Soziale Sicherheit im 21. Jahrhundert

Umrisse eines neuen Sozialstaates

Alle europäischen Gesellschaften sind infolge der beschleunigten Modernisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sozialen Spannungen ausgesetzt.

Der moderne Kapitalismus entwickelt sich in Richtung einer kundenzentrierten, flexiblen Massenproduktion. Eine flexible Produktionsweise erzeugt flexible Arbeitsmärkte und ist mit dem überlieferten System sozialer Sicherheit nicht mehr vereinbar. Die Flexibilität der Arbeitsorganisation zerstört das Normalarbeitsverhältnis, auf dem die Finanzierung der sozialen Sicherheit überwiegend basierte. Die Neuerfindung des Sozialstaats steht auf der Tagesordnung.

Das System der sozialen Sicherung basiert "weitgehend auf Versicherungsleistungen, die an die Erwerbstätigkeit gebunden sind und über Beitragszahlungen aus Erwerbstätigkeit finanziert werden." (Castel 2005: 97) Die Veränderungen der Erwerbsarbeit schlagen sich nicht nur in den Arbeitsbedingungen nieder, sondern zeigen sich auch in den Verteilungsverhältnissen. Die Ausrichtung am Shareholder value und die dahinter steckende Begünstigung der leistungslosen Kapital- und Vermögenseinkommen führen zu einer gesamtgesellschaftlich fallenden Quote des Arbeitseinkommens. Die weitreichendste Folge des Finanzmarktkapitalismus ist die Herausbildung einer gespaltenen Ökonomie - der Sektor von tariflich geregelten Normalarbeitsverhältnissen wird mehr und mehr unter Druck gesetzt durch den Bereich der ungeschützten, marginalisierten Arbeit, letztlich durch Erwerbsverhältnisse in dem anwachsenden Sektor der informellen Ökonomie (Schwarzarbeit).

Der harte Streitpunkt der Auseinandersetzung ist damit markiert: Während die neoliberale Gesellschaftspolitik auf Lohnzurückhaltung, sozialen Druck durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse und einen Rückbau sozialer Transfers und Dienstleistungen zielt, wird im Gesellschaftsprojekt der politischen Linken eine solche Konzeption als letztlich undemokratisch, uneffektiv und neue Anpassungszwänge der Wirtschaft produzierend abgelehnt.

Der neoliberale Politikansatz zur Dynamisierung der Kapitalakkumulation ist gescheitert - dies ist die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Diese praktisch wie theoretisch belegte Erfolglosigkeit hat die politischen Kräfte nicht gehindert, eine beständige Radikalisierung dieser Therapie zu verfolgen. Als Akkumulationsbremse werden nicht die chronische Überakkumulation von Kapital und eine massive Verzerrung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen ausgemacht, sondern die vermeintlich überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen und der subalternen sozialen Schichten. Angesichts des globalisierten Wettbewerbs könne die sozialstaatliche Verteilung nicht mehr aufrecht erhalten werden. Im Prinzip - so die neoliberale Argumentation - war schon die Expansion der sozialen Transfers Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre überzogen: "Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates wurde in einer Zeit vorgenommen, als die Politiker noch an die hohen realen Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität von über fünf Prozent aus den 1960er Jahren gewohnt waren. Aber diese Zuwächse ließen sich nicht mehr fortsetzen... Kurz, die wirtschaftliche Basis des Wohlfahrtsstaates wandelte sich genau zu jenem Zeitpunkt, als seine Expansion stattfand." (Siebert 2005: 185ff.)

Richtig ist die Beobachtung, dass im Laufe der 1970er Jahre die Erosion des "Rheinischen Kapitalismus" einsetzte. Schrittweise eskalierten die Verteilungskonflikte. Es ist nicht zutreffend, dass die Sozialleistungen die produktive Basis überforderten, sondern die Veränderungen in den Verteilungsverhältnissen zerstören die finanziellen Fundamente des Sozialstaates. Diese Entwicklung wird von heftigen ideologisch-politischen Angriffen auf den Sozialstaat begleitet (vgl. dazu Andreas Bachmann 2005 und den Beitrag von Christoph Butterwegge in diesem Heft). Ziel der neoliberalen Sanierungsmaßnahmen ist eine Privatisierung der sozialen Sicherheit, d.h. angestrebt wird eine Gesellschaft der Vermögensbesitzer, in der alle BürgerInnen möglichst ihre Absicherung durch ersparte Eigentumstitel auf den Finanzmärkten organisieren.

