensweltlicher Nahbereiche" (Nokielski/Pankoke 1982: 279) verweist, ist dem Begriff der Selbsthilfe hier der Vorzug zu geben, da er strukturell stets auf ein Handeln anderer und damit auf Fremdhilfe bezogen ist, was in der sozialpolitischen Phrase von der "Hilfe zur Selbsthilfe" lapidar zum Ausdruck kommt.

4 Zum Begriff der Aktivierung mit Bezug auf die aristotelische Akt-Potenz- Lehre vgl. Kocyba (2004).

5 Das Stereotyp ist im Alltagsdenken auch wegen seiner medialen Vermitteltheit eingängig und kann seine Interessegeleitetheit nicht leugnen, soll heißen, daß jene, die auf sozialstaatliche Hilfeleistungen nicht angewiesen sind, diese aber mit ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finanzieren, die sogenannten Leistungsträger der Gesellschaft, wenig geneigt sind, für das materielle Auskommen von Transferleistungsempfängern, insbesondere von Arbeitslosen, aufzukommen. Es entbehrt nicht einer gewissen Anstößigkeit, daß etliche der "Leistungsträger" des Öffentlichen Dienstes oder auch der Gewerkschaften es über viele Jahre politischer Auseinandersetzung zuwege gebracht haben, nach einem bestimmten Bestand des Arbeitsverhältnisses faktisch unkündbar zu sein, weswegen ihnen denn auch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung als entgangenes Einkommen erscheinen.

6 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang überdies zum einen, daß trotz der Tatsache der fast ausschließlich einnahmeseitig bedingten Finanzierungsprobleme des Sozialstaats dessen Ausgabeseite im Vordergrund der Kritik steht (vgl. Butterwegge 1999: 442), und zum anderen, daß der drastischen Klage über den Anteil der Sozialhilfeaufwendungen der Kommunen realiter die empirische Grundlage fehlt, ist dieser mit etwa 5 Prozent doch ungleich niedriger als die kommunalen Aufwendungen für Kindererziehung oder Beschäftigungsförderung (vgl. Spindler 2003a: 226).

7 So die Frankfurter Rundschau in ihrer Ausgabe vom 06.09.2001, die sich auf das "Wisconsin Works" oder auch "W-2" genannte US-amerikanische Workfare-Programm Milwaukees bezieht, dem wegen seiner obligatorischen Arbeitsverpflichtung für alle Sozialhilfeempfänger in Wissenschaft und Politik eine hohe Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde und das Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch Anlaß war, mit der Einbringung des OFFENSIV-Gesetzes (Optimal Fördern und Fordern - ENgagierter Service In Vermittlungsagenturen) in den Bundesrat ein entsprechendes Programm zur Reform der Sozialhilfe zu initiieren.

8 Überhaupt muß festgehalten werden, daß infolge der Kurzatmigkeit der arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien (das SGB III ist von 1997 bis 2002 nicht weniger als 38mal novelliert worden) seriöse Untersuchungen hinsichtlich der Programmeffekte fehlen, weswegen zu Recht von einem "Politikmodus der Entwertung vergangener Konzepte" (Blanke 2003: 4) zu sprechen ist.

9 Das Kölner Sozialamt verteidigt den Zwang zur Arbeit mit dem Argument, das Prinzip der Freiwilligkeit von Hilfemaßnahmen sei rein mittelschichtorientiert und bei der Sozialhilfeklientel inopportun, weil diese wegen mangelnder Einsichtsfähigkeit die Güte der angebotenen Hilfe nicht beurteilen könne (vgl. Brühl 2004: 107).

