Gaza-Räumung: Trübe Aussichten

Bedeutet die Siedlungsräumung im Gazastreifen das Ende der Besatzung? Oder gar den ersten Schritt zu einer umfassenden Friedenslösung?

In den Medien überwiegen die positiven Urteile, doch die Regierung Sharon unternimmt alles, um Schritte in diese Richtung zu verhindern. Alle Zeichen deuten auf eine militärische Intervention und eine Verschlechterung der Situation in den besetzten Gebieten.

Die israelischen Soldaten und Siedler sind außer Sichtweite. Viele junge Palästinenser im Gazastreifen können damit zum ersten Mal in ihrem Leben am Strand des Mittelmeers entlang spazieren. Viele werden überhaupt zum ersten Mal das Meer sehen, obwohl sie nur wenige Kilometer davon entfernt aufgewachsen sind. 40% dieses kleinen Landstreifens wurden von israelischen Siedlern besetzt, davon die fruchtbarsten und schönsten am Meer entlang.

Während die Siedler über genug Trinkwasser und Strom verfügten, um ihre Swimmingpools zu füllen, ihre grünen Wiesen zu bewässern und die Siedlungen auch nachts hell zu beleuchten, gab es für die auf der restlichen Fläche dicht gedrängt lebenden 1,4 Millionen Palästinenser nur wenig und schlechtes Restwasser und täglich Stromabschaltungen. Der Gazastreifen war durch die Zufahrten zu den Siedlungen in drei Teile geteilt, denn die israelische Armee errichtete an jeder Zufahrt Checkpoints, die je nach Laune der Soldaten zu unüberwindbaren Sperren wurden.

Doch werden sich die prekären Lebensbedingungen der Palästinenser jetzt verbessern? Nach Schätzungen der israelischen Menschenrechtsorganisation B‘Tselem leben 77% der Palästinenser (1.033.500 Menschen) unterhalb der Armutsgrenze von einem Dollar Einkommen pro Tag. Ursache ist die Abriegelung des Gazastreifens. Im letzten Jahr konnten pro Tag im Durchschnitt lediglich 1946 Menschen den Gazastreifen verlassen. Kaum noch können palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter in Israel einer Erwerbsarbeit nachgehen. Verschärfend hat Israel beschlossen, die Industriezone beim Checkpoint Erez zu schließen, wo 4500 Arbeiter Arbeit fanden. Und statt dem Wunsch der Weltbank nachzukommen, die Grenzen für palästinensische Arbeiter wieder zu öffnen, gab das israelische Militär diesen Sommer bekannt, dass es den bestehenden Zaun um den Gazastreifen um eine sieben Meter hohe Mauer ergänzen möchte.

Während der Umzug der 8000 Siedler jeder Familien mit ca. 600.000 Dollar (insgesamt 5 - 6 Milliarden Dollar) vergoldet wird, hat die EU gerade Mal 60 Millionen für die Wiederherstellung der Infrastruktur der Palästinenser zur Verfügung gestellt. Nimmt man die Geldversprechen des Quartetts (USA, EU, UNO, Russland) hinzu, dürften es vielleicht insgesamt 150 - 200 Millionen werden. An den übervölkerten palästinensischen Slums im Gazastreifen dürfte sich damit nicht viel verbessern.

Israel will den Gazastreifen auch nach der Räumung der Siedlungen und dem Grenzkontrollabkommen mit Ägypten militärisch kontrollieren. Anfang August drohte der stellvertretende israelische Verteidigungsminister Seew Boim Abbas, "innerhalb weniger Stunden" stünden Infanterieeinheiten und gepanzerte Verbände bereit, um im Gazastreifen einzumarschieren. Bereits im Frühjahr hatte Verteidigungsminister Mofaz angekündigt, Israel plane nach der Räumung eine größere Militärintervention im Gazastreifen zur Zerschlagung des palästinensischen Widerstands.

Laut Le Monde diplomatique hat der Siedlungsbau in der Westbank in diesem Jahr um 83% zugenommen. Das israelische Innenministerium gab Mitte August bekannt, dass die Zahl der Siedler in der Westbank um 5% gestiegen ist. Das sind 13.000 Siedler - mehr, als im Gazastreifen evakuiert wurden. Sharon betont in allen seinen Stellungnahmen, dass die großen Siedlungsblöcke in der Westbank nicht aufgegeben werden. Insbesondere die im 1967 eroberten Ostjerusalem sollen ausgebaut werden. Die Ankündigung, dass in Ma‘ale Adumin (Ostjerusalem) die zentrale Polizeistation für die Westbank eingerichtet wird, hat internationale Proteste ausgelöst. Der Mauerbau um Ostjerusalem wurde beschleunigt.

Durch die Mauer sollen 55.000 Palästinenser (ein Viertel der arabischen Einwohner der Stadt) von der Stadt abgetrennt werden. Damit wird auch die Nord-Süd-Verbindung in der besetzten Westbank unterbrochen. Sie soll bis Ende des Jahres fertiggestellt sein. Haim Ramon, Minister in der Regierung Sharon, meinte dazu im Juli, der Mauerbau um Jerusalem mache die Stadt "jüdischer". "Es wird ein sichereres und jüdischeres Jerusalem sein, das auf diese Weise zu einer wirklichen Hauptstadt des israelischen Staates wird."

Innerhalb des Likud ist Sharon von seinem Herausforderer Netanyahu, der aus Protest gegen die Siedlungsräumungen als Finanzminister zurückgetreten war, überrundet worden. Wenn die Arbeitspartei wie angekündigt bis November aus der Regierung Sharon austreten wird, werden Neuwahlen Anfang des nächsten Jahres wahrscheinlich. Sharon, der wieder Regierungschef werden will, muss sich dann in den internen Vorwahlen des Likud gegen Netanyahu durchsetzen. Das kann er nur erreichen, wenn er sich durch harte Maßnahmen gegen die Palästinenser wieder als strammer Zionist bei den Rechten in Israel profiliert. In den nächsten Monaten sind von der Regierung Sharon deshalb keine Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten zu erwarten. Im Gegenteil.