Die politische Linke beharrt dagegen auf der Notwendigkeit einer sozialen Regulierung des Kapitalismus: Das Ziel ist eine Reform im Sinne sozialstaatlicher Regulierungen, aber keine Zerstörung des Prinzips der Verwirklichung einer demokratisch und sozial strukturierten Wirtschafts- und Rechtsordnung.

1. Der Sozialstaat als zivilisatorische Errungenschaft

Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat basierte keineswegs auf einer Gesellschaft der Gleichheit. Es hat bis Mitte der 1970er Jahre keine substanzielle Verringerung der Ungleichheiten zwischen den verschiedenen sozialen Kategorien gegeben. Der Umverteilungseffekt war begrenzt. Entscheidend war vielmehr die Verbindung von beschleunigter Kapitalakkumulation und sozialer Sicherheit.

Der Sozialstaat war der Höhepunkt eines langen Prozesses, in dessen Verlauf der Kapitalismus zivilisiert und zu einem gewissen Maß mit der Demokratie versöhnt wurde. "Marxistisch gesprochen handelt es sich beim 'Wohlfahrtsstaat' um einen asymmetrischen Klassenkompromiss und eine Teilintegration der Arbeiterbewegung in die kapitalistische Gesellschaft. 'Asymmetrisch', weil die gesellschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterklasse strukturell überlegen ist; 'Teilintegration', weil die Arbeiterbewegung selbst unter einer betont nicht 'revolutionären' ideellen Führung dennoch immer auch über die kapitalistische Gesellschaft hinausstrebt." (Oertzen 1984: 20f.) Der institutionalisierte Klassenkompromiss stützte sich auf eine "mixed economy", eine mehr oder minder bewusst praktizierte Globalsteuerung (Fiskal- und Geldpolitik) und kollektive Sicherungssysteme mit begrenzten Umverteilungseffekten. Er brachte eine asymmetrische Machtverteilung zwischen Lohnarbeit und Kapital in den Unternehmen und in gesamtgesellschaftlichen Steuerungsinstitutionen. Dieses je nach national-historischen Besonderheiten moderierte "System des regulierten Kapitalismus" schlug sich in einer Erweiterung von sozialen Rechten und der Einrichtung eines sozialen Eigentums (Sicherungssysteme mit Ansprüchen) nieder. Eine Außerkraftsetzung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik und der Verteilungsmechanismen war damit nicht verbunden. Mit wachsendem Wohlstand gingen auch Lohnabhängige dazu über, sich durch Lebensversicherungen, Zusatzkrankenversicherung oder Anlagen in Fonds ergänzende Formen der Absicherung zu verschaffen.

In der Sozialwissenschaft ist dieser Zusammenhang zwischen dem Ausbau sozialer Sicherheit, beschleunigter Kapitalakkumulation und einer geringfügigen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums mit dem Bild der Rolltreppe veranschaulicht worden: Mit dem Wachstum steigt jeder auf, aber der Abstand zwischen den Individuen und sozialen Gruppierungen, die auf den verschiedenen Stufen platziert sind, bleibt annähernd derselbe. Die These, die Politiker seien mit Blick auf ihre Wiederwahl für eine Expansion des Wohlfahrtsstaates verantwortlich, greift erheblich zu kurz. Die Politik setzt zwar diese Reformen um, erkämpft werden sie durch eine Veränderung der sozialen Kräfteverhältnisse zugunsten der Lohnabhängigen und subalternen Schichten.

T.H. Marshall fasste die mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Periode folgendermaßen zusammen: "Sie sah die ersten großen Fortschritte sozialer Rechte, die deutliche Veränderungen der egalitären Prinzipien, wie sie im Staatsbürgerstatus zum Ausdruck kamen, beinhalteten. Das Ansteigen der ungleich über die sozialen Klassen verteilten Geldeinkommen veränderte die wirtschaftliche Distanz, die diese Klassen von einander trennte... Zweitens stauchte ein immer stärker gestaffeltes System direkter Besteuerung die gesamte Skala verfügbarer Einkommen zusammen. Drittens ermöglichte die Massenfertigung für den Binnenmarkt ... den weniger Wohlhabenden die Teilhabe an einer materiellen Kultur, deren Qualität sich im Unterschied zu früher weniger deutlich von der der Reichen absetzte. Das alles veränderte auf grundlegende Weise den Rahmen, in dem sich der Fortschritt der Staatsbürgerrechte abspielte." (Marshall 1992: 66)