10 "Wer über zu wenig oder gar keine materielle Ressourcen verfügt, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen selbst zu gestalten, wer weder Zeit noch Geld hat, sich ausreichende Informationen über seine oder ihre Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen, wer wegen mangelnder Bildungsvoraussetzungen nur geringe Kenntnisse über die Welt und nur wenige Fertigkeiten erworben hat, wer aufgrund seiner Herkunft oder infolge nachteiliger Familienverhältnisse die psychischen Dispositionen der Selbstkontrolle und Selbststeuerung nur unzureichend auszubilden vermochte, wer infolge sozialer Marginalisierung oder sozialisationsbedingter Nachteile keinen oder nur wenig Zugang zu kulturellen Ressourcen für die Entwicklung eigener Lebensentwürfe und Handlungspläne hat, wer sich infolge von Anerkennungsdefiziten schnell kommunikativ entmutigen lässt und wer nicht zuletzt durch Krankheit, Alter, Armut darin gehindert ist, selbst über seine oder ihre Lebensverhältnisse zu entscheiden, dem wird auch die Aufforderung, eigene Initiative zu ergreifen und vom eigenen Können Gebrauch zu machen, unverständlich bleiben." (Günther 2002: 127 f.)

11 Es ist bezeichnend für die Verlogenheit der "Stiefeltretpolitik" (Grottian et al. 2003: 2) der Aktivierungsapologeten, daß in ihrem Sprachgebrauch die Möglichkeit der kollektiven statt nur individuellen Wahrnehmung von Eigenverantwortung begrifflich ausgeschlossen wird. Dies zeugt einerseits von einem beträchtlichen Demokratiedefizit, ist doch die von den Bürgern gemeinsam wahrgenommene Eigenverantwortung gerade das normative Ideal von Demokratie, verwundert andererseits aber nicht. Denn was anderes kann man erwarten von jemandem, der den Staat betrachtet als "Unternehmen" (Stichwort: "Deutschland-AG") und die Bürger als das dem "Unternehmen" angehörige "Personal", das es für den Wettbewerb unter den Nationalstaaten (Stichwort: "Standort Deutschland") durch eine "Personalentwicklungspolitik" (Stichwort: "lebenslanges Lernen") fit for the job zu machen und auch zu erhalten gilt.

12 Als grundlegend für die Frage, wie sich die Formen von Hilfe mit der Veränderung der primären gesellschaftlichen Differenzierungsform von den segmentär über die stratifikatorisch zu den funktional differenzierten Gesellschaften hin wandeln, darf immer noch Luhmann (1975) gelten; vgl. hierzu ferner Bommes, Scherr (2000: 88 ff.), Sahle (1987: 4 ff.), Weber, Hillebrandt (1999: 56 ff.).

13 Es sollte vielleicht nochmals in Erinnerung gerufen werden, daß die Frage danach, was denn professionell "richtiges" Handeln auszeichnet, nicht losgelöst von den fiskal(polit)ischen Rahmenbedingungen der sozialstaatlichen Leistungserbringung beantwortet werden kann, die den zu erbringenden sozialen Dienstleistungen eine spezifische Rationalität verleihen, soll heißen, sie den ökonomischen Imperativen einer Standortpolitik unterwerfen. Die seit einigen Jahren unter Schlagworten wie "Qualitätssicherung", "Output-Orientierung", "Controlling" stattfindende "Verbetriebswirtschaftlichung " der Sozialen Arbeit gibt hiervon beredtes Zeugnis (vgl. hierzu statt anderer die Beiträge in Lindenberg 2000).

14 "Es gibt eine Art ›graue Wolke‹, die die gegenwärtige Geschichte einhüllt und die verschiedene Generationen unterschiedlich trifft - ein ›gräuliche Wolke‹, die in Wahrheit die fatalistische Ideologie ist, undurchsichtig, angelegt im Diskurs des Neoliberalismus. Es ist die Ideologie, die die Ideologie tötet, die den Tod der Geschichte, das Verschwinden der Utopie, die Vernichtung des Traums verordnet" (Freire 1997: 9).

15 Das von der Hartz-Kommission inaugurierte und an das "Wörterbuch des Unmenschen" (Sternberger et al. 1986) erinnernde, zum Unwort des Jahres 2002 erklärte Wort "Ich-AG" (vgl. hierzu namentlich Lessenich 2003) bringt expressis verbis die hinter ihm stehende Ideologie zum Ausdruck: Das Akronym "AG" steht für das Ich als Aktiengesellschaft, für das ökonomische Individuum, für den arbeitskraftbesitzenden Menschen als Unternehmer seiner selbst, bei dem gewissermaßen Unternehmer- und Managerfunktion zusammenfallen, so daß er zugleich als "Eigentümer und Betriebsleiter seiner selbst" (Bröckling 2000: 154) erscheint.

