Mitbestimmung in einer globalisierten Welt

Oder: Wie man das Rad verliert und wieder neu erfindet

"Wenn ganze Völker gesagt bekommen, entscheidende Aspekte ihres Lebens - Lohn und Arbeit - könnten nicht von ihnen kontrolliert oder gar diskutiert werden, müssen daraus vielfältige Pathologien erwachsen. Neue Formen der sozialen Kontrolle des Kapitals sind für die Einlösung des Versprechens der Demokratie unverzichtbar."
Norman Birnbaum, in: Die Zeit 44/1997

Vorbemerkung
Die Absage an die EU Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, war nicht nur ein deutliches Signal gegen ein allzu schnelles und miserabel kommuniziertes Integrations- und Erweiterungstempo. Das Abstimmungsdebakel zeigt auch, dass die gewohnte, stillschweigende Gefolgschaft und die traditionellen Begründungen (Frieden, Wohlstand, Sicherheit) nicht mehr greifen. Die sog. politische Elite Europas hat das nicht nur zu spät erkannt, ihr fehlt es auch an Argumenten, die über die Wiederholung des Bekannten hinausgingen. Wenn Osterweiterung und Globalisierung zuvorderst Unsicherheit bedeutet, dann gibt die EU und schon gar nicht die Verfassung darauf eine überzeugende Antwort.
Wie oberflächlich den Ängsten und Verunsicherungen begegnet wird, zeigt die gebetsmühlenartrige Beschwörung des europäischen Sozialmodells zum Schutz und Trutz gegen die entfesselten Märkte und als leuchtendes Beispiel gegenüber dem angelsächsischen Kapitalismus. So wenig, wie ein halbwegs geschlossenes angelsächsisches Modell existiert, so schwach ist das kontinentale Sozialmodell ausgebildet. Die rund 70 EU-Richtlinien der letzen 30 Jahre zum Gesundheits- und Arbeitsschutz, Arbeitsbedingungen und zur Nichtdiskriminierung und Geschlechtergleichstellung, machen angesichts der Tatsache, dass die materiellen sozialen Sicherungssysteme national entwickelt und verankert sind, noch keinen sozialpolitischen Sommer. Auch der Verfassungsentwurf wiederholt, in dem Abschnitt "Solidarität", im Kern nichts anderes, also die von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) längst festgeschriebenen universalen Menschenrecht, also die Kernarbeitsnormen.
Im Zuge der Kapitalismuskritik hat in Deutschland die (kostenfreie) Verteidigung der Mitbestimmung als sozialpolitischer Exportschlager in und ausserhalb der EU prominenten Zuspruch erfahren. Leider ein treffliches Beispiel das aufzeigt, wie Unwissenheit, Naivität und rhetorische Kraftmeierei wunderbar in Harmonie leben können, bleiben sie von seriöser Analyse und Kenntnis, die über den nationalen Tellerrand hinausgeht, ungetrübt.
In Tat und Wahrheit operieren Staat und Gewerkschaften mit Instrumenten, die den neuen Realitäten von Informationsrevolution, Entsolidarisierung, Osterweiterung und Globalisierung nicht mehr gerecht werden. Gerade daraus entsteht der Eindruck der Ohnmacht, daher der Eindruck des Getriebenseins, der Verlust an Gestaltungs- und Organisationsmacht.
Im Detail:
1. Die deutsche Diskussion um die Mitbestimmung ventiliert um die Frage Erfolgsmodell oder Standortrisiko, sie arbeitet sich an der Beweisführung ab, dass Mitbestimmung nicht nur keinen Wettbewerbsnachteil darstellt, sondern viel mehr mittels ihres kooperativen Charakters dem Arbeitsfrieden, der Kosteneinsparung und dem Strukturwandel dient. Untermauert wird diese Beweisführung mit Umfrageerhebungen, die eine rekordverdächtige Zustimmung belegen. Damit folgt die Argumentation der Devise: " Die Mitbestimmung hat eine Chance, und sie ist zukunftsfähig, allerdings nur dann, wenn ihr die doppelte Beweisführung gelingt, nicht nur das humanere, sondern auch das wirtschaftlich effizientere Modell zu sein." (K. Blessing, in: Die Mitbestimmung 6/1998) Bescheidene Frage, muss Mitbestimmung aus gewerkschaftlicher Sicht sich nicht durch Effizienz in der Arbeitnehmervertretung auszeichnen?