Letztlich bewirkte dieses System sozialstaatlicher Regulierungen einen redistributiven Effekt in den Verteilungsverhältnissen. Gleichwohl trifft die These von einer egalitären Sozialstaatspolitik nicht zu. Die zentrale Leistung dieses Regulationssystems war eine weitgehende Zurückdrängung der sozialen Unsicherheit. Die Stabilisierung der Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen basierte weder auf einer Aufhebung des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital noch auf einer egalitären Distribution. "Das Gesellschaftsmodell, das hier entsteht, ist nicht das einer Gesellschaft der Gleichen (im Sinne einer faktischen Gleichheit der sozialen Lebensbedingungen), sondern das einer 'Gesellschaft der Ähnlichen'... Die Sozialleistungen stellen einen Rechtsanspruch dar, sie sind ein sich erweiterndes Modell sozialer Rechte, die das konkrete und im Kern universelle Gegenstück zu den bürgerlichen und politischen Rechten bilden." (Castel 2005: 46f.)

Im 20. Jahrhundert hat sich das Lohnarbeitsverhältnis nach und nach "zu einer stabilen gesellschaftlichen Position entwickelt, mit der Sicherheitsgarantien und Rechtansprüche verbunden wurden, die geeignet waren, einen gesellschaftlichen Bürgerstatus zu begründen. Diese Verknüpfung von Arbeit und sozialer Sicherung kann als die große Innovation der Erwerbsgesellschaft gesehen werden." (Castel 2001) Das Arbeitseinkommen entspricht nicht mehr nur einem Entgelt für die unter der Regie des Kapitals verrichtete Arbeitszeit, sondern eröffnet den Zugang zu einer neuen Form von gesellschaftlichem Eigentum: der sozialen Absicherung von existenziellen Risiken wie Krankheit, Arbeitsunfälle, Arbeitslosigkeit und Altersversorgung. Es handelt sich um einen sozialen Status für Lohnabhängige, der einen Mindestlohn oder eine soziale Mindestsicherung im Fall von Nicht-Arbeit einschließt. "Bis annähernd zum Beginn der 70er Jahre konnte man ... beobachten, wie das Lohnarbeitsverhältnis durch Ausweitung kollektiver Regelungen konsolidiert wurde, durch kollektive Vereinbarungen, kollektive Rechte in Bezug auf Arbeit und soziale Sicherheit, starke Präsenz der Gewerkschaften, starke Präsenz des Staates, Kompromisse zwischen mächtigen kollektiven Akteuren und dergleichen. Man konnte damals insoweit von einem Kompromiss sprechen, als mächtige kollektive Akteure in der Lage waren, den Marktmechanismen die Stirn zu bieten." (Castel 2001) Dieser Klassenkompromiss basiert auf der fordistisch-tayloristischen Betriebsweise, einem Modus der sozialen Regulierung von Kapital- und Arbeitsmärkten und redistributiven Sozialtransfers.

Der Ausbau des Sozialstaates folgte keiner durchdachten oder gesellschaftlich abgestimmten Konzeption; faktisch entwickelte sich - vorangetrieben durch die sozialen Konflikte - ein System der sozialen Absicherung, das lange Zeit auf das System der Lohnarbeit ausgerichtet war. Neben steuerfinanzierten Systemen, die z.T. strikt an Bedürftigkeitsprüfungen geknüpft sind, existieren vor allem in den kontinentaleuropäischen Ländern beitragsbezogene Systeme, die im Grundsatz von dem korporatistisch, d.h. paritätischen Gesellschaftskompromiss geprägt sind. Aus beiden haben sich im historischen Prozess unterschiedliche Mischformen herausgebildet. "Typisch für das bestehende Sozialversicherungssystem ist, dass es lediglich sehr rudimentär auf dem Äquivalenzprinzip basiert." (Siebert 2005: 196). Die Hauptfinanzierungsquelle im Beitragssystem bleibt zwar das Arbeitsentgelt, aber die strikte Zuordnung der Leistungen an die entrichteten Beiträge wird gelockert.