16 Einer solchen Sichtweise läßt sich entgegenhalten, es sei in Anbetracht der nationalsozialistischen Vergangenheit "Zurückhaltung geboten bei dem Slogan: ›Sozial ist, was Arbeit schafft.‹" (Spindler 2003 b: 12). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Gleichwohl sollte das Diktum Horkheimers "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" (Horkheimer 1988: 308 f.) nicht vergessen werden, das in historisch-kritischer Absicht nicht die differentiaspecifica hervorhebt, sondern auf das genus proximum abstellt.

17 Es steht zu vermuten, daß dieser Formwandel der Sozialpolitik die Frage ihrer theoretischen Fundierung nicht unberührt lassen wird. Denn es hat den Anschein, als ginge es neuerdings bei der Sozialpolitik nicht mehr um die "staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter" (Lenhardt, Offe 1977: 101), sondern um die von "verberuflichten Arbeitnehmern in unternehmerische Subjekte bzw. in Arbeitskraftunternehmer" (Brütt 2002: 3).

18 "Erstes" und "Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" ("Hartz I u. II") sind am 1. Januar 2003 in Kraft getreten, "Hartz III" am 1. Januar 2004 und "Hartz IV" in Form des neu geschaffenen SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) am 1. Januar 2005. Zu Inhalt und Umsetzung der Hartz-Gesetze vgl. den immer noch informativen Aufsatz von Brütt (2003); die von den beiden an der Hartz-Kommission beteiligten wissenschaftlichen Mitgliedern gezogene "erste Zwischenbilanz" (Jann, Schmid 2004: 8) der Hartz-Reformen darf hingegen als Paradebeispiel für eine "aktive Komplizenschaft" (Bourdieu 2004: 107) von Intellektuellen mit den Herrschenden gelten. Mit welcher Selbstverständlichkeit der Wechsel zwischen Akteur- und Beobachterrolle hier vollzogen wird, indem man als Beobachter die Umsetzung eines Politikkonzeptes wissenschaftlich bewertet, an dessen Formulierung man als Akteur selbst aktiv mitwirkte, ist zwar aufschlußreich, aber nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches, wie die von infas durchgeführte Evaluation der bundesweiten Modellprojekte zur Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe (MoZArT) zeigt, zeichnet infas doch auch für die Implementation der Mo- ZArT-Projekte verantwortlich (vgl. Scholz 2004: 396). Zur wissenschaftlichen Seriosität der seitens der Hartz-Kommission (vgl. Hartz et al. 2002) unterbreiteten Vorschläge zum Abbau der Arbeitslosigkeit und Umbau der Bundesanstalt für Arbeit vgl. Trube, Wohlfahrt (2002).

19 Die "aktivierende Arbeitsmarktpolitik" folgt damit den Einflüsterungen der von der Bundesregierung handverlesenen Experten aus der dem "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" zur Seite gestellten Benchmarking-Gruppe, Streeck und Heinze, die die Devise vertreten: "(Fast) jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner" (Streeck, Heinze 1999: 159). So heißt es denn auch in dem Vorschlag von Schröder und Blair zur Modernisierung der Sozialdemokratie fast wortgleich: "Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit" (Schröder, Blair 1999: 9), weswegen sie auch "erwarten (...), daß jeder die ihm gebotene Chance annimmt" (ebd.).

20 Zur wissenschaftlichen Fragwürdigkeit der These vom Mismatch als Ursache der Massenarbeitslosigkeit vgl. statt vieler Trube (2004: 64 ff.), zu den ökonomietheoretischen Grundlagen der Vorschläge der Hartz-Kommission allgemein insbesondere die treffliche Kritik von Herr (2002).