2. Die breite Zustimmung auch aus Teilen der Politik und Wirtschaft für die Mitbestimmung, die Tatsache ihrer hochgradig verrechtlichten und institutionalisierten Formen und "Agenturen" (Gesetzgebung, Rechtsprechung, Institute, Bildungseinrichtungen, Beratungsfirmen, Zeitschriften etc.) fordert die Frage heraus, warum dann mit soviel Verve an ihrer Legitimation gearbeitet wird muss. Die gesamte Argumentationsführung verweist darauf, dass ein Inselmodell vor feindlichen Angriffen - anglo-amerikanischer Unternehmens(un)Kultur, Europäische Union, Globalisierung, Neoliberalismus - verteidigt werden muss. Hier liegen die tieferen Gründe für einen Abwehrkampf, in dem Gewerkschaften Arbeitgebern erklären, dass es nur zu ihrem Vorteil ist, an der Mitbestimmung festzuhalten und mehr noch: "...dass Mitbestimmung nicht grundsätzlich Aktionärsinteressen an hoher Rendite" (Mitbestimmung für die Zukunft", HBS und Bertelsmann Stiftung, 2004) entgegensteht.
3. Aus historischer Sicht handelt es sich bei der Mitbestimmung um eines der letzten gewerkschaftlichen Gesellschaftskonzepte - der Forderung nach industrieller Demokratie. Dabei hat sich spätestens nach 1945 gezeigt, dass das deutsche Partizipationsmodell eine klare Entscheidung für Beteiligung und Mitgestaltung und gegen die Kontrolle industrieller Herrschaft von Außen getroffen hat.
4. In Europa (und natürlich im nicht unbedeutenden Rest der Welt) haben sich andere, vielfach konfiktorische Kontrollmodelle und Partizipationspolitiken entwickelt. Für das deutsche, korporatistische Modell war der Reformstau und die steigende Repressivität des Staates im 19. und beginnenden 20.Jhdt. dafür ursächlich verantwortlich. Je radikaler und mächtiger die Gewerkschaften wurden, umso deutlicher war der Staat an deren Befriedung interessiert. Dies gilt für die Gesetzgebung (Mitbestimmung und Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen) in Deutschland nach den beiden Weltkriegen in besonderer Weise. Dem steht die monistische Managementstruktur (Vorstand versus Shop Stewards als Gewerkschaftsvertreter im Betrieb/Großbritannien) dem dualistischen Modell (Vorstand und Aufsichtsrat versus Betriebsrat und Gewerkschaften/Deutschland) gegenüber. Wobei letzteres die kompatible strukturelle Grundlage für Betriebsverfassung wie Aufsichtsratsmitbestimmung liefert.
5. Damit lässt sich, als erste Zwischenbilanz, nur schwerlich ausmachen, wie das deutsche Mitbestimmungsmodell exportiert werden könnte. Denn zur historisch gewachsenen Heterogenität der Arbeitsbeziehungen in der EU der 15 kommen zwei Sachverhalte hinzu. Zum einen hat das seit Mitte der 90er Jahre installierte Instrument der Europäischen Betriebsräte zu keiner Harmonisierung der europäischen Vielfalt geführt. Von einer Internationalisierung der Europäischen Betriebsräte in Unternehmen mit globalem Aktionsradius, kann folgerichtig keine Rede sein. Ausnahmen, wie der Weltbetriebsrat bei VW bestätigt nur die Regel.
6. Zum anderen treten mit der Osterweiterung nicht nur völlig marginalisierte Gewerkschaften auf den Plan, sondern nicht existente und/oder rudimentäre Formen bilateraler Arbeitsbeziehungen. Es zeigt sich auch, dass die Gewerkschaften in den MOEL den Aufbau von Betriebsräten vielfach als Konkurrenz und Machtverlust ansehen und an einem Aufbau dualer Arbeitsbeziehungen nicht interessiert und/oder dazu nicht in der Lage sind. Die Erfahrung der Transformationsländer macht zudem deutlich, dass der staatlich dominierte Tripartismus der letzten 15 Jahre für den Aufbau bilateraler Arbeitsbeziehungen nicht förderlich war und die Tendenz des Betriebssyndikalismus eher verstärkt hat. Die simple Kopie der Europäischen Betriebsräte in MOEL würde diesen Trend verstärken und zur weiteren Schwächung der Gewerkschaften beitragen.