Mit der Krise der fordistischen Entwicklungsphase des Kapitalismus entwickelt und verstärkt sich ein System von vier Säulen in der Konstruktion des Systems sozialer Sicherheit: Basis ist die gesetzliche Krankenversicherung und eine beitragsbezogene Altersrente; für die Lohnabhängigen wird vielfach eine betriebliche Altersrente möglich; ergänzend entwickelten sich Zusatzabsicherungen über Kapitalanlagen; schließlich erhalten sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen staatliche Unterstützungszahlungen, bei der die Prüfung der Bedürftigkeit in den letzten Jahrzehnten liberalisiert wird. "Heute sind 89% der männlichen und 70% der weiblichen Arbeitnehmer innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung anspruchberechtigt... Jedoch nur 36% der männlichen Arbeitnehmer und 9% Prozent der weiblichen Arbeitnehmer in Westdeutschland beziehen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eine Betriebsrente... Auch die Höhe der Ansprüche variiert stark. Die durchschnittliche Betriebsrente lag 1996 für Männer bei etwa 632 DM pro Monat und damit doppelt so hoch wie für Frauen." (Manow 2005: 255) Dieses System von gesetzlicher Altersrente, Betriebsrente, kapitalgedeckter Zusatzversicherung und Sozialunterstützung aufgrund von Bedürftigkeit ist massiv in die Krise geraten.

"Während die Leistungen zur Absicherung gegen die sozialen Risiken insofern ihre Wirksamkeit bewahren, als sie an stabile Beschäftigungsverhältnisse gebunden sind, besteht daneben eine Vielzahl mehr oder weniger improvisierter Hilfsleistungen, die der Vielfalt der Situationen sozialer Deprivation entsprechen." (Castel 2005: 104) In Deutschland sind die improvisierten Hilfsleistungen zunächst in der "Sozialhilfe" zusammengefasst. Mit der fortschreitenden Krise des Fordismus entwickelt sich auch der Widerspruch zwischen lohnbezogener sozialer Sicherung und allgemeiner Zuteilung eines Mindestmaßes an existenziellen Ressourcen, die angesichts wachsender Immigration auch nicht mehr an den Staatsbürgerstatus geknüpft sind. Was zunächst als unteres soziales Netz für wenige Notfälle in besonderen Lebenslagen gedacht war, entwickelt sich durch immer mehr fehlende Lohnarbeitsgelegenheiten zu einem eigenständigen Sicherungssystem.

2. Der entfesselte Kapitalismus

Während bis Anfang der 1970er Jahre in wechselnden gesellschaftlichen Konstellationen Versuche unternommen wurden, die bis dahin fixierte Machtverteilung zwischen Lohnarbeit und Kapital zugunsten der subalternen Schichten zu verändern, setzte sich Mitte der 1970er Jahre international wie in den Hauptländern des Kapitals ein neoliberales Rollback durch.

Seit Ende der 1970er Jahre erleben wir eine beständig radikalisierte Politik der "Zumutungen" im Kampf gegen ein unzureichendes Wirtschaftswachstum. Der Umfang von prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen wächst beschleunigt an. Konjunktursteuerung durch Stimulierung der Massenkaufkraft und öffentliche Investitionen wird stigmatisiert, stattdessen herrscht das neoliberale Paradigma von Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenhanges. Eine Politik der "Verbesserung der Angebotsseite" wird dominierend: Unternehmenssteuern werden mehrfach abgesenkt und Spitzensteuersätze drastisch reduziert. Vom Ladenschluss über die Arbeitszeiten bis zum Kündigungsschutz blieb kaum eine gesellschaftliche Regulierung unverändert. Die Reallöhne und damit die Masseneinkommen hinken - wie von den neoliberalen Vordenkern und Politikstrategen gefordert - deutlich hinter der Entwicklung der Produktivität zurück. Vor allem der öffentliche Sektor und der Sozialstaat wurden dereguliert und privatisiert.