21 "So ist Aufklärung und Beratung über zustehende Sozialleistungen für viele Träger nicht Praxis, wird sogar, wenn sie von dritter Seite erbracht wird, als Angriff auf die Gemeindekasse empfunden", wie z. B. Spindler (2003a: 226) mit Bezug auf die Sozialhilfeträger feststellt. § 1 II SGB II sieht denn auch prioritär nicht die Existenzsicherung, sondern qua Herstellung von Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit und Schaffung von Arbeitsgelegenheiten die Eingliederung in Arbeit vor, allerdings nicht in eine existenzsichernde, was eigentlich konsequent wäre. Mit dem SGB II ist nämlich Abstand genommen worden von der Vorstellung, ein Arbeitsplatz müsse ein, um die Formulierung der kollaborierenden Regierungsberater Streeck und Heinze aufzugreifen, "Arbeitsverhältnis de luxe" (Streeck, Heinze 1999: 153) sein, also ein auf eine gewisse Dauer angelegtes, existenzsichernd bezahltes und sozial- und tarifrechtlich abgesichert geregeltes Arbeitsverhältnis. Denn unter Arbeit wird gemäß § 8 SGB II nunmehr jede bezahlte Tätigkeit verstanden wird, die mindestens drei Stunden am Tag anfällt, also jeder Tagelöhnerjob.

22 Der Bericht der Hartz- Kommission (vgl. Hartz et al. 2002: 66ff.) führt drastisch das Ausmaß der organisierten Volksverdummung vor Augen: So betritt heute nicht mehr ein Arbeitsloser das Arbeitsamt, sondern der "Kunde" ein "JobCenter" und meldet sich dort zwecks "Eingangsprofiling" (früher: erstes Informationsgespräch) im "Front-Office" (früher: Empfangsraum) an der "Clearingstelle" (früher: Information), von wo er bei weitergehendem Beratungsoder Betreuungsbedarf je nach Fall als "Beratungskunde " oder "Betreuungskunde" dem im "Back-Office " (früher: Dienstraum) residierenden "Case-Manager " (früher: Sachbearbeiter) zugeführt wird, der ein "Tiefenprofiling" (früher: Eignungsfeststellung) veranlaßt, auf dessen Basis dann eine verbindliche Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen wird, in der festzuhalten ist, mit welchen Maßnahmen das "Matching" (früher: Abstimmung) von Arbeitsangebot und -nachfrage optimiert werden soll. So einen die TV-vermittelten Impressionen von der administrativen Umsetzung der Hartz-Gesetze nicht täuschen, steht zu hoffen, daß die (potentiellen) Hartz-Betroffenen mehr Urteilsfähigkeit aufzubringen vermögen als jene sich kritisch wähnenden intellektuellen Hofschranzen der neoliberalen Modernisierer, die anscheinend nur noch als gedankenlose Repetitoren vorgegebener Worthülsen zu fungieren vermögen.

23 Zu Unrecht deswegen, weil der hilfesuchende Arbeitslose mangels Wahlmöglichkeiten einem sanktionsbewehrten Kontrahierungszwang unterliegt, so daß von einer "›Vereinbarung‹ im Schatten der Macht" (Berlit 2003: 205) gesprochen werden muß, die gegen das Grundgesetz verstößt, da sie "unverhältnismäßig in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Vertragsfreiheit" (ebenda) eingreift.

24 Indem gemäß § 15 II SGB II i. V. m. § 38 SGB II in der Eingliederungsvereinbarung auch festgelegt werden kann, welche Leistungen die mit dem arbeitslosen Hilfesuchenden in einer "Bedarfsgemeinschaft" lebenden Personen erhalten, wird diesen gegenüber eine "Vollmachtsvermutung" (Berlit 2003: 199) unterstellt mit der Folge, selbst in einen entrechteten Zustand geraten zu können. Mit anderen Worten: Das SGB II geht, operationalisiert im Begriff der "Bedarfsgemeinschaft", von Sippenhaft aus, denn es verlangt von der gesamten Bedarfsgemeinschaft nicht nur den Einsatz des Vermögens, sondern auch den der Arbeitskraft, so daß auch im Falle einer eheähnlichen Gemeinschaft seitens des Arbeitsamtes von dem Partner des arbeitslosen Hilfesuchenden verlangt werden kann, seine Arbeitskraft selbst zu untertariflichen Bedingungen einzusetzen, um den anderen mitunterhalten zu können.