7. Aus internationaler Sicht stellt sich eine zusätzliche Frage. Wie soll angesichts der zunehmenden Bedeutung der Finanzmärkte, der globalen Entfaltung transnationaler Konzerne, der sich verengenden Spielräume für nationale Sozialstaaten und deren Entwicklung hin zu nationalen Wettbewerbsstaaten (Löhne, Steuern, Sozialsysteme etc.), der anhaltend steigenden Arbeitslosigkeit - kurz, wie soll angesichts der Dynamik globaler Märkte national oder europäisch effektiv Einfluss auf die demokratische Gestaltung der Arbeitsbeziehungen genommen werden? Die Frage zugespitzt liefert sogleich die Antwort für das zweite Zwischenfazit: Wie könnte das deutsche Modell der Abwesenheit internationaler Arbeitsbeziehungen begegnen bzw. der Erosion regionaler und nationaler Systeme entgegentreten? Doch wohl nur, wenn der Nachweis gelänge, dass dieses Instrument in der Lage ist, den Teufelskreis von explodierenden Gewinnen und implodierender Beschäftigung zu durchbrechen.
8. Vor diesem Hintergrund muss eine realistische Analyse dazu beitragen, die nationale "Attraktivitätsangebote" und den eurotechnokratischen Politikersatz zu hinterfragen. Wenn über Demokratie in der Welt und über die Wiederbelebung der westlichen Demokratien gesprochen werden soll, muss natürlich über die "Verfassung" der Wirtschaft gesprochen werden. Statt einer zaghaften Verteidigung des deutschen Modells, statt einer ins Detail verliebten Expertendebatte zur Revision der "Richtlinie über die Einsetzung oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftlich operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen" bedarf es:
* auf nationaler Ebene einer Wertedebatte um die Frage, wie wir leben wollen und was Bürger, Staat und Wirtschaft zu den gemeinsamen Werten beizutragen haben,
* im europäischen Kontext einer Klärung der Frage, inwieweit die vorhandenen Instrumente zur Stärkung oder Schwächung der Gewerkschaften und der Interessenvertretung der Arbeitnehmer beigetragen haben,
* auf internationaler Ebene der Erkenntnis, dass nach der Welle nationaler Deregulierungen nun die transnationale Regulierung folgen muss, dass die Anerkennung universeller Menschenrechte, also die Kernarbeitsnormen der IAO, von Regierungen und transnationalen Konzernen eingehalten werden müssen - weltweit.
9. Eine solche Strategie hat weit reichende operative, strukturelle,
politische und organisatorische Konsequenzen. Die Tatsache fehlender internationaler Arbeitsbeziehungen und die mehr als mangelhafte Umsetzung sozialer Mindeststandards verursacht in einer globalisierten Welt enormen Druck auf die vorhandenen nationalen Systeme und ebenso auf die EU-Rechtsetzung. Dies wird im europäischen Kontext durch die Osterweiterung verschärft, da Europäischer Betriebsrat wie Europäische Aktiengesellschaft rechtlich und institutionell strukturierter und gefestigter Systeme bedürfen, die in den neuen Ländern faktisch nicht vorhanden sind. Sowohl das deutsche also auch das europäische Partizipationsmodell hat, jeweils in seinen Grenzen, nur dann eine Zukunft, wenn sich die nationalen Gewerkschaften europäisieren und internationalisieren. Es wird für die Zukunft von zentraler Bedeutung sein:
* wie sich europäische Unternehmen im Rest der Welt verhalten, ob also ihre Corporate Social Responsibility mehr ist als Imagepflege,
* ob es gelingt, die strukturelle Schere zwischen den Gewerkschaften in der EU der 25 zu schliessen,
* in wieweit durch gezielte Organisationsoffensiven neue Mitglieder in den strategisch wichtigen Konzernen und Branchen gewonnen werden,
* ob der Europäische Betriebsrat die Instrumente und den politischen Willen entwickelt, dem konzerninteren Lohndumping/Outsourcing/Offshoring zu begegnen und
* wie durch effektive gesellschaftliche Bündnisse eine Kampagnenfähigkeit entwickelt wird, die nicht nur den Gewerkschaften ihre gesellschaftliche Relevanz zurückgibt, sondern auch eine zukunftsorientierte, offensive Wertediskussion in Gang setzt.