Eine Trendwende im Wirtschaftswachstum und der Arbeitslosigkeit hat sich gleichwohl nicht eingestellt. Das allerdings irritiert die Repräsentanten dieses Kurses nicht. "Es sei noch nicht genug reformiert worden, sagen die Verfechter der seit 20 Jahren tonangebenden Richtung. Deutschland sei erstarrt und verkrustet, es gäbe ein hartnäckiges Strukturproblem, kein Konjunkturproblem. Weiter reformieren und entstaatlichen, den Arbeitsmarkt flexibler machen, die sozialen Sicherungssysteme weiter privatisieren, die gesamte Reformagenda konsequent abarbeiten." (Flassbeck/Müller 2002). Ein Ende dieses kollektiven Marsches in die gesellschaftspolitische Sackgasse ist nicht absehbar.

Auch wenn Erfolge nicht vorgewiesen werden können, so hat diese Politik ohne Zweifel Effekte hervorgebracht. Die soziale Sicherung ist in vielfacher Weise durchlöchert worden. Zwar überwiegt immer noch das auf geringerem Niveau geschützte Lohnarbeitsverhältnis, doch unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit und der politisch gewollten Deregulierung nehmen die ungeregelten, atypischen und prekären Arbeitsverhältnisse massiv zu. Diese Entwicklung markiert zusammen mit den vielfältigen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung und einer enormen Verunsicherung und Verängstigung eines Großteils der Bevölkerung die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. "Wir haben es mit einer Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft zu tun, die wie eine Druckwelle vom Zentrum ausgehend die ganze Gesellschaft erfasst, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen." (Castel 2001: 17)

Anfänglich haben wir von einer Aushöhlung der Erwerbsgesellschaft, von einem Abbau sozialer Sicherheit und einer Unterminierung des Sozialstaates gesprochen. Mittlerweile sollten wir eher von einer Zerstörung der gesamten Struktur sprechen, von einem Übergang zu einem entfesselten Kapitalismus und damit einer Arbeitsorganisation, die weitgehend vom Markt beherrscht wird (vgl. Sauer 2005). Mit der Auflösung des "Normalarbeitsverhältnisses", der Ausbreitung von prekären Beschäftigungsformen, der Verfestigung von Massenarbeitslosigkeit und vielfältigen Formen der Ausgrenzung entwickelt sich zunächst eine Zweiteilung im System sozialer Sicherung: einerseits mehr oder minder umfangreiche Sicherungsleistungen, die im Zusammenhang mit der Lohnarbeit und dem Arbeitsentgelt stehen, andererseits Hilfeleistungen für Bevölkerungsgruppen, die keinen Anschluss an den Arbeitsmarkt mehr haben. Hinzu kommt ein drittes Element: Teile der Lohnabhängigen kompensieren die Absenkung der sozialen Sicherheit im kollektiven Umverteilungssystem durch Beteiligung an privatkapitalistischen Anlagefonds oder sonstigen Kapitalbeteiligungen.

3. Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert

Nach fast drei Jahrzehnten Veränderung des die kapitalistischen Gesellschaften im Kern bestimmenden Produktionstypus und Regimes der Lohnarbeit sowie eines Umbaus der national geprägten Systeme sozialstaatlicher Regulierungen muss sich jede reformpolitische Konzeption der Herausforderung einer Auffächerung des Systems sozialer Sicherheit stellen. Eine Rückkehr zur strikten Koppelung von Lohnarbeitsentgelt und sozialer Sicherung ist wegen der Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse irreal. Zugleich kann damit die Kritik an der Fixierung der sozialen Sicherheit auf das männliche Arbeitsverhältnis aufgegriffen werden. "Die immer noch richtige Kritik der Frauenbewegung und der undogmatischen Linken an den Sozialversicherungen, dass sich ihre innere Ausgestaltung und weite Teile des Sozialrechts am männlichen Normalarbeits- und Vollzeitverhältnis orientiert, kann heute auch als Anhaltspunkt zur Problematisierung prekärer Arbeitsverhältnisse und unsteter Erwerbsverläufe auch von Männern herangezogen werden." (Bachmann 2005: 12) Weil die Lohnarbeit immer noch für die große Mehrheit der Bevölkerung für die soziale Sicherheit zentral ist, muss unter den Bedingungen eines flexiblen Finanzmarktkapitalismus eine Rekonstruktion der Umlageversicherung auf Basis der Beitragsbezogenheit erfolgen. Dies schließt ein:
- Stabilisierung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse;
- Zugang der atypischen Beschäftigungsformen zum lohnbasierten Sicherungssystem;
- Übertragung der Rechte auf die Lohnabhängigen, sodass bei Wechsel des Unternehmens, Fortbildung oder beruflichen Umorientierungen die Sicherheit gewährleistet bleibt; eine Verallgemeinerung der Betriebsrenten wird kaum durchsetzbar sein.
- der Übergang zu personenbezogenen Rechten in der Sozialversicherung könnte mit Mindeststandards (Grundsicherung, Existenzsicherung) gekoppelt werden, was zur Finanzierung einen Rückgriff auf Steuerressourcen erfordert;
- für die bestehenden Kapitalmarktanlagen ist der Verbraucherschutz auszubauen;
- die Finanzierung ist ergänzend zum Arbeitsentgelt auf andere Einkommensarten (Zinsen, Mieten) auszuweiten.

Der Ausbau sozialer Grundrechte in der Sozialversicherung ermöglicht die Integration einer bedarfsorientierten Mindestsicherung für die sozialen Gruppierungen, die wegen der Ausgrenzung aus dem System gesellschaftlicher Arbeit keine eigenen Ansprüche aufbauen können. Im Finanzmarktkapitalismus können immer häufiger auftretende und immer gewichtiger werdende "Randgruppen" nur durch den BürgerInnenstatus ein Recht auf soziale Sicherheit geltend machen. Auf der anderen Seite gibt es eine massive Ausweitung von Eigentumstiteln, mit denen Ansprüche auf das Surplus der gesellschaftlichen Arbeit durchgesetzt werden - ohne Zurückdrängung dieser leistungslosen Einkommen und des damit verbunden Müßigganges kann es ebenfalls keine sozial gerechte Verteilung von Arbeit und sozialer Sicherheit geben. Kapital- und Vermögensansprüche können vermindert, die Arbeit verallgemeinert, die Lohnarbeit radikal verändert und auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt werden. Verallgemeinerung der Lohnarbeit bei gleichzeitiger Aufwertung der Arbeit, Ausbau demokratischer Rechte auch im Betrieb und Beschränkung der Arbeitszeit - das ist die Richtschnur für eine "Agenda sozialer Emanzipation". Die Forderung nach umfassender Arbeitszeitverkürzung ist für den Prozess der Demokratisierung und die Überwindung der politischen Ökonomie der Unsicherheit unverzichtbar. Nur wenn die BürgerInnen nicht mehr weitgehend von den Belastungen der "Lohnarbeit" absorbiert werden, sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine neue Qualität der Erwerbsarbeit gegeben. Reduktion, Verallgemeinerung, Verwissenschaftlichung und bewusste Vergesellschaftung der Arbeit gehören zusammen - dies eröffnet eine völlig neue Dimension der "frei verfügbaren Lebenszeit" für alle.

Die Herausforderung besteht darin, in Absetzung zu der in den letzten Jahrzehnten durchgesetzten Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse zunächst eine umfassende Erneuerung von flexibler Arbeitsorganisation und sozialer Sicherheit mehrheitsfähig zu machen und dies als Einstieg in eine weitergehende Gesellschaftsreform vorzustellen. Allerdings wächst angesichts des beträchtlichen Umfanges von Sozialleistungen, die nicht oder nur unzureichend durch Abgaben auf Arbeitsentgelt entwickelt worden sind, das hartnäckige Andauern der chronischen Massenarbeitslosigkeit und angesichts der bürokratisch-repressiven Handhabung des Bedürftigkeitsprinzips die Zustimmung zur Forderung nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (ausführlicher dazu: Bischoff/Müller 2005). Die Anhänger einer Verallgemeinerung eines Sozialeinkommens betonen den systemsprengenden Charakter dieser Form sozialer Sicherheit; sie lassen freilich die Frage der Reorganisation gesellschaftlicher Arbeit oder Wertschöpfung völlig unbeantwortet. Zu Recht betont Castel: "Selbst wenn man den Umstand berücksichtigt, dass durch eine solche Zahlung andere Sozialleistungen überflüssig würden, ... erscheint eine solche Maßnahme im gegenwärtigen Kontext politisch völlig aussichtslos. Es mag sich dabei um eine Utopie handeln. Aber manche Utopien sind gefährlich, weil sie von der Suche nach realistischeren Alternativen ablenken." (Castel 2005: 112)

Die verschiedenen Formen des Protestes und Widerstands gegen die neoliberale Deformation des regulierten Kapitalismus können in einem umfassenden Projekt der Demokratisierung der Wirtschaft und Rekonstruktion sozialer Sicherheit gebündelt werden. Es gilt die Demokratisierung ausgehend vom Unternehmen auch auf die Verteilung und die Kontrolle der Finanzmärkte zu erstrecken. Die kapitalistische Gesellschaft muss einer umfassenden demokratischen Kontrolle und sozialen Steuerung unterworfen werden. Es geht um ein komplexes Reformprogramm - in kritischer Anknüpfung an die Vorzüge und Schwächen der untergehenden Lohnarbeitsgesellschaft.

Mit einer Ausweitung der Staatsausgaben für öffentliche Investitionen oder zur qualitativen Veränderung des Massenkonsums sowie Arbeitszeitverkürzungen kann Vollbeschäftigung erreicht werden. Anders als bei früher praktizierten Ansätzen gesamtwirtschaftlicher Steuerung müssen diese Maßnahmen mit einer langfristig angelegten Strukturpolitik verknüpft sein. Es geht nicht um mehr Wirtschaftswachstum innerhalb der überlieferten Einkommens- und Konsumstrukturen, sondern um die Herausbildung einer in sozialer, ökologischer und geschlechtergerechter Hinsicht verträglicheren Lebensweise. Das komplexe Programm der Demokratisierung erstreckt sich über alle Bereiche: Rückkehr zur solidarischen Lohnpolitik, Besteuerung von Kapital- und Vermögenseinkommen, Demokratisierung der Unternehmensverfassung, Entwicklung eines neuen Typus von umfassender sozialer Sicherung, Wiederherstellung einer gemischten Ökonomie, umfassende Kontrolle und Steuerung der Finanzmärkte und der internationalen Finanzinstitutionen.

Die seit den 1970er Jahren in den kapitalistischen Hauptländern verfolgte Entkoppelung von Lohnarbeit und sozialer Sicherheit bringt weder die behauptete Konstellation ökonomischer Prosperität zurück, noch kann sie die wachsende soziale Zersplitterung und Zerklüftung der politischen Willensverhältnisse überbrücken. "Wenn man realistisch ist, kann man die starke und ökonomische Dynamik nicht ignorieren, die zweifellos irreversibel ist und mit der man rechnen muss, denn in ihrem Gefolge wird der Arbeitnehmerstatus umgestaltet im Sinne einer Anpassung an neue Erfordernisse der Produktion, also der Flexibilität... Die Herausforderung liegt darin, die Koppelung von Arbeit und Absicherung - die große historische Innovation der Lohnarbeitsgesellschaft - auf einer neuen Basis umzugestalten." (Castel 2001b: 19)

Eine solche Umgestaltung muss sich zentral auf zwei Aspekte konzentrieren: Zum einen müssen die Dimensionen der Flexibilisierung - betrieblich wie gesamtgesellschaftlich - reguliert, d.h. sozial gestaltet werden; zum anderen muss die faktische Prekarisierung von Teilen der Lohnarbeit und der Bedeutungszuwachs von Zins- und Vermögenseinkommen bei jedweder Reform der sozialen Sicherungssysteme berücksichtigt werden. Wir müssen die Finanzbasis der sozialen Sicherheit vom Arbeitseinkommen auf andere Einkommens- oder Revenueformen erweitern, wenn wir ein universelles Sicherungssystem für alle Gesellschaftsmitglieder verwirklichen wollen.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen verweisen auf ein neues Zeitalter der Lohnarbeit, falls ein neues Regulationsmodell als hegemonial durchgesetzt werden kann. "In diesem Zeitalter werden Gesellschaft, Wirtschaft und Politik grundsätzlich von dem Zentralproblem her bestimmt, die Arbeitsvermögen der Einzelnen auszubilden, zu pflegen und zu nutzen sowie die mit diesem Arbeitsvermögen verbundenen Rechte anzuerkennen. Dieses Zeitalter wird gleichzeitig ein Zeitalter der öffentlichen Güter und maßgeblich durch die Arbeit der Menschen an Menschen, an ihrer Gesundheit, Bildung und kulturellen Entfaltung geprägt sein." (Hengsbach/Möhring-Hesse 2002: 233) Bedingung für dieses Zeitalter des Arbeitsvermögens ist also: Überschreitung des Horizontes der Lohnarbeit, radikale Veränderung der Verteilungsverhältnisse, gesellschaftliche Steuerung der Produktion und eine grundlegende Reform von Politik und öffentlichem Sektor.

Literatur
Bachmann, A. (2005): Systemwechsel in der sozialen Sicherung, in: express Nr. 9, 2005.
Bischoff, J. (2003): Entfesselter Kapitalismus. Transformation des europäischen Sozialmodells, Hamburg.
Bischoff, J. (2005): Die SPD und die Zerstörung des Rheinischen Kapitalismus, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7.
Bischoff, J./Müller, J. (2005): Nische Grundeinkommen oder Aufhebung der Entfremdung?, in: Sozialismus 10.
Butterwegge, C. (2005a): Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden.
Butterwegge, C. (2005b): Stimmungsmache gegen den Sozialstaat, in: Sozialismus 11.
Castel, R. (2001): Der Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft, in: Bourdieu, P. (Hrsg.) Liber, Jahrbuch 3, Konstanz.
Castel, R. (2001b): Die neue soziale Frage, in: Frankfurter Rundschau vom 30.1.2001
Castel, R. (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im Wohlfahrtsstaat, Hamburg.
Flassbeck, H./Müller, A. (2002): Ein babylonisches Mißverständnis, in: FAZ vom 23.2.2002.
Hengsbach, F./Möhring-Hesse, M. (2002): Verteilungspolitik im "Zeitalter des Arbeitsvermögens", in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4-5.
Manow, Ph. 2005, Globalisierung, Corporate Finance und koordinierter Kapitalismus, in: Windolf, P. (2005)
Marshall, T.H. (1992): Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt
Oertzen, P.v. (1984): Für einen neuen Reformismus, Hamburg
Robinson, J. (1966): Die fatale politische Ökonomie, Frankfurt.
Sauer, D. (2005): Arbeit im Übergang, Hamburg.
Sennett, R. (2005): Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.
Siebert, H. (2005): Jenseits des sozialen Marktes, Stuttgart.
Windolf, P. (Hrsg.) (2005): Finanzmarktkapitalismus, Wiesbaden.
Zinn, K.G. (1999): Sozialstaat in der Krise, Berlin.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus. Letzte Veröffentlichung: Die SPD und die Zerstörung des "Rheinischen Kapitalismus", in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7/2005.

in: Sozialismus Heft Nr. 11 (November 2005), 32. Jahrgang, Heft Nr. 293

Weitere Beiträge im Heft:

Redaktion Sozialismus: Große Koalition - ungeahnte Möglichkeiten? | Joachim Rock: Eine Kampagene als Kreuzzug. Wie das Märchen vom Missbrauch neu aufgelegt wird | Christoph Butterwegge: Stimmungsmache gegen den Sozialstaat. Massenmedien als Motor der "Reformen" | Karl Georg Zinn: Wie Reichtum Armut schafft. Weshalb die neoliberalen Versprechungen nicht aufgehen | Sybille Stamm / Günter Busch: "Wer kämpft, kann gewinnen..." Oder: Erfolg einer "offensiven Defensive" | Björn-Gerhard Harmening: Was sind unsere Tarifverträge noch wert? | Kirsten Rölke / Hermann Oberhofer: DGB-Rechtsschutz - GmbH rettet GmbH | Martin Dieckmann: Markt Macht Meinung. Entsteht ein Medien-"Duopol" Axel Springer-Bertelsmann? | Horst Mathes: Gewerkschaftliche Mobilisierung für eine andere Politik. Herausforderungen (nicht nur) für die Bildungsarbeit | Robert Hinke: "Wann, wenn nicht jetzt...?" Bildung als Lebenselixier regionaler Gewerkschaftsarbeit | Bernhard Sander: Bürgerliches Ausscheidungsrennen und linke Opposition in Frankreich | Holger Politt: Entscheidung unter Vorbehalt? Nach den Wahlen in Polen | Uli Cremer: Friedensnobelpreis für die Weiterverbreitung der Atomenergie? | Werner Thönnessen: Erinnerungen an Erich Kuby | Irene Gallinge: Argumente und konkrete Vorschläge (zu H.-J. Bontrup: Arbeit, Kapital und Staat) | Peter Balluff: Spannende Informationen für GewerkschafterInnen (zu Peter Renneberg: Die Arbeitskämpfe von morgen?) | Marion Fisch: "Unkenrufe" (Filmkritik)