25 Mitarbeiter des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen sprechen in diesem Zusammenhang sinnfällig von "Verfolgungsbetreuung". "Konkret bedeutet das, jede mögliche und unmögliche Gelegenheit zur Verhängung einer Sperrzeit wird genutzt. Der Druck auf die Arbeitslosen macht auch vor den Kolleginnen und Kollegen in den Ämtern nicht halt. Es werden Hitlisten eingerichtet, mit dem Ziel, zu schauen, wer in welcher Zeit wie viele Sperrzeiten verhängt hat" (Küster et al. 2003: 2).

26 Bezüglich der Regelleistungen liegt das Niveau des für erwerbsfähige Hilfebedürftige vorgesehenen Arbeitslosengeldes II nach §§ 19ff. SGB II unter dem der früheren BSHG-Sozialhilfe, die selbst bereits als nicht armutsfest im Sinne von bedarfsdeckend kritisiert worden ist, allerdings durch Hilfen für laufende Mehrbedarfe und einmalige Bedarfe aufgestockt werden konnte. Beim Arbeitslosengeld II ist dies nunmehr wegen der Pauschalisierung dieser Hilfen nicht mehr gegeben. (vgl. Berlit 2003: 201 ff.; Brühl 2004: 107 f.)

27 Verfassungsrechtlich ließe sich die Frage stellen, ob der Staat überhaupt ein Mandat zur (Um-)Erziehung seiner Bürger hat, verstoßen doch staatliche Maßnahmen zum Aufbau und Erhalt von Sozial- und Arbeitsmoral zumindest gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, wie es sich durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG entwickelt hat. Zur Problematik, jedoch mit Bezug auf die staatliche Förderung von Abfallmoral, vgl. Lüdemann (2002).

28 Der mit der Umbennung des Arbeitsamtes in "Arbeitsagentur" bzw. "Job- Center" vorgenommene Etikettenschwindel vermag nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der funktionalen Ausdifferenzierung des Arbeitsamtes sich eine gesonderte sozialstaatliche Organisation etabliert hat, die allein für "Arbeitsmarktversager " zuständig ist. In ausgeprägter Weise zeigt sich die darin zum Ausdruck kommende soziale Diskriminierung der arbeitslosen Hilfeempfänger, wenn der Öffentlichkeit deren "Markt- und Leistungsversagen" durch die Gewährung von Sach- statt Geldleistungen (§ 23 II SGB II) zur Kenntnis gebracht wird und damit den Betroffenen selbst ihre "Unwürdigkeit" zur allgemeinen Marktteilnahme attestiert wird.

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in: UTOPIE kreativ, H. 179 (September 2005), S. 796-808

Inhalt des Heftes:

VorSatz; Essay JÖRN SCHÜTRUMPF: Denken "ohne Geländer". Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?; Gesellschaft - Analyse & Alternativen WERNER SEPPMANN: Dynamik der Ausgrenzung. Über die soziostrukturellen Konsequenzen der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse; MICHAELWOLF: "Aktivierende Hilfe". Zu Ideologie und Realität eines sozialpolitischen Stereotyps; RAINER FERCHLAND: Ein regierungsamtliches Paradoxon. Zum Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Standorte ALEXANDER GALKIN: Nach dem Zweiten Weltkrieg: Freigeräumte Wege und nicht beherzigte Lehren; Einstein ALBERT EINSTEIN: Ein Brief wider die Inquisition; SIEGFRIED GRUNDMANN: Albert Einstein - ein Utopist? Anmerkungen zu einem neuen Einstein-Buch von Hubert Goenner; In memoriam FLORIAN DIECKMANN: Zum Tode von Carl Amery; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung; Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1977/78 und 1978/79 (Johannes Scheu); Mario Candeias: Neoliberalismus - Hochtechnologie - Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik (Erwin Riedmann); Günther Moewes: Geld oder Leben. Umdenken und unsere Zukunft nachhaltig sichern (Ulrich Busch); Wolfgang Schwarz: Brüderlich entzweit. Die Beziehungen zwischen der DDR und der CSSR 1961-1968 (Stefan Bollinger); Joschka Fischer: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens (Jochen Weichold); Berichtigung; Summaries