10. Angesichts des dramatischen Gestaltungs- und Mitgliederverlusts der meisten europäischen Gewerkschaften handelt es sich hier um keine akademische Übung. Im Zentrum der Bestandsaufnahme muss die Frage stehen, ob und in wie weit die Instrumente der Partizipation, also im europäischen Kontext der soziale Dialog und die Europäischen Betriebsräte(EBR), zu einer Stärkung der Gewerkschaften und der Arbeitnehmervertretung in den Betrieben beigetragen hat. Es führt kein Weg daran vorbei, dass es sich dabei doch um nichts anderes handelt, als um Werkzeuge, welche der Organisationsstärke und Vertretungsmacht zuerst und vor allem zu dienen haben. Der schon erlittene Zeitverlust ist enorm und enorm gefährlich. Nicht so sehr für den Bestand eines eurokratischen Sozialmodells, sondern für die Existenz der europäischen Gewerkschaften als solche. Wege aus der Krise, müssen Wege sein, die relativ schnell umzusetzen sind, die allerdings eine politische Diskussion und einen Richtungswechsel voraussetzen. Wesentliche Elemente eines solchen Strategiewechsels lassen sich inj folgenden Fragestellungen zusammenfassen:
* Ist der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und seine Branchengewerkschaften bereit schonungslos die Ergebnisse des sozialen Dialogs und der Europäischen Betriebsräte zu überprüfen?
* Kann man von einem politischen Willen der europäischen Gewerkschaften sprechen, der zu einer aktiven Integration in die internationale Gewerkschaftsbewegung führt?
* Verstehen die westeuropäischen Gewerkschaften die Gefährlichkeit der gewerkschaftlichen Malaise in den Beitrittsländern und wird man sich auf gemeinsame konzentrierte Organisationskampagnen einigen können?
* Lassen sich daraus im Europäischen Betriebsrat konkrete Massnahmen und Ergebnisse gegen das konzerninterne Lohn- und Sozialdumping ableiten?
* Könnten sich damit folgerichtige Schritte auf dem Weg zu einer europäischen Tarifpolitik entwickeln, die Richtlinien, Rahmenbedingungen und Standards setzt, sowohl auf Konzern- (EBR) als auch auf sektoraler Ebene (sozialer Dialog)?
* Kann dies in ausgewählten Sektoren und/oder Unternehmen zu einer Gleichzeitigkeit und Koordination europaweiter Tarifverhandlungen führen?
* Ist es schliesslich denkbar, dass der Europäische Betriebsrat das jeweilige Unternehmen in der globalen Dimension sieht und behandelt? Will heissen, kommt das internationale Verhalten der Unternehmen ausserhalb der EU auf die Tagesordnung?
Jedes zukunftsfähige Partizipationsmodell muss sich daran messen lassen, ob und wie es zur Entwicklung internationaler Arbeitsbeziehungen beiträgt und den globalen Herausforderungen begegnet. Dies heisst nichts anderes, als dass die europäischen Gewerkschaften zurückkehren müssen zu einer neu zu gewinnenden Konflikt,- Mobilisierungs- und Politikfähigkeit. Anders gesagt, Europa und seine Gewerkschaften müssen raus aus ihrer Sonderrolle, die sie faktisch schon längst verloren haben. Sie sind Teil und nicht mehr Zaungäste der Globalisierung. Wenn die europäischen Instrumente - alt oder modifiziert - dabei behilflich sind, gut. Aber ein europäisches Sozialmodell, das diesen Herausforderungen gerecht wird, muss erst noch entwickelt